Interview zum Bildschirmlesen : Es geht um unsere Einstellung, nicht um die Technik
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Oberflächlichkeit ist eine Frage unseres Umgangs mit den Lesemedien: nächtliche Tablet-Lektüre. Bild: Picture-Alliance
Wer am Bildschirm liest, kann Wissen schlechter verarbeiten. Es liegt am Leser selbst, das auszugleichen. Ein Gespräch mit der Kognitionspsychologin Rakefet Ackerman.
Der Verlagsbranche zufolge wird mehr gelesen als je zuvor. Warum ist das nicht einfach eine gute Nachricht?
Der Umstand, dass Menschen etwas lesen, verrät uns sehr wenig über die Art, wie sie Informationen verarbeiten. Beim Online-Chatten zum Beispiel wird auch gelesen, aber das Lesen hat die Rolle sozialer Interaktion, wie ein Telefongespräch oder eine direkte Begegnung, und kann diese auch zum Teil ersetzen. Die Verarbeitung neuer Information spielt dabei keine große Rolle, anders als beim vertieften Lesen von Nachrichten, von wissenschaftlichen oder erzählenden Texten. Manche Untersuchungen legen nahe, dass häufiges Lesen in sozialen Zusammenhängen online – in Chats genauso wie von E-Mails – sogar mit schlechteren Ergebnissen verknüpft ist, wenn es um Online-Lernaufgaben geht.
Muss das Lesen auf digitalen Geräten grundsätzlich überdacht werden?
Das computerbasierte Lesen ist Teil unserer Lebenswirklichkeit und wird ganz sicher nicht weniger werden. Unsere Aufgabe als Forscher, Fachleute und Eltern ist es, einen Weg zu finden, Kindern beizubringen und Erwachsene darin zu trainieren, die Herausforderungen zu bewältigen, die das mit sich bringt.
Müssen wir in einer zunehmend digitalisierten Welt das Lesen anders lehren?
Jede computerbasierte Lernaufgabe, die wir entwickeln, sollte zur vertieften gedanklichen Auseinandersetzung auffordern statt zum reinen Erinnern. Es gibt vielversprechende Ansätze: Die Schüler könnten angeleitet werden, die neuen Informationen mit bereits bestehendem Wissen zu verknüpfen, indem man ihnen herausfordernde Aufgaben stellt, die auf ihrem bisherigen Wissensstand aufbauen, statt sich nur auf die gerade vermittelte Information zu beziehen. Man könnte Schüler auffordern, selbst einzuschätzen, welche Bereiche des Gelernten sie besser und welche sie weniger gut beherrschen, um dann zu versuchen, ihren Kenntnisstand in den schwächeren Teilen zu verbessern. Man könnte vorschlagen, das neu gelernte Material zum einen unmittelbar nach dem Lernen, zum anderen mit einigem zeitlichen Abstand anzuwenden. Man könnte Aufgaben so viel wie möglich aus verschiedenen Materialzusammenhängen zusammenstellen, also nicht jedes Thema einzeln unterrichten, um dann zum nächsten überzugehen.
Müssten auch in der Hardware und Software Dinge verändert werden?
Unsere Forschung legt durchgängig nahe, dass die technischen Aspekte gegenüber den psychologischen, die zu Nachteilen der Bildschirmnutzung führen, zweitrangig sind. Bei gleicher Aufgabenstellung hat das Arbeiten unter Zeitdruck zum Beispiel zu einer Unterlegenheit des Bildschirms geführt, ohne Zeitvorgabe war das nicht das Fall. Das zeigt den psychologischen Aspekt des Problems. Das Arbeiten unter Zeitdruck ist in vielen Arbeits- und Lernzusammenhängen zentral. Insbesondere betonen diese Ergebnisse das Problem computerbasierter Zulassungs- und Eignungstests für die Arbeit oder das Studium.
Sie sprachen von vertieftem Lesen. Was ist das?
Ich sehe in vertieftem Lesen das Verarbeiten neuer Informationen oder Ideen, auch wenn der Gegenstand dem Leser schon gut bekannt ist. Es umfasst notwendigerweise die Aktivierung bereits bestehenden Wissens und seine Verknüpfung mit der neuen Information. Bei ausgeprägten Formen vertieften Lesens kommt noch das kritische Überdenken hinzu. Das Entstehen neuer Ideen wird begünstigt, sei es sofort oder später.
Was ginge mit der Fähigkeit zum vertieften Lesen verloren?