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Sascha Lobo

Die G20-Randale und das Netz World Wide Wut

Die deutsche Öffentlichkeit ist nicht manipulierbar? Von wegen. Ein paar Videos schwarz gekleideter, Autos anzündender Männer reichen für drei Tage Dauerrage, ohne Rücksicht auf Verluste.
Feuer im Schanzenviertel in Hamburg

Feuer im Schanzenviertel in Hamburg

Foto: Markus Scholz/ dpa

Was Gewalt gegen Schwächere angeht, habe ich eine emotionale Schwachstelle. Lasst mich beobachten, wie ein Mann ein Kind totschlägt, und mein Widerstand gegen die Todesstrafe fällt temporär auf null. Mühsam müsste ich danach meine Wut durch Einsicht in demokratische Grundsätzlichkeiten zurückdrängen. Ich weiß also um die Macht des emotionalen Moments. Und trotzdem war ich schockiert von den Schockwellen des G20-Gipfels in der digitalen Sphäre.

Nämlich davon, wie "wenig" es letztlich braucht, damit normale Bürger Rechtsstaatlichkeit auch über den Moment der Hitze hinaus als entbehrlich betrachten. "Wenig" muss erklärt werden, damit es nicht als Verharmlosung missverstanden wird. Der Verfassungsschutz sagte im Juni, es kämen 10.000 Gewaltbereite zum G20-Gipfel  (ohne türkische Leibwächter).

Aus dieser Perspektive, angesichts von Trump, Putin, Erdogan hätte man deutlich Katastrophaleres befürchten können. Und die Behauptung, Randale wie in Hamburg sei noch nie vorgekommen, kann man so nur sagen, wenn anstelle des Gedächtnisses ein Verklärwerk sitzt. 2009 wurden in Berlin am 1. Mai rund 500 Polizisten verletzt. 2015 wurden zur Eröffnung der EZB in Frankfurt Polizeiwagen und Privatautos angezündet und eine Menge Schaufenster zerstört.

Aber für Privatleute gibt es natürlich keine Erinnerungspflicht. Der wesentliche Unterschied zu früheren Eskalationen ist die unmittelbare Verbreitung der Videos von gewöhnlichen Leuten, die selbst nicht an den Protesten teilnehmen. Dadurch gewinnen die Clips eine enorme Nähe für Unbeteiligte.

2017 gibt es in Deutschland über 30 Millionen aktive Facebook-Nutzer. Dort, in der Onlinebevölkerung, ist Verstörendes geschehen: ein sozialer Medien-Massenfuror, nicht als einzelner Wutausbruch, sondern über zwei, drei Tage, sich immer wieder selbstentzündend. Die deutsche Netzöffentlichkeit hat sich nach anfänglicher Irritation über die Härte der Polizei hineingesteigert in einen Empörungsrausch.

Wichtigster Auslöser ist wahrscheinlich ein Video, in dem schwarz maskierte, entschlossene Männer in einem Wohngebiet ausschwärmen, wahllos Autos anzünden und Schaufenster einschlagen.

"Erschießen ist zu gnädig"

Jemand fordert, man müsse "diese Leute endlich Terroristen nennen". Jemand anderes erklärt, dass nach der ersten Gewaltnacht eigentlich jeder Demonstrant zum Mob gehöre. Ein Dritter wünscht sich Scharfschützen herbei, es könnte ein überzogener Scherz sein, aber weitere Kommentare sind eindeutig: "Abschlachten das Pack", "zur Strafe selbst anzünden", "Erschießen ist zu gnädig".

Nach und nach fallen Äußerungen von einer Qualität, wie man sie von Rechtsradikalen zu Flüchtlingen gelesen hat. Nur, dass sie jetzt am Facebook-Profil erkennbar aus der Mitte der Gesellschaft kommen, von Familienvätern, Gewerkschaftsmitgliedern, Leuten, die ihren Biosupermarkt um die Ecke gelikt haben.

Ein SPD-Bundestagskandidat schreibt ernsthaft: "Jetzt verstehe ich, wie sich die Menschen 1933 in Berlin gefühlt haben müssen.…" Ein Hamburger Kreisgeschäftsführer der gleichen Partei twittert: "Kein Fußbreit der Schwarzen SA!"

Das sind nicht mehr verschobene Maßstäbe, das sind verrutschte Realitäten inklusive der Verharmlosung des Nationalsozialismus. "Krieg" wird als Begriff in sozialen Medien unzählbar häufig verwendet.

Ein Land, das die Hamburger G20-Zustände "Krieg" nennt, ist so naiv wie gesegnet.

Was "Bild" mit den Randalierern verbindet

Angesichts der Gewalt ist Zorn absolut verständlich, aber nicht dreitägige, ansteckende Massendauerrage ohne Rücksicht auf Verluste. Einmal in Wut entbrennen und Grenzwertiges herausschreien - passiert jedem. Dann muss man sich selbst beruhigen und zurückführen in zivilisatorische Gefilde, wie es mustergültig unter dem Hashtag #HamburgRäumtAuf geschieht.

