GI-Radar 352: Welches Grundrecht?

 

Liebe Leserinnen und Leser, 

in dieser Ausgabe geht es um ein Onlineregister für Organspenden, Hackerangriffe, das Onlinezugangsgesetz und die schwierige Unterscheidung zwischen Verwirrung und Kunst. Im Thema im Fokus macht sich Präsidiumsmitglied Steimann Gedanken über Grundrechte. In den GI-Mitteilungen stellen wir Ihnen die weiteren GI-Vorstandsmitglieder vor, weisen auf unser Informatik Festival und die umfangreiche Workshopliste hin und freuen uns auf viele Bewerbungen als Junior-Fellows. Das Fundstück befasst sich mit der Zeit.

Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit dieser Ausgabe.

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Onlineregister für Organspenden + Ransomware-Gruppe entdeckt + Onlinezugangsgesetz + Hackerangriff dokumentiert + Fake-Video + welches Grundrecht? + weitere Vorstandsmitglieder + Informatik Festival 2024 + Junior-Fellows 2024 gesucht + Heximale Zeitrechnung

KURZMITTEILUNGEN

Onlineregister für Organspenden (ZEIT). Haben Sie einen Organspendeausweis? Und wenn ja: ist er aktuell und haben Sie ihn immer dabei? Damit im Fall der Fälle nicht unnötig Zeit verstreicht, soll ein Onlineregister für Organspendewillige eingerichtet werden. Hier kann die eigene Bereitschaft zur Organspende hinterlegt werden, sodass im Ernstfall der eigene Wille klar und abrufbar ist und Angehörige nicht in einer Stresssituation schwierige Entscheidungen treffen müssen.  weiterlesen

Teil einer Ransomware-Gruppe geschlossen (Spiegel). Eine Erpressergruppe ist um eine Webseite ärmer. Die Gruppe, die in der Vergangenheit mehrere größere Unterrnehmen gehackt und erpresst hat, ist in einer gemeinsamen Aktion verschiedener Strafverfolgungsbehörden in Teilen unschädlich gemacht worden.  weiterlesen

Onlinezugangsgesetz kommt – wahrscheinlich (SZ). Was mittlerweile bei vielen Apps ganz selbstverständlich geht, ist in der Verwaltung noch nicht überall möglich: die Identifikation auf elektronischem Weg. Ab 2028 soll dies nun flächendeckend in der Verwaltung angeboten werden und einklagbar sein.  weiterlesen

Tagebuch eines Hackerangriffs (NZZ). Vor einem Jahr hackte eine Gruppe ein großes Verlagshaus in der Schweiz. Wie der Angriff ablief, wie die Verantwortlichen intern und extern gehandelt haben und was sich daraus (hoffentlich) auch für andere lernen lässt, ist in einem „Tagebuch“ dokumentiert.   weiterlesen

Zuordnungsverwirrung oder Kunst: Streit über ein Fake-Video (Netzpolitik). Was beeinflusst die Öffentlichkeit? Wie klar muss Kunst oder Satire erkennbar sein, um unschädlich zu sein? Das Zentrum für politische Schönheit hat ein Fake-Video des Bundeskanzlers veröffentlich, das laut Berliner Landgericht nicht statthaft war. Auch nach einer weiteren Verfremdung sei es nicht unzweifelhaft als Fake zu erkennen und deshalb zu unterlassen. Das Zentrum protestiert.   weiterlesen

THEMA IM FOKUS

Grundrecht! Welches Grundrecht? Die kürzlich vorgelegte Studie mit dem Titel „Lauter Hass – leiser Rückzug. Wie Hass im Netz den demokratischen Diskurs bedroht“ (kompetenznetzwerk-hass-im-netz.de) zeigt einmal mehr auf, was wir längst alle wissen: Das Internet, vertreten durch sogenannte Social Media und die Plattformen, die sie vertreiben, ist ein virtueller Raum, in dem jeden Tag tausende Menschen zu Schaden kommen, durch Hass und Hetze gegen viele, durch Cybermobbing, Cybergrooming und Cyberstalking gegen einzelne. Die Grenze zu Straftatbeständen ist dabei oft fließend, die Verfolgung von Straftaten fast immer schwer — nicht jede hat die Ausdauer und die Mittel einer Renate Künast, diese durchzusetzen (sueddeutsche.de), und wäre es doch so, dann würde sich die Strafverfolgung angesichts der schieren Zahl der Straftaten endlos hinziehen. Keine deutsche Regierung würde lange im Amt bleiben, würden vergleichbare Zustände in der Realwelt herrschen.

