Facebooks Macht steckt in dieser Formel – Seite 1

Wie mächtig ist Facebook wirklich? Diese Frage stellte sich in der Debatte um den Datenmissbrauch durch die Firma Cambridge Analytica immer wieder. Der Autor und Medienwissenschaftler Tilman Baumgärtel versucht, sie zu beantworten – mit einem Theorem aus der Frühzeit des Internets.

Da musste auch das Publikum bei dem Auftritt von Facebook-Chef Mark Zuckerberg vor dem US-Kongress lachen: Der republikanische Senator Lindsey Graham will Zuckerberg dazu bekommen, zuzugeben, dass seine Firma ein Monopol hat. Zuckerberg windet sich und redet um den heißen Brei herum, was schließlich in dem Satz kulminiert: "Für mich fühlt es sich ganz sicher nicht so an." Heiterkeit unter den Zuhörern.

In der Tat: Facebook hat kein Monopol. Jeder kann eine eigene Social-Media-Plattform gründen. Und natürlich gibt es – von Ello über Jodel bis Gab – Alternativen zu Facebook. Das Problem ist nur, dass keine dieser Plattformen im Augenblick auch nur den Hauch einer Chance hat, Facebook ernsthaft Konkurrenz zu machen.

Warum das so ist, erklärt ein Theorem aus der Frühzeit des Internets: Metcalfe's Law. Das nach dem Netzpionier Robert Metcalfe benannte Gesetz ist ebenso kurz wie fundamental. Es kann nicht nur den Erfolg von Facebook verständlich machen, sondern auch, wie das Internet überhaupt so schnell zu einem globalen Massenmedium werden konnte. Es erklärt, warum der Fahrdienst Uber mehr Geld pro Monat verbrennen muss als irgendein Unternehmen in der Geschichte der Menschheit. Warum die Internetwirtschaft ständig Monopole wie YouTube oder Airbnb hervorbringt. Und warum der Teufel im Netz überhaupt immer auf den größten Haufen zu scheißen scheint. Sogar, warum die Bürgersteige in deutschen Großstädten gegenwärtig mit winzigen Mietfahrrädern mit orangefarbenen Felgen zugestellt werden, macht das Metcalfesche Gesetz einleuchtend.

Metcalfe, von dem es stammt, sieht mit inzwischen 71 Jahren aus wie ein amerikanischer Footballtrainer im Ruhestand. Anfang der Siebzigerjahre hat er in Harvard das Ethernet-Protokoll entwickelt, auf dessen Basis bis heute Computer an das Internet angeschlossen werden. Die Universität ließ ihn bei der Verteidigung seiner Dissertation dennoch durchfallen. Trotzdem bekam er einen Job im heute legendären Forschungszentrum Palo Alto Research Center (Parc) des Kopiererherstellers Xerox. Dort wurde in den Siebzigerjahren der Personal Computer entwickelt, wie wir ihn heute kennen. Der Computer Alto von Xerox hatte schon damals ein grafisches Interface mit Fenstern, Icons und Drop-down-Menüs sowie eine Maus, um auf diesen Symbolen herumzuklicken. Und er konnte über Metcalfes Ethernet-Protokoll mit anderen Computern verbunden werden, um elektronische Post und Dateien zu versenden. Apple kopierte diese Features bei seinem sagenhaft erfolgreichen Macintosh-Computer, der 1984 herauskam.

Zu dieser Zeit hatte Metcalfe bereits sein eigenes Unternehmen gegründet, das Hardware und Software verkaufte, um Rechner aller Art per Ethernet miteinander zu verbinden: 3Com, kurz für Computer, Communication, Compatibility. Als Unternehmer stand er allerdings vor einem Problem, das auch die Pointe des alten Witzes ist: "Nichts war schwerer zu verkaufen als das erste Telefon." Wen sollte man damit schon anrufen?

Eine schlichte Formel

Auch bei zwei Besitzern ist der Wert eines Telefons noch relativ gering. Doch je mehr Apparate an das wachsende Netz angeschlossen werden, desto nützlicher werden Telefone. Das Gleiche galt für ethernetfähige Computer.

