Die sozialen Medien stehen in der Kritik. Sie spülen Ressentiments und Hass nach oben. Gegen Falschnachrichten, die zum Klimawandel oder zu Covid-19 auf den Plattformen grassieren, wird zu wenig unternommen. Sie stehen in Verdacht, Ängste oder Depressionen zu verstärken. Sind die Plattformen schlecht für Menschen und Gesellschaft – oder lassen sie sich zu einem besseren Ort machen? Wir haben drei Digitalexpertinnen und -experten gefragt.

Was ist aus Ihrer Sicht das zentrale Problem heutiger sozialer Medien?

Christian Stöcker: Wir wissen genau, dass Inhalte, die Leute wütend machen, besonders geeignet sind, um Interaktionen anzustoßen, also Aufmerksamkeit zu binden. Diese Aufmerksamkeit monetarisieren soziale Medien. Die Inhalte kommen aus einem gigantischen Pool, den Millionen Profis, Semiprofis und Laien permanent weiter befüllen und für den es so gut wie keine Qualitätskontrolle gibt. Das erzeugt zwar zwangsläufig Kollateralschäden, wird von den Optimierungssystemen der sozialen Medien aber nach oben geschoben. 

Julia Ebner: Die zunehmende Hyperpolarisierung unserer Gesellschaft hetzt Menschen gegeneinander auf, mischt rationale mit emotionalen Interaktionen und erzeugt gefährliche, exklusive Gruppenidentitäten. Hatespeech, Radikalisierung und Desinformation in den sozialen Medien sind Nebenprodukte dieser Dynamik.

Christian Montag: Das Geschäftsmodell der sozialen Medien verträgt sich nicht mit dem Grundgedanken von Privatsphäre und sparsamen Datensammeln. Stattdessen motiviert es die Plattformbetreibenden, die sozialen Medien so weiterzuentwickeln, dass sich unsere Onlinezeit immer weiter verlängert und unser digitaler Fußabdruck sich zunehmend vergrößert. In der Wissenschaft wird auch darüber diskutiert, inwieweit soziale Medien süchtig machen können. Allerdings ist der Sucht-Begriff in diesem Kontext noch umstritten.

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Was müsste sich an sozialen Medien ändern?

Christian Stöcker: Ändert man die Optimierungsziele – was eine alles andere als triviale Aufgabe ist – könnte das dafür sorgen, dass Empfehlungssysteme nicht mehr den aufmerksamkeitsträchtigsten Schrott nach oben spülen. Wie gut Algorithmen funktionieren können, wenn der Pool nicht aus allem besteht, was irgendjemand mal ins Netz gestellt hat, sondern aus vorsortierten Inhalten, sieht man beispielsweise bei Video- und zum Teil auch bei Musikstreamingdiensten. 

Julia Ebner: Es müsste neue Formen der Vernetzung geben, die konservative mit progressiven Nutzern zusammenbringen, beispielsweise basierend auf gemeinsamen Hobbys oder Interessen. Menschen werden heute zunehmend auf ihre politische Einstellung reduziert. Wir müssen Wege finden, um diese Entwicklung zu reversieren und die Menschlichkeit wieder in den Mittelpunkt zu stellen.

Christian Montag: Die Probleme der sozialen Medien gehen meines Erachtens auf ihr Datengeschäftsmodell zurück. Ich bin davon überzeugt, dass das Prinzip Daten im Austausch gegen Nutzungsrechte stark überholungsbedürftig ist.

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Wie sieht Ihr soziales Wunschmedium aus?

Christian Stöcker: Mein Wunschmedium würde mir transparent erklären, warum es mir bestimmte Inhalte zeigt und erwiesenermaßen falsche, Hass fördernde, justiziable und andere unerfreuliche Hinweise mit einer möglichst geringen Reichweite strafen. Und es hätte ein Publikum, das sich der Tatsache bewusst ist, dass es an einem gemeinsamen Werk arbeitet, was ein gewisses Verantwortungsgefühl mit sich bringt. Noch fehlt nämlich eine Etikette im Umgang mit sozialen Medien. Was ein soziales Wunschmedium außerdem unbedingt leisten sollte: Es muss sich der wissenschaftlichen Forschung so weit wie möglich öffnen.