Aber zum G20-Gipfel scheinen so viele völlig normale Leute im Netz die Massenaufstachelung tagelang aktiv zu suchen: World Wide Wut.

Private Fahndungsaufrufe werden ohne Scheu unkritisch hunderttausendfach geteilt . Der bildliche Anschein entfesselt einen Online-Mob, der Rache will an Leuten, die beteiligt aussehen: Aus post-faktisch wird posting-faktisch.

Ergänzt wird das durch die organisierte Niedertracht der "Bild" , die als Richterhenker per Titelbildfahndung in Kauf nimmt, dass durch Verwechslungen Unschuldige zu Schaden kommen. Die "Bild" ähnelt darin den Randalierern, denen das Leid Unschuldiger ebenso scheißegal ist.

Die Nebenwirkung der Wutlawine ist fatal

Verbale Aufrüstung geschieht allseitig. Leise Zweifel am Vorgehen der Polizei werden behandelt, als hätten die Zweifler selbst brennende Steine auf minderjährige Autos geworfen. Umgekehrt wird aus der geäußerten Wut auf die Gewalttäter die Unterstellung konstruiert, man beteilige sich persönlich am Aufbau des Polizeistaats.

Diejenigen, die tun, als sei unprovozierte Polizeigewalt egal, stehen denjenigen gegenüber, die tun, als hätten sie ihre Doktorarbeit über urbane Polizeistrategien verfasst. Die Schwere der Tatsachen führt in absurde Untiefen der Selbstrechtfertigung und der Selbstlüge.

Es seien keine echten Linken, die Autos anzünden, wird oft behauptet. Aber das ist natürlich Unfug, auch wenn einige Randalierer rechtsextrem waren und andere, naja: unpolitisch. Wenn man links ist, zünden die Extremisten der eigenen Seite Autos an und attackieren Polizisten, wenn man rechts ist, zünden die eigenen Extremisten andersartige Menschen an.

Wenn man diese Zusammenhänge leugnet, bastelt man sich eine Wunschwirklichkeit, die der Problemlösung im Weg steht. So zu tun, als gehörten Gewalttäter einfach gar nicht dazu, das war schon bei Islamisten falsch. Man muss nach den Zusammenhängen fragen, um zu verstehen.

Deshalb ist die Nebenwirkung der Wutlawine so fatal: Die Gleichsetzung von Verstehen-Wollen und Verständnis-Haben. "Jeder Versuch, das zu erklären, wertet diesen Abschaum nur auf", schreibt jemand. Schon die Ereignisse verstehen zu wollen, wird als Parteinahme für die Randalierer betrachtet.

In einigen Diskussionen wird jede, nicht vor Wut kochende Äußerung als Verharmlosung gesehen. Oder die Bemerkung, dass man in einem Rechtsstaat andere Maßstäbe an Polizisten legen muss als an kriminelle Randalierer. Das bedrückende Muster: Abwesenheit von Wut wirkt verdächtig, der Wunsch zu differenzieren gilt als Mittäterschaft. Furorpflicht auf der Empöre.

Differenzierung ist wichtig

Aber Rechtsstaat ist Differenzierung. Und Differenzierung ist meist gerade dann wichtig, wenn sie schwer fällt. Das Ziel aller Extremisten ist, existenzielle Situationen zu provozieren, weil dann die Entscheidung nur noch Ja oder Nein lauten kann, schwarz oder weiß, Freund oder Feind.

Je existenzieller die Lage scheint, umso mehr Menschen glauben, genau jetzt müsse man sich bekennen, andere zum Bekenntnis zwingen und fehlende Bekenntnisse als feindliche Handlung werten. Das ist die Strategie, mit der Extremisten ihre Truppen sammeln.

Wenn man G20 als Widerstandstest zur Sofortpolarisierung betrachtet, hat die deutsche Öffentlichkeit ihn nicht bestanden. Sie ist enorm manipulierbar durch Videos von ein paar Dutzend schwarz gekleideten, gewalttätigen, Autos anzündenden Männern. Diese Bilder eines örtlich und zeitlich begrenzten Ausnahmezustands erzeugen über soziale und redaktionelle Medien das Gefühl eines schwebenden, überall möglichen Ausnahmezustands.

Das Gefährliche am Ausnahmezustand: Er kehrt den emotional getriebenen Extremismus des Einzelnen hervor. Je stärker durch Bilder, Videos und begleitende Kommentare der Eindruck entsteht, die finale Detonation stehe unmittelbar bevor, desto eher fühlen sich auch unvoreingenommene Beobachter mitgezogen.

Am stärksten wirken Postings derjenigen, die noch bis gestern als Stimme der Vernunft galten. Der Nationalsozialist und Rechtsgelehrte Carl Schmitt schrieb bekanntermaßen: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt." Nach dem Zweiten Weltkrieg soll er modifiziert haben: "Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt."

Fern am Horizont blitzt durch die Empörungsspirale eine neue Variante auf: Souverän ist der Ausnahmezustand selbst.


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