Computer fördern vieles von dem, was Pädagogen als problematisch erachten. Eher absurd als einleuchtend, dass Schulen auf digitale Medien umstellen sollen

Die Schule muss die zukünftige Gesellschaft mitgestalten. Aber bedeutet das, dass im Unterricht alles auf die Informatik ausgerichtet und die Tafel durch den Computer ersetzt werden muss? Im Gegenteil: Sinnvoll wäre es, die Kinderköpfe weniger digitalem Smog auszusetzen.

Roberto Simanowski
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Eine von einem Lehrer mit Kreide beschriebene Wandtafel einer Primarschulklasse in einem Zürcher Schulhaus. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

Eine von einem Lehrer mit Kreide beschriebene Wandtafel einer Primarschulklasse in einem Zürcher Schulhaus. (Bild: Christoph Ruckstuhl / NZZ)

In den Schulen und in den Diskursen der Bildungspolitiker und Erziehungswissenschafter macht seit einiger Zeit eine Formulierung die Runde, zu der sich jeder irgendwie verhalten muss: «digitale Bildungsrevolution». Gemeint ist die Umstellung der Bildung auf digitale Medien, wozu Investitionen in die digitale Infrastruktur der Schulen gehören, die didaktische Nutzung digitaler Medien sowie perspektivisch die Schaffung virtueller Lernumgebungen. Die Schlagwörter lauten: Blended und Distant Learning, Global Teacher, Online Campus, MOOC (Massive Open Online Course) und POOC (Personalized Open Online Course).

Wie bei vielen Revolutionen wird auch in dieser zum Teil wild um sich geschossen. Es ist zu bezweifeln, dass man heute besser als im Jahr 1789 weiss, wohin die Reise gehen soll, und eine Vorstellung hat, was man eigentlich mit so viel Internet im Klassenzimmer anfangen will. Aber auch wenn Lehrer nicht vom pädagogischen Sinn der verordneten Umwälzung überzeugt sind, in einer Revolution ist es gefährlich, gegen die Revolution zu sein, und zwar, wie Dantons Tod zeigt, selbst für Revolutionäre. So wie während der Französischen Revolution Menschen mit einem Taschentuch Gefahr liefen, als Aristokraten zur Guillotine geschleppt zu werden, stehen nun erprobte Lehrmethoden und Kommunikationsformen schon deswegen als «Bewahrpädagogik» am Pranger, weil sie ohne digitale Medien auskommen.

Das Argument der Revolutionäre lautet, dass die Schule realitätsnah operieren müsse und die Jugend nicht mit den Werkzeugen der Vergangenheit auf die Zukunft vorbereiten könne. Der unterstellte Anachronismus wird dabei gern mit einer doppelsinnigen Kurzformel illustriert: «Ende der Kreidezeit.»

Jugend ist keine Tugend

Sprüche sind allerdings noch nicht richtig, weil sie gut gemacht sind. Alter ist auch dann, wenn es um Unterrichtsmittel geht, so wenig eine Schande wie Jugend eine Tugend. Wer im Geschichtsunterricht über die Grosse Oktoberrevolution nicht geschlafen oder «gewhatsappt» hat, wird dagegen gewappnet sein, im Neuen immer gleich das Bessere zu sehen. Wer sich darüber hinaus für die Interna der Tech-Welt interessiert und weiss, dass IT-CEO im Silicon Valley ihre Kinder in technologiefreie Waldorfschulen stecken, wird sich fragen, welche Risiken ihrer Produkte diese Eltern ihren Kunden verschweigen.

Aus neurowissenschaftlicher Perspektive fördert der Computer vieles von dem, was Pädagogen als problematisch erachten: eine Kultur der Hyperattention und Hyperstimulation, in der Sofortbelohnung vor Lustaufschub geht, mit der Folge, dass man immer dann, wenn die Dinge komplex und kompliziert werden, ohne Verzug und Ehrgeiz zur nächsten Ablenkung klickt. Im Grunde ist es also eher absurd als einleuchtend, dass man umso mehr auf digitale Medien im Unterricht umstellen soll, je mehr diese den ausserschulischen Raum bestimmen.

Es ist eher absurd als einleuchtend, dass man umso mehr auf digitale Medien im Unterricht umstellen soll, je mehr diese den ausserschulischen Raum bestimmen.

Natürlich haben jene recht, die betonen, dass die Aufgabe der Schule darin bestehe, die künftige Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Aber muss das heissen, nun radikal die Tafel durch den Computer zu ersetzen? Immerhin ist man nach der Erfindung moderner Fahrzeuge ja auch nicht dazu übergegangen, von Dorf zu Dorf zu fliegen. Im Gegenteil, gerade die Ausprägung der Autogesellschaft führte zur Schaffung von Fahrradspuren, Fussgängerzonen und Umweltplaketten. Wäre es also nicht vernünftig, auch den digitalen Smog in den Köpfen der Schüler durch entsprechende Gegenmassnahmen zu reduzieren, statt skrupellos auf «Modernisierung» zu setzen?

Den «Homo algorithmicus» vermeiden

Um Missverständnissen vorzubeugen: Lehrer, die sich prinzipiell gegen den Einsatz digitaler Medien im Unterricht sperren, betrügen ihre Schüler und sich um wertvolle Motivationsimpulse. Nichts spricht etwa gegen das projektbezogene Arbeiten mittels Online-Foren und Wikis oder Computeranimationen chemischer Reaktionen. Es gibt viele interessante Formen der Nutzung digitaler Medien und sozialer Netzwerke im Unterricht, und es geht keineswegs darum, die Schule als einen Hort der Bildung gegen die vermeintliche Verblendung der neuen Medien abzuschotten.