Metcalfe packte diese Erkenntnis in eine schlichte Formel, die ihm auch dann einen Platz in der Geschichte der Informatik gesichert hätte, wenn er nicht das Ethernet-Protokoll erfunden hätte: V ∝ n².

Der Wert (V) eines Netzwerks ist proportional zur Zahl seiner Nutzer (n) im Quadrat. Weil alle Nutzer mit allen anderen kommunizieren können, ist ein Netzwerk mit zehn Nutzern nicht zehnmal so wertvoll wie eins mit nur einem Nutzer, sondern hundertmal so wertvoll (10²).

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Je mehr Nutzer, umso attraktiver das Netzwerk

Mithilfe dieser Einsicht lässt sich ganz allgemein erklären, wie sich technische Standards schon vor dem Internet gegen konkurrierende Entwürfe durchsetzen: Je mehr Menschen ein Abspielgerät für VHS-Videokassetten haben, desto mehr Inhalte werden von Filmstudios und Videoamateuren in dem Format produziert. Und desto attraktiver wird dieser Standard, selbst wenn das konkurrierende Betamax-System technisch überlegen ist.

Sind die Geräte aber direkt miteinander verbunden, ist der Nutzen noch deutlicher. So wird klar, warum sich das Internet ab Mitte der Neunzigerjahre so schnell gegen kommerzielle Onlineangebote wie AOL oder Compuserve durchsetzen konnte. Ab 1994 ließ sich das Internet durch die grafische Navigationsoberfläche des World Wide Web leichter bedienen, wie zuvor schon der Personal Computer, und öffnete sich der zivilen und nicht akademischen Nutzung. Die User der Onlinedienste konnten zu dieser Zeit nur mit anderen Kunden derselben Unternehmen kommunizieren. Das Internet war jedoch das Netz, das verschiedene Netze miteinander verband – daher kommt das "inter" (zwischen) im Wort Internet –, und hier hatte man viel mehr potenzielle Kommunikationspartner, also einen viel höheren Nutzen. Metcalfe's Law begann seinen Siegeszug.

Dessen Schöpfer hatte seine Erkenntnis mehr als ein Jahrzehnt lang weder zu Papier gebracht noch unter seinem Namen zum Gesetz erklärt. Er benutzte sie vor allem, um seine Erfindung Ethernet im Auftrag seiner Firma 3Com als Standard zu bewerben. Viele Unternehmen konnten zu dieser Zeit noch partout keinen Mehrwert von vernetzten Computern erkennen, mit denen sie keinerlei Erfahrungen hatten. Um sie zu überzeugen (und ihnen dann Hard- und Software von 3Com zu verkaufen), brauchte Metcalfe eine griffige Formel: Und die war eben Metcalfe's Law.

Jahrelang reiste er für 3Com durch die USA und predigte die Vorzüge eines von möglichst vielen geteilten Protokolls. Mit Erfolg: Nach und nach konnte er Unternehmen wie Microsoft, General Electric, DEC und Intel von seiner Idee überzeugen. Der amerikanische Autor und Unternehmensberater George Gilder schrieb 1993 einen Artikel für das Wirtschaftsmagazin Forbes, in dem Metcalfe's Law zum ersten Mal schriftlich erwähnt wird. 1996 veröffentlichten die Wirtschaftswissenschaftler Carl Shapiro und Hal R. Varian das Buch Information Rules: A Strategic Guide to the Network Economy, das zu einer Bibel der entstehenden New Economy wurde. Auch sie beriefen sich auf den von Metcalfe formulierten Glaubenssatz und trugen dazu bei, dass er zu einem Dogma unter Internetunternehmern wurde.

Denn Shapiro und Varian erklärten den frischgebackenen Netzunternehmern, wie sie aus Metcalfes Doktrin Profit schlagen könnten. Ihre Einsichten prägen bis heute die Geschäftspolitik erfolgreicher Internetfirmen: "Die Netzwerk-Externalitäten machen es praktisch unmöglich, dass kleine Netzwerke Erfolg haben. Aber jedes neue Netzwerk muss bei null anfangen. Die Herausforderung für Unternehmen, die neue und inkompatible Technologien auf den Markt bringen wollen, besteht darin, ihre Netzwerke so aufzubauen, dass die kollektiven Umstellungskosten überwunden werden."

