Liebe Leserinnen und Leser,
in dieser Ausgabe geht es darum, wie sich ein autonom fahrendes Auto durch die Wirren von Oktoberfestmassen manövriert, dass CAPTCHAs nicht mehr unbedingt sicher sind, ob man der Stimme am Telefon trauen kann und um den Etat des Forschungsministeriums. Das Thema im Fokus behandelt subtile Entmutigungen, die Interessierte an der Informatik – insbesondere junge Frauen – immer wieder hören. In den GI-Mitteilungen präsentieren wir Ihnen stolz unsere diesjährigen Fellows und Preisträger und nehmen Sie mit auf eine Reise mit GI-Fellow Debora Weber-Wulff zu Fragen rund um Ethik und KI. Im Fundstück schauen wir uns an, was aus einem kuriosen Gesellschaftsexperiment im Internet wurde, das wir vor einer Weile schon einmal im GI-Radar vorgestellt haben.
Wir wünschen Ihnen viel Spaß mit dieser Ausgabe.
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Autonome Autos auf dem Oktoberfest + CAPTCHAs + Stimmfälschung + Forschungsetat + subtile Entmutigungen + Klaus-Tschira-Medaille + Fellows + Balzert-Preis + GI-Fellow Weber-Wulff zu Ethik und KI + The Secret Inside One Million Checkboxes
KURZMITTEILUNGEN
Autofahren beim Oktoberfest mit dem Robotaxi (ZEIT). Zum Oktoberfestbesuch gehört für viele die ein oder andere Maß. Aber wie kommt man danach nach Hause, ohne den Führerschein zu riskieren? Ein Team der TU München testet dieses Jahr rund um das Oktoberfest das Robotaxi Edgar: autonomes Fahren mit Hindernissen im Gewusel von Menschen, Tramverkehr, Ampeln und Bäumen. weiterlesen
Der Nutzen von CAPTCHAs sinkt (Golem). Wer kennt sie nicht, die Bildchen, wo man Motorräder oder Zebrastreifen anhaken muss zum Beweis, dass man ein Mensch ist und kein „Bot“. Inzwischen gibt es aber Tools, die die gängigen CAPTCHAs korrekt lösen – und das besser als die meisten Menschen. Wie geht dieses Katz-und-Maus-Spiel weiter? weiterlesen
Stimmfälschungen, manipulierte Fotos und eine vermeintlich echte Runde in der Videokonferenz: wie sich Täuschungen entlarven lassen (NZZ). Jemand aus dem Team ruft an und signalisiert Not: das nimmt man normalerweise ernst. Mit den richtigen Werkzeugen und etwas Fleiß lassen sich allerdings inzwischen auch mehrere vertraute Personen in einer Videokonferenz täuschend echt vorgaukeln. Durch Sensibilisierung lassen sich Betrugsversuche – hoffentlich – rechtzeitig erkennen. Wir fragen uns: Werden wir uns an Bildschirm und Telefon in Zukunft weniger vertrauen? Was macht das mit uns? weiterlesen
„Digitalpakt 2“ Priorität im BMBF (Forschung und Lehre). Derzeit schnüren die Ministerien ihre Finanzpakete für den Bundeshaushalt. Im Bundesministerium für Wirtschaft und Forschung stehen der „Pakt für Forschung und Innovation“ und der „Zukunftsvertrag Studium und Lehre“ ganz vorne in der Prioritätenliste. Doch auch der „Digitalpakt 2“ für die Digitalisierung in der Schule ist prominent auf der Agenda. weiterlesen
THEMA IM FOKUS
[Womöglich liest sich dieser Beitrag für Sie nicht wie ein typisches Thema im Fokus. Lassen Sie sich überraschen.]
„Sind Sie sicher, dass das hier was für Sie ist?“ Na, zweifeln Sie schon daran, ob Sie diesen GI-Radar-Artikel jetzt *wirklich* lesen sollten? Oder ob es womöglich doch nichts für Sie ist, weil, warum würde ich Sie sonst fragen, ob Sie sicher sind, dass das was für Sie ist? Fühlen Sie sich schon etwas entmutigt?