Vielmehr kommt es darauf an, dass die Digitalisierung der Schule nicht jenseits des didaktisch und pädagogisch Sinnvollen im Interesse der IT-Unternehmen betrieben wird. Es geht darum, dass die in der Lehreraufstockung und Schulsanierung dringend benötigten Mittel nicht allein in Hardware investiert werden. Und es geht darum, dass die Digitalisierung des Unterrichts nicht zum «Homo algorithmicus» führt, der als rundum evaluiertes «Humankapital» beharrlich von der Wenn-dann-Logik der Software auf seine effektive Erfüllung der Vorgaben und Erwartungen hin überprüft wird – mit den problematischen Grunderfahrungen der Überwachung und Ohnmacht.

Es kommt darauf an, dass die Digitalisierung der Schule nicht jenseits des didaktisch und pädagogisch Sinnvollen im Interesse der IT-Unternehmen betrieben wird.

Denn zum einen führt die Vermessung der biologischen und mentalen Prozesse des Lernens, die perspektivisch auch Tracking-Technologien zur Analyse von Tonfall, Mimik und Blick einsetzt, zu einer Ausweitung der «Dataveillance», also der datengetriebenen Überwachung von allem und allen. Die maschinelle Erfassung geistiger Tätigkeit – die Helmar Frank schon 1962 in seinem Buch «Kybernetische Grundlagen der Pädagogik» als «Prozessoptimierung» bewarb – darf nicht zur Normalisierung von Vermessungs- und Regulationsprozeduren führen. Die personenbezogene Bedürfnisanalyse und Informationszuteilung durch die neuen Technologien erregte im Kontext der Wahlmanipulation durch Datenanalyseunternehmen neulich zu Recht Aufsehen. Ist sie wirklich so unschuldig, wenn sie nicht im Bereich der Politik, sondern der Bildung eingesetzt wird?

Zum anderen betrügt die digitale Organisation der Lernumgebung das Phänomen der Autorität um seine dialektische Spannung. Denn es ist zwecklos, gegen bestimmte Aufgaben und Anweisungen aufzubegehren, wenn man nur noch mit künstlicher Intelligenz interagiert oder mit menschlicher, die selbst keinerlei Weisungsrecht gegenüber den Algorithmen besitzt. Ganz zu schweigen von der Sozialerfahrung der Gruppe, die im Modus der individuellen, modulorientierten Wissensvermittlung verloren geht.

Informatik braucht Ethik

Ein zentraler Bestandteil der digitalen Bildungsreform ist die Forderung nach Informatikunterricht. Dem Argument «Program or Be Programmed», wie ein Buch von Douglas Rushkoff aus dem Jahr 2010 heisst, lässt sich kaum widersprechen – natürlich ist es gut, wenn man versteht, was hinter dem Interface passiert, und die Dinge notfalls selbst reparieren kann.

Gleichwohl sollte auch klar sein, dass Informatikunterricht den Menschen noch nicht davor schützt, programmiert zu werden. Das staatsbürgerliche Bewusstsein, das zum Beispiel Edward Snowden dazu bewog, unter Riskierung seines Lebens auf die antidemokratischen Aktivitäten der eigenen Regierung aufmerksam zu machen, entstammt wohl weniger seinen Informatikkursen als dem Ethikunterricht oder wie auch immer das Fach hiess, in dem an seiner Schule die Grundlagen der Demokratie und die Heldentaten ihrer Vorkämpfer vermittelt wurden. Programmieren mag das Denken trainieren, soweit es um mathematische Logik geht, man muss aber auch das Denken über das Programmieren üben.

Programmieren mag das Denken trainieren, soweit es um mathematische Logik geht, man muss aber auch das Denken über das Programmieren üben.

Man muss nicht nur zu programmieren verstehen, man muss die gesellschaftlichen Konsequenzen des Programmierens verstehen. Man muss nicht nur wissen, wie ein Algorithmus funktioniert, man muss auch wissen, wie er die menschliche Situation ändert. Konkret heisst dies zum Beispiel, ein Verständnis für die Bedeutung von «Ranking» und «Sortiertheit» als ontologische und ideologische Organisations- und Hierarchisierungsform zu entwickeln, was nicht die Vertrautheit mit einem Sortierungsalgorithmus wie Quicksort voraussetzt. Ein Informatikunterricht, der diese Vertrautheit vermittelt, ohne jenes Verständnis zu entwickeln, wäre keine Ermächtigung des Bürgers gegenüber den Gefahren der Programmierung, sondern eher eine Ausrichtung der Schüler auf die Anforderungen des digitalen Arbeitsmarktes.

Nichts ist falsch an dieser Ausrichtung, solange sie nicht auf Kosten jener Ermächtigung geht. Andernfalls liefe die digitale Bildungsrevolution auf eine berufstaugliche Zurichtung des Menschen als Rädchen im Getriebe der Gesellschaft hinaus. Eine solche Zurichtung wurde im 19. Jahrhundert unter dem Stichwort «verhältnismässige Aufklärung» gefordert und im 20. Jahrhundert unter dem Stichwort «Erziehung zur Mündigkeit» vehement abgelehnt. Im 21. Jahrhundert zu ihr zurückzukommen, wäre im anderen Sinne des Wortes und trotz all den digitalen Unterrichtsmitteln eine neue Form von Kreidezeit.

Roberto Simanowski ist Medienwissenschafter in Basel. Sein soeben bei Matthes & Seitz erschienenes Buch «Stumme Medien. Vom Verschwinden der Computer in Bildung und Gesellschaft» widmet sich der Digitalisierung und Bildung.