Besser, leichter zu bedienen und stabiler

Anders gesagt: Das Netzwerk, das man aufbaut, muss so attraktiv sein, dass die Nutzer die Mühen des Wechsels als gerechtfertigt wahrnehmen. Und dann muss man sie dort festhalten. Genauso operiert im anbrechenden Zeitalter des Plattformkapitalismus zum Beispiel Facebook: Gegen die Konkurrenz von Anbietern wie Myspace oder Friendster setzte man sich zunächst durch, indem man ein besseres, leichter zu bedienendes und stabileres Angebot machte.

Je mehr Nutzer Facebook hatte, umso attraktiver wurde das Netzwerk, weil so die Chancen stiegen, dort die eigenen Freunde und Bekannten zu finden. Und je mehr Kundinnen und Kunden Facebook hat, desto mehr Geld verdient es durch Werbung und kann mit diesen Gewinnen nicht nur das ursprüngliche Produkt optimieren, sondern durch den Zukauf von Unternehmen wie Instagram, Oculus VR oder WhatsApp auch neue Märkte erschließen.

Das Metcalfesche Gesetz erklärt auch, wieso Facebook sich innerhalb so kurzer Zeit gegen die Konkurrenz durchsetzen konnte: Der Wert eines Netzwerks wächst nicht linear mit der Zahl der Nutzerinnen und Nutzer, er potenziert sich vielmehr, wie Metcalfe es für sein Ethernet dekretiert hatte. Ist ein bestimmter Umschlagpunkt erreicht, hat es keinen Sinn mehr, bei StudiVZ zu bleiben, weil alle anderen bei Facebook sind.

Im traditionellen Einzelhandel können mehrere große Kaufhausketten nebeneinander bestehen. Durch ihr umfassendes Angebot und ihre durch Großeinkaufsrabatte günstigen Preise können sie den Laden an der Ecke ruinieren, aber nicht notwendigerweise einander.

Anders im Internet: Wer bei Amazon Kreditkartennummer und Lieferadresse angegeben hat, ist Teil des Netzwerkes des Unternehmens geworden und empfindet es als lästig, sich bei jedem Onlineeinkauf bei einem Mitbewerber neu zu registrieren. Darum gehen immer mehr Anbieter dazu über, ihre Produkte über den Amazon Marketplace anzubieten, der inzwischen mehr als ein Drittel des Amazon-Gesamtumsatzes ausmacht. Von jeder Transaktion, die dort stattfindet, behält Amazon einen Anteil und zieht noch Versandkosten ein, wenn es die Bestellungen auch ausliefert.

Zu viele Nachteile durch einen Wechsel

Der Erfolg von Amazon wie von Facebook erklärt sich aber auch dadurch, dass die Firmen durch die Datenmassen, die das Unternehmen von seiner Kundschaft hat, ihr gesamtes Angebot optimieren können: "Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch …". Und freundlicherweise schreiben diese Kundinnen und Kunden auch gleich noch Rezensionen, vergeben Punkte und beantworten Fragen. Wieso sollte man sich also bei so einem Rundumangebot den Mühen unterziehen, sich bei einem anderen Onlineversandhändler anzumelden, der kein vergleichbares Netzwerk anbieten kann?

In der Wirtschaftswissenschaft ist darum auch vom Lock-in die Rede: Früher oder später sitzt man im gewählten Netzwerk fest, weil ein Wechsel einfach zu viele Nachteile mit sich bringen würde. Auf denselben Effekt setzt auch Google: Zwar kann man die Suchmaschine des Unternehmens einfach so verwenden. Doch deren Nutzen nimmt zu, je mehr der anderen Angebote von Google – von Gmail über Google Maps bis zu dem Betriebssystem Android – man verwendet.