Nun tauschen Sie das „Sie“ mit einem „Du“, und Sie haben eine prototypische subtile Entmutigung, die Mädchen und Frauen mit Interesse an Informatik in ihrem Lebensalltag immer wieder erleben. [Falls sich in Ihnen gerade ein „Aber, ich erlebe auch subtile Entmutigungen! Und ich bin ein Mann!“ regt, hier ein kleiner Logik101-Reminder: Ich sage nicht, dass ausschließlich Mädchen und Frauen mit Informatikinteresse subtile Entmutigungen erleben.]
Als subtile Entmutigungen bezeichne ich solche kurzen, teilweise sogar gutgemeinten und aus Fürsorge heraus entstandenen Aussagen wie: „Traust du dir das wirklich zu?“
Es ist deshalb so wichtig, dass wir uns mit subtilen Entmutigungen beschäftigen, weil sie eine entscheidende Wirkung darauf haben können, wie die Mädchen und Frauen, die sie zu hören bekommen, ihren beruflichen Lebensweg gestalten. Zum einen ist es im Sinne der Egalität schlichtweg ungerecht, dass eine Personengruppe sich nicht nur mit Themen der Informatik auseinandersetzen kann, sondern immer auch mit solchen subtilen Entmutigungen kämpfen muss. Zum anderen haben diese subtilen Entmutigungen unmittelbar einen Einfluss darauf, welche Personen in der Informatik landen und an der Gestaltung von soziotechnischen Systemen beteiligt sind. Wäre womöglich die Welt eine andere, wenn das Geschlechterverhältnis in der Informatik ein anderes wäre?
In einer Studie von acatech, der Deutschen Akademie für Technikwissenschaften, aus dem Jahr 2015, gaben fast 38% der Schülerinnen, die sich gegen eine technische Ausbildung entschieden haben, an, dass der Grund dafür Entmutigungen seien, die sie in ihrem sozialen Umfeld erlebt haben (acatech). Beispielsweise, weil ihre Eltern sicherstellen wollten, dass ihre Töchter sich *wirklich* sicher sind, eine technische Ausbildung machen zu wollen.
Solche entmutigenden Aussagen spielen nicht nur eine Rolle dabei, ob sich Mädchen für eine Karriere im MINT-Bereich entscheiden. Sie – und hier kann ich leider keine Studie vorlegen, sondern verweise auf zahlreiche Erfahrungsberichte aus meinem Umfeld sowie auf meine eigene Erfahrung – spielen auch eine erhebliche Rolle dabei, wie sich der weitere Weg im IT-Bereich gestaltet und ob Frauen darin bleiben.
Dass sich Entmutigungen durch den gesamten Karriereweg ziehen, weiß jede Informatikerin aus eigener Erfahrung. Nun haben wir auf der diesjährigen Jahrestagung der Fachgruppe Frauen und Informatik, die im April in Heidelberg stattfand, ohne große Überraschung festgestellt, dass die Entmutigungen keineswegs immer so subtil sind und waren. Statt uns wie gewohnt mit Namen und Beruf vorzustellen, haben wir uns dieses Jahr mit Namen und einer Entmutigung vorgestellt, die wir gehört oder erlebt hatten.
Einer von uns war es Ende der 80er-Jahre nicht vergönnt, ein Praktikum bei einem Unternehmen zu machen, weil es keine Damentoilette in dem Gebäude gab. Für eine Ingenieurin unter uns gab es am Arbeitsort keine Arbeitsschuhe in Größe 37. Eine andere wurde im Computerfachgeschäft ignoriert, als sie sich 1989 ihren ersten Computer kaufen wollte, einen i386. Eine weitere musste sich von ihren Kollegen aus dem Fachgebiet, in dem sie promoviert hat – immerhin gab es zwar keine Damen-, dafür aber eine Unisex-Toilette – die ersten Monate süffisante Kommentare darüber anhören, dass es jetzt einen kleinen Mülleimer auf der einen Toilette gibt. Inzwischen ist sie Professorin.
Zu Beginn waren die Hürden für Frauen, in die Informatik zu gehen, explizit, wie beispielsweise die fehlende Damentoilette. Dadurch waren sie zum Teil an-greifbar, und es konnte über die Jahre viel erreicht werden. Doch existiert auch heute noch eine Menge subtiler Hürden, die sich in den entmutigenden Aussagen des eigenen Umfeldes realisieren.
