«Wir haben keine andere Wahl»: Tuvalu überträgt seine Existenz ins Metaversum

Bis zum Ende des Jahrhunderts dürften weite Teile des Pazifikstaats Tuvalu unbewohnbar werden. Die Regierung will nun eine virtuelle Replika der Nation erstellen, «um unsere Kinder und Enkelkinder daran zu erinnern, wie unsere Heimat einst war».

Gioia da Silva
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Maximal 4,6 Meter über Meer und vom Untergang bedroht: eine Insel von Tuvalu im Pazifik.

Maximal 4,6 Meter über Meer und vom Untergang bedroht: eine Insel von Tuvalu im Pazifik.

Mario Tama / Getty Images AsiaPac

Simon Kofe, der Aussenminister des Inselstaats Tuvalu, steht am Strand und blickt ernst in die Kamera. «Während unser Land verschwindet, haben wir keine andere Wahl, als die erste digitale Nation der Welt zu werden», sagt er. Es ist eine Videoansprache seiner Regierung zur Klimakonferenz COP27.

In Tuvalu ist es selten kälter als 28 Grad, trotzdem trägt Kofe Anzug und Krawatte. Die Insel, auf der er steht, heisst Teafualiku. Sie dürfte eine der ersten sein, die wegen des steigenden Meeresspiegels untergehen. Kofe hat eingesehen, dass er dies nicht mehr verhindern kann. Deswegen sucht er nun nach Wegen, das Unausweichliche erträglicher zu machen.

«Um unser Land, unsere Kultur und damit die wertvollsten Güter unseres Volkes zu bewahren, werden wir sie in die Cloud verlagern», sagt Kofe. «Stück für Stück» werde man die Inselgruppe in einer virtuellen Realität nachbauen, «um den Menschen Trost zu spenden und um unsere Kinder und Enkelkinder daran zu erinnern, wie unsere Heimat einst war».

Dann zoomt die Kamera aus und zeigt den Staatsmann, wie er auf einer scheinbar virtuellen Insel steht, der Sand ist weiss, das Wasser türkis, der Himmel schwarz. Nur globale Bemühungen könnten sicherstellen, dass Tuvalu nicht «dauerhaft online» gehen müsse und «für immer von der physischen Ebene verschwindet», sagt Kofe aus dem Off.

Es ist nicht die erste dramatische Videoansprache aus dem Archipel. Vergangenes Jahr stand Kofe für eine Rede rund um den Klimagipfel COP26 knietief im Meer und forderte «mutige Massnahmen, um das Morgen zu sichern». Das habe nichts geholfen, sagt Kofe. Deshalb gehe sein Land nun gezwungenermassen den Weg ins Metaversum.

Cleveres Marketing für einen armen Kleinstaat

Tuvalu gehört zu den Ländern, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Schon heute werden regelmässig bis zu 40 Prozent der Hauptinsel überflutet. Da der höchste Punkt des Staates bei 4,6 Metern über Meer liegt und Forschende des Weltklimarats prognostizieren, dass die Ozeane bis zum Ende des Jahrhunderts um zwischen 28 und 101 Zentimeter ansteigen, dürften in den kommenden Jahrzehnten weite Teile der Inselgruppe unbewohnbar werden.

Der Meeresspiegel steigt

Wie stark sich der Ozean hebt, hängt stark vom Szenario ab (Anstieg bis 2100 in Zentimetern, verglichen mit dem Zeitraum 1995–2014)
Mindestens
Höchstens

Ob es sich bei den Metaversumsplänen von Kofe aber um mehr als gekonnte Klima-PR handelt, muss die Regierung von Tuvalu nun zeigen. Bisher hat sich noch kein Land komplett in der virtuellen Realität abgebildet. Selbst im Fall von Tuvalu, dem viertkleinsten Land der Welt, wären dafür grosse Anstrengungen nötig, schliesslich besteht der Staat aus 124 Inseln. Tuvalu würde für das Vorhaben also ein grosses Budget brauchen.

Allerdings ist das Land bitterarm. Weil es kaum Touristinnen und Touristen anzieht, gehört es zu den am wenigsten entwickelten Inselgruppen des Pazifiks. Landwirtschaft und Fischerei bilden die Grundpfeiler der Wirtschaft, doch beide Branchen sind in einer Krise: Die Fischerei, weil die Temperatur der Meere steigt und die Fische in Gewässer abwandern, die weiter weg von den Küsten liegen. Die Landwirtschaft, weil der steigende Meeresspiegel Anbauflächen versalzt und immer häufiger auftretende Wirbelstürme Ernten zerstören.

Sympathiepunkte für die Entwicklungshilfe?

Damit ist anzunehmen, dass sich nur die wenigsten der rund 11 000 Einwohnerinnen und Einwohner von Tuvalu mit dem Metaversum beschäftigen. Konkrete Erklärungen, wie man sich den Transfer in die virtuelle Realität vorstellt, bleibt die Regierung schuldig, zumal es das Metaversum als übergreifende Plattform noch gar nicht gibt.

Dass es sich bei den jüngsten Versprechungen der Regierung also eher um cleveres Campaigning als um einen handfesten Plan handelt, zeigt auch eine Website, die mit dem Projekt verbunden ist. Von dort können Interessierte mit wenigen Klicks standardisierte E-Mails an die Umweltverantwortlichen ihrer Landesregierungen schicken, mit der Bitte, Tuvalu zu retten.

Das soll wohl nicht nur Regierungen weltweit auf den Klimawandel aufmerksam machen, sondern auch Sympathien für den Kleinstaat wecken. Obwohl auf dem Archipel nur etwa so viele Personen wohnen wie im Schweizer Bergstädtchen Davos, erhält Tuvalu laut der Weltbank internationale Entwicklungshilfe in der Höhe von rund 42 Millionen Dollar.

Das zeigt: Mit den Plänen für das Metaversum verhält sich die Regierung zu ihrer Bevölkerung so wie die Weltgemeinschaft sich zu dem Inselstaat: Man gibt zwar Unterstützung – aber nicht jene, die die Betroffenen tatsächlich brauchen.

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