Selbst wenn in einem Marktsegment im Internet scheinbar zwei Unternehmen konkurrieren, ist das Wirken von Metcalfe's Law zu beobachten. In den USA unterbieten sich die beiden Fahrdienstvermittler Uber und Lyft seit einem halben Jahrzehnt und verzichten auf Einnahmen, um den Konkurrenten kaputtzumachen und so die Monopolsituation zu erreichen, die die Wirtschaftsprofessoren Shapiro und Varian propagiert hatten.

Auch die Miniräder mit den orangefarbenen Felgen, die plötzlich überall auftauchen, sind sichtbarer Ausdruck so eines Konkurrenzkampfes: Das vor gerade mal zwei Jahren gegründete chinesische Unternehmen Mobike versucht, durch das Überangebot die Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen und die Vorteile von Metcalfe's Law im Marktsegment der Mietfahrräder zu nutzen. Auch hier wird ein Lock-in angestrebt: Wer die App von Mobike wegen der vielen Räder der Firma installiert hat, wird nicht mehr bei konkurrierenden Anbietern Kunde. Auch bei diesem internetbasierten Geschäftsmodell gilt nach Hoffnung des Unternehmens: The winner takes all. In China führten solche Kämpfe um die Vormachtstellung zu so einer Flut von Leihrädern, dass die Regierung diese nun in großem Stil einsammelt und verschrottet, um Bürgersteige und Straßen wieder frei zu bekommen.

Kein Gesetz, eher eine Faustregel

In einem Markt, der von einem Internetmonopolisten dominiert wird, hat man nur in Nischen eine Chance: So überlebt die Videoplattform Vimeo trotz der Dominanz von YouTube, weil sie sich an professionelle Filmschaffende richtet. Und Craigslist, weil es im Gegensatz zu eBay nicht die breite Masse, sondern Hipster mit ausgeprägtem Distinktionsbedürfnis anspricht.

Doch trotz seiner Bedeutung ist Metcalfe's Law kein Gesetz, eher eine Faustregel. Bereits vor Robert Metcalfe hatten Wissenschaftler die Dynamik beschrieben, die entsteht, wenn sich viele Nutzer an das gleiche Netzwerk anschließen. Schon Theodore Newton Vail, der langjährige Chef von AT&T, hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ähnliche Beobachtungen gemacht, die später von Ökonomen wie Michael L. Katz, Joseph Farrell und Garth Saloner unter dem Begriff des Netzwerk-Effekts formalisiert wurden. Metcalfe's Law aktualisierte dieses Konzept letztlich nur unter den Bedingungen des Internets, offenbar ohne dass sein Schöpfer von seinen Vorgängern wusste.

Die mathematische Formel, in die Metcalfe seine Erkenntnis goss, wurde in den letzten Jahren immer wieder infrage gestellt. Wenn die gesamte Weltbevölkerung (grob auf acht Milliarden aufgerundet) in einem Netzwerk verbunden wird, dann sind das vier Milliarden mal so viele Menschen wie in einer Zweierbeziehung. Doch ist der Nutzen des großen Netzwerks dann wirklich vier Milliarden mal vier Milliarden so groß wie der eines Netzwerks aus zwei Personen? Was bedeutet das genau für ein real existierendes Netzwerk wie Facebook oder das ganze Internet? Und worin besteht noch mal der Nutzen, wenn in so einem Netzwerk zunehmend Fake-News, russische Trollpropaganda, von Ziegen geblökte Taylor-Swift-Songs und Spongebob-Memes verbreitet werden?

Robert Metcalfe hat 2013 sogar einen Onlinefernkurs in Statistik belegt, um ausrechnen zu können, ob er recht hatte. Mit Daten, die ihm Facebook zur Verfügung stellte, will er mathematisch bewiesen haben, dass in den ersten zehn Jahren des Unternehmens sich dessen Umsätze im Verhältnis zur Zahl seiner Mitglieder genau nach seinem Gesetz entwickelt haben. Wie Mark Zuckerbergs Auftritt vor dem Untersuchungsausschuss in Washington zeigte, hat die Diskussion über Facebooks Wert für die Menschheit jenseits von Umsatzrenditen allerdings gerade erst begonnen.