So wurde eine von uns als Schülerin bei der Berufsberatung gefragt, ob sie mal wieder den Jungs hinterhergelaufen sei, als sie am Tisch für die Beratung zu MINT-Berufen stand; sie sei hier ganz falsch, die sozialen Berufe finde sie in Raum 305. Eine andere wurde gefragt, ob sie sich das wirklich zutraut, und ihre Mutter bot ihr an, nochmal für sie mit ihrem Mathelehrer darüber zu sprechen. „Du weißt aber schon, dass das ziemlich viel Mathe ist!?“ hörte eine weitere. Auch die Frage, was die Tochter denn mit einem Mathematikstudium machen wolle, ob sie Lehrerin werden wolle, hatte eine entmutigende Wirkung auf eine unserer Teilnehmerinnen.
Hatten sie es einmal „geschafft“ und eine Informatikausbildung begonnen, hörten die Entmutigungen nicht auf: "Ich hab’ immer gedacht, du wirst was Soziales machen“, „Oh, das ist aber ganz schön technisch!“ [Falls Sie jetzt denken: „Ja, ist es ja auch!“, dann stellen Sie sich vor, jemand reagiert mit „Oh, das ist aber ganz schön pädagogisch!“ auf den Wunsch eines Lehramtsstudium. Bisschen komisch, oder?], aber auch schon ein simples „Du?!“ oder ein „Ahh, krass...“ entfaltet seine entmutigende Wirkung. Selbst aus einer solchen Reaktion hört eine Informatikstudentin vermutlich heraus, dass es für sie nicht normal sein kann, Informatik zu studieren, und es so eigentlich nicht sein sollte.
Auch in Vorlesungsräumen finden Entmutigungen statt, und auch Professoren sind schuldig im Sinne der Anklage: „Ach, hier sind ja auch Frauen dabei!“ – „Die Frauen, die stricken immer in den Vorlesungen.“ – „Sie müssen die Welt nicht retten. Sie können auch etwas anderes studieren.“ In einer Maschinenbau-Vorlesung wurden die anwesenden jungen Frauen mit Papierfliegern beworfen.
Es zieht sich weiter in Bewerbungsgespräche, wo eine von uns gefragt wurde, ob sie sich nicht fürchten würde, weil sie in der Abteilung nur Männer seien. Eine andere bekam zu hören, dass sie den Job nicht bekommt, weil sie keine Haare auf der Brust habe. [Mal ganz abgesehen davon, dass auch Frauen vereinzelte Haare auf der Brust haben, was diese Begründung auf rein semantischer Ebene entkräftigt.] Wieder einer anderen Informatik-Absolventin wurde in einem Bewerbungsgespräch angeboten, doch Assistentin zu werden, weil der Chef nicht sicher war, ob sie als junge Frau überhaupt etwas könne. Auch die vermeintlich schmeichelhafte Aussage: „Verschrecken Sie mir hier nicht die Männer, wenn Sie mehr wissen als die.“ wurde von einer unserer Teilnehmerinnen als entmutigend empfunden.
In meiner Zeit als GI-Junior Fellow, als die ich am 24. September 2024 auf dem Informatikfestival in Wiesbaden ausgezeichnet wurde, möchte ich eine Art Archiv der subtilen Entmutigungen aufbauen und befüllen lassen. Zudem fände ich es spannend, diese Entmutigungen auch zu beforschen – was sind das für Aussagen? Wodurch zeichnen sie sich aus? Lassen sie sich klassifizieren? Was lässt sich aus ihnen ableiten? Aller Entmutigung zum Trotz bin ich auch an entsprechenden Ermutigungserlebnissen interessiert. Warum sind Sie (trotzdem) in der Informatik geblieben?
Wenn Sie als Frau oder FLINTA* [FLINTA* ist ein Sammelbegriff für Personen, die durch das Patriarchat von Diskriminierung betroffen sind: Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans und agender Personen] –Person also gerade diesen Beitrag lesen, und Ihnen direkt Entmutigungserlebnisse, die Sie in ihrer MINT-Karriere erlebt haben, in den Sinn kommen, dann nutzen Sie dieses Momentum und schreiben mir Ihre Entmutigungen und potenziellen Ermutigungen an: mareike.lisker@gi.de.
Der Beitrag wurde Mareike Lisker, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin, beigesteuert. In ihrer Promotion forscht sie zu Content-Moderation auf dezentralen Plattformen. Wenn Sie der Inhalt des Beitrags anspricht und Sie sich an dem Archivierungs- bzw. Forschungsprojekt beteiligen möchten, wenden Sie sich bitte direkt an mareike.lisker@gi.de.