Mittlerweile scheint sich in der Öffentlichkeit die Einsicht zu verbreiten, dass es so nicht weitergehen darf. Viele hoffen auf die Wirkung von NetzDG (gesetze-im-internet.de) und Digital Services Act (bundesregierung.de) der EU, nach denen die Betreiber der sog. Social Media verpflichtet werden, strafbare Inhalte, die sie verbreiten, nach erfolgter Anzeige binnen kurzer Frist von ihren Plattformen zu löschen. Dass dies jedoch nicht ausreicht, um Opfer zu schützen, belegen zahlreiche Beispiele aus der noch jungen Geschichte der Plattformen:

Facebooks Rolle in der Vertreibung der Rohinya (reuters.com, undocs.org, sueddeutsche.de);

Facebooks Live-Übertragung des Christchurch-Attentats und die Unfähigkeit, die Videos zu löschen (nbcnews.com);

über Whatsapp verabredete Lynchmobs in Indien (stuttgarter-zeitung.de).

Diese Verbrechen sind Jahre her, müssen aber dennoch als Testfälle für aktuelle Gesetzesanpassungen gesehen werden: Wenn die Verletzung der Rechte Dritter, bis hin zu deren elementaren Menschenrechten, durch die Verbreitung von Inhalten bereits eingetreten ist, wie kann sie durch Zurückziehen oder Löschen dieser Inhalte geheilt werden? Würde ein neues Verkehrsmittel gesetzlich zugelassen, bei dem Lenkung oder Bremsen immer erst nach einer Kollision betätigt werden können? Sollte der Handel von der Verpflichtung, sich der Herkunft der ihnen zugesteckten und von ihnen verkauften Ware zu vergewissern, befreit werden, sofern sie versprechen, zu versuchen, Hehlerware nach Anzeige binnen eines Tages zurückzukaufen und zurückzugegeben?

Freie Meinungsäußerung und Verbreitung der eigenen Meinung sind in Deutschland Grundrecht. So steht es in Artikel 5, Absatz 1 des deutschen Grundgesetzes:

„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

Ein Grundrecht auf unbeschränkte Verbreitung der eigenen Meinung durch Dritte gibt es indes nicht. Vielmehr unterliegen die klassischen Verbreiter von Meinungen, Presse und Rundfunk, gesetzlichen Auflagen, wie sie in den Landespressegesetzen und im Rundfunkstaatsvertrag (2020 abgelöst vom Medienstaatsvertrag) festgeschrieben sind. Denn es gilt genauso der Absatz 2 des Artikel 5 GG:

„Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“

Die Missachtung dieser Auflagen ist mit Sanktionen belegt mit der Konsequenz, dass die Verbreiter die Meinungen vor ihrer Verbreitung prüfen. Die Plattformen tun dies jedoch nicht. Wieso nicht?

Es ist anzuerkennen, dass es technisch unmöglich ist, strafbare Inhalte mit hinreichender Zuverlässigkeit automatisch zu identifizieren und zurückzuweisen. Wäre also schon die Verbreitung und nicht erst die unterlassene Löschung auf Aufforderung strafbar und mit hinreichend, d.h. abschreckend hohen Strafen belegt, würde das aktuelle Geschäftsmodell der Plattformbetreiber unrentabel und ihre Dienste würden eingestellt. Das wäre freilich kein tragischer Einzelfall: Wenn ein Produkt unter gravierenden, systematischen Sicherheitsmängeln leidet, wird sein Vertrieb zumindest in Deutschland schwierig – das schuldet der Staat seinem (Konsum)Volk. Doch durch Gesetzgebung das Verschwinden der Plattformen zu riskieren? Undenkbar! Aber warum eigentlich?

Die Antwort könnte erschreckend ausfallen: Weil es dafür zu spät ist. Die Plattformen haben die Jahre, in denen sie weitgehend unreguliert agieren durften, genutzt, um ihre Kundschaft abhängig zu machen: Es fällt schwer, auf die einmal erlebte persönliche Reichweite und die damit verbundenen Chancen der Selbstwirksamkeit zu verzichten. Dies gilt auch und insbesondere für diejenigen, die bei offenkundigen Fehlentwicklungen eigentlich regulierend eingreifen sollten: Selbst wenn dem Eigentümer und Lenker der Plattform X Antisemitismus vorgeworfen wird (tagesschau.de), bleibt das Gros der politisch Aktiven, übrigens genau wie Gros der ansonsten eher achtsam auftretenden öffentlich-rechtlichen Einrichtungen, lieber bei dessen Geschäftsmodell als einen Reichweitenverlust zu riskieren. Begründungen dafür gibt es viele, aber keine ist mit einem Bild von Freiheit und Unabhängigkeit vereinbar, das diese Meinungsbildner eigentlich abgeben sollten.