GI-MELDUNGEN
Klaus-Tschira-Medaille für Stuttgarter Computermuseum. Auf dem diesjährigen Informatikfestival wurde das Computermuseum der Universität Stuttgart mit der Klaus-Tschira-Medaille ausgezeichnet. Stellvertretend für das gesamte Team um das Museum nahmen Klemens Krause und Christian Corti die Auszeichnung entgegen und illustrierten in einem Vortrag, wie sie tote Computer zum Leben erwecken und der Öffentlichkeit vorstellen. weiterlesen
Vier neue Fellows. Ebenfalls auf dem Informatikfestival hat die GI vier außerordentliche Persönlichkeiten als GI-Fellows ausgezeichnet. Stefan Jänichen, Michael Koch, Frank Puppe und Gudrun Schiedermeier verstärken die Gruppe der Fellows. Unter anderem als GI-Präsident, Publikations-Fan, Schlagwort-Chef und Mädchen-Begeisterte haben die vier in der GI und außerhalb für die Sichtbarkeit der Informatik gewirkt. Wir gratulieren. weiterlesen
Schätze suchen im Schloss: der Balzert-Preis 2024. Rätsel lösen im Escape Room, sich von Raum zu Raum tasten und kryptische Zeichen entziffern: das Lernspiel "The Mystery of Crypto Castle" ist mit dem diesjährigen Helmut und Heide Balzert-Preis für digitale Didaktik ausgezeichnet worden. Es ermöglicht den spielerischen Einstieg in die Welt der Codierung und Verschlüsselung. Wir gratulieren! weiterlesen
GI-Fellow Debora Weber-Wulff bei Terra X. Ob die Erkennung psychischer Zustände, das Setzen von Cookies oder das Aufspüren von Plagiaten: GI-Fellow Debora Weber-Wulff erläutert ihre Sicht der Dinge in einer Talkrunde mit Harald Lesch, Jasmina Neudecker, Björn Ommer und Björn Schuller. weiterlesen
Kennen Sie eigentlich den GI-Pressespiegel? Dort sammeln wir die Berichterstattung über unsere Fachgesellschaft in Zeitungs-, Radio- und Fernsehbeiträgen. Schauen Sie rein, es gibt da immer wieder Neues oder auch ältere Fundstücke.
FUNDSTÜCK
The Secret Inside One Million Checkboxes. In Ausgabe 361 hatten wir Ihnen im GI-Radar an dieser Stelle die Webseite 1 Million Checkboxes vorgestellt: Eine Webseite, auf der man Häkchen setzen konnte. Der Clou: Alle sahen das Gleiche und Änderungen wurden live für alle Besucherinnen und Besuchern synchronisiert. Der Betreiber dieses Kunstprojekts berichtet nun in einem anschaulichen Beitrag darüber, wie er eine überraschende Kuriosität im Nutzungsverhalten entdeckt hat, die etwas mit der geschickten Kodierung von Informationen zu tun hat. Ein gutes Beispiel dafür, wie wenig es braucht, damit sich informatische Kreativität entfalten kann. Davon wollen wir mehr sehen! Zum Fundstück (eieio.games)
Welches Fundstück hat Sie zuletzt inspiriert? Senden Sie uns Ihre Ideen!
Dies war Ausgabe 365 des GI-Radars vom 04.10.2024. Zusammengestellt hat diese Ausgabe Dominik Herrmann, der weder bestätigen noch dementieren kann, dass in den Zwischenräumen zwischen den Wörtern dieser Ausgabe eine geheime Nachricht versteckt ist. GI-Geschäftsführerin Cornelia Winter hat die Mitteilungen und Meldungen zusammengetragen. Das nächste Radar erscheint am 18. Oktober.
Im GI-Radar berichten wir alle zwei Wochen über ausgewählte Informatik-Themen. Wir sind sehr an Ihrer Meinung interessiert. Für Anregungen und Kritik haben wir ein offenes Ohr, entweder per E-Mail (redaktion@gi-radar.de) oder über das Feedback-Formular bei SurveyMonkey. Links und Texte können Sie uns auch via X unter @informatikradar zukommen lassen.
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