Das reale Grundrecht auf freie Meinungsäußerung scheint mittlerweile mit der Fiktion eines Grundrechts auf ungefilterte Verbreitung der eigenen Meinung durch Dritte verschmolzen. Die praktische Folge ist eine Bestandsgarantie für die Plattformen. Was auch immer sie koste.

Diesen Beitrag hat Prof. Dr. Friedrich Steimann, Informatiker und Mitglied des Präsidiums, beigesteuert. Vielen Dank!

GI-MELDUNGEN

GI-Vorstand komplett: Nadine Bergner und Ali Sunyaev gewählt. Laut Satzung ergänzt das Präsidium den von den GI-Mitgliedern gewählten Vorstand um weitere Personen. Dies hat es in seiner Sitzung Anfang Februar getan und Nadine Bergner und Ali Sunyaev hinzugewählt. Wir gratulieren! weiterlesen

Informatik Festival 2024: Workshops online. Wir werden immer attraktiver! In diesem Jahr gab es mehr Workshopeinreichungen als jemals zuvor, und diese wollen nun mit Leben gefüllt werden. Reichen Sie fleißig ein, die Verantwortlichen warten gespannt auf interessante Beiträge.  weiterlesen

GI-Junior-Fellows 2024 gesucht. Die GI-Junior-Fellows besetzen innerhalb der GI mittlerweile viele herausragende Positionen und wirken so an der Arbeit an und mit der GI mit. Sie finden sich im Vorstand und leiten die GI-Radar-Redaktion, geben LNI-Reihen heraus, initiieren eigene Projekte und mischen das Präsidium auf. Wir sind auf der Suche nach jungen Informatik-Talenten, die sich bereits profiliert haben und daran interessiert sind, in der GI aktiv mitzumachen. Bewerbungs- bzw. Nominierungsschluss ist der 25. Mai.  weiterlesen

 

Kennen Sie eigentlich den GI-Pressespiegel? Dort sammeln wir die Berichterstattung über unsere Fachgesellschaft in Zeitungs-, Radio- und Fernsehbeiträgen. Schauen Sie rein, es gibt da immer wieder Neues oder auch ältere Fundstücke.

FUNDSTÜCK

Die Heximal Clock. Es soll Informatikerinnen und Informatiker geben, die hexadezimale Zahlen genauso gut lesen können wie dezimale. Wenn Sie dazu gehören, wird Ihnen die Heximal Clock gefallen. Diese Uhr arbeitet mit 36-Stunden-Tagen, wobei jede Stunde 36 Minuten und jede Minute 36 Sekunden hat. Eine Besonderheit sind die beiden Stundenzeiger: Der kürzere kodiert die Zehnerstelle, der längere die Einerstelle der Stunde. Mit etwas Übung lässt sich so die genaue Zeit schnell ablesen. Ein schönes Spielzeug, das zeigt, dass unser etabliertes Zeitformat nicht die einzige Möglichkeit ist. Zum Fundstück (xanthir.com)

Dieses Fundstück hat Pascal Wichmann eingesandt. Vielen Dank!

 

Dies war Ausgabe 352 des GI-Radars vom 08.03.2024.  Zusammengestellt hat diese Ausgabe wie immer Dominik Herrmann, der dabei immer die (analoge) Uhr im Blick behielt, um rechtzeitig bis zur Versandzeit fertig zu werden. GI-Geschäftsführerin Cornelia Winter hat die Mitteilungen und Meldungen zusammengetragen Das nächste Radar erscheint am 08. März.

Im GI-Radar berichten wir alle zwei Wochen über ausgewählte Informatik-Themen. Wir sind sehr an Ihrer Meinung interessiert. Für Anregungen und Kritik haben wir ein offenes Ohr, entweder per E-Mail (redaktion@gi-radar.de) oder über das Feedback-Formular bei SurveyMonkey. Links und Texte können Sie uns auch via X (vormals Twitter) unter @informatikradar zukommen lassen.