Julia Ebner: Es gäbe eine Rehumanisierung des Onlineraums und ein Durchbrechen des falschen Online-Offline-Dualismus. Nutzer wären sich der realen Konsequenzen von Hassposts bewusst. Diskussionen würden deutlich zivilisierter und respektvoller ablaufen.

Christian Montag: Ich hoffe, dass die Zukunft der sozialen Netzwerke vor allem darauf abzielt, dass das menschliche Grundbedürfnis nach sozialem Austausch befriedigt werden kann. Kurzum, dass das "sozial" in soziale Medien endlich wieder stärker betont wird. Mein Wunschmedium sollte die Privatsphäre der Nutzenden achten, dezentral wie das Fediverse sein und natürlich trotzdem Spaß machen (ohne dabei sinnlos Onlinezeiten zu verlängern). Und es sollte Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen ermöglichen, empirisch das Wohlbefinden der Nutzenden überprüfen zu können.

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Welche Netzwerke gehen vielleicht schon heute in die Richtung, die Sie anvisieren?

Christian Stöcker: Je größer ein Netzwerk ist, desto mehr bricht sich tendenziell auch die Unhöflichkeit und weit Schlimmeres Bahn. Kleinere, unter Umständen sogar themenspezifische Communitys sind oft weniger toxisch – das gilt allerdings nicht immer. Mastodon kommt im Moment ohne algorithmische Kuratierung aus. Das funktioniert aber nur, weil die Masse der Inhalte noch nicht so gigantisch ist wie bei Twitter, Facebook, Instagram, YouTube, TikTok. Irgendwann kommt man um die maschinelle Sortierung nicht mehr herum. Insofern hat so ein dezentrales System wie Mastodon einen gewissen Charme: Da wird jetzt so etwas möglich wie ein dezentraler Wettbewerb von algorithmischen Sortiersystemen, die nicht rein kommerziell motiviert sind.

Julia Ebner: Wikipedia und LinkedIn erfüllen zwar sehr spezielle Funktionen im Onlineökosystem, sind aber exzellente Beispiele dafür, dass Kommunikation und Wissensvermittlung im virtuellen Raum auch friedlich und faktenbasiert passieren kann. Es kursieren deutlich weniger extreme Inhalte, hassvolle Kommentare oder willkürliche Falschinformationen. LinkedIn hat in den vergangenen Jahren seinen Nutzern die Einstellung no politics angeboten. Das Resultat: Die politische Polarisierung ist dort deutlich weniger präsent als auf anderen Plattformen.

Christian Montag: Interessante und ausgereifte Alternativen sind immer noch selten. Mastodon ist momentan in aller Munde. Ob das Netzwerk wirklich eine dauerhafte Alternative ist, wird sich noch zeigen. Eine datensparsame Kommunikationsplattform stellt meines Erachtens auch Marco Polo dar, die hierzulande aber eher unbekannt ist und zum Teil auch auf einem Abobezahlmodell beruht.

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Was wünschen Sie sich von der Politik?

Christian Stöcker: Die Politik muss weiter Druck ausüben, damit unabhängige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Zugang zu den großen Plattformen bekommen. Außerdem braucht es Aufsichtsgremien, idealerweise nicht staatlich, aber öffentlich finanziert, die ausreichend ausgestattet sind, die schlimmsten Auswüchse schnell zu erkennen und die Betreiber über privilegierte Zugänge darauf hinzuweisen. Und die Politik darf alternative, nicht kommerzielle Modelle wie Mastodon nicht verhungern lassen. Ein Beispiel: Hochschulen waren die ersten und lange die einzigen, die E-Mail-Server betrieben haben, natürlich ohne kommerziellen Hintergrund. Warum sollten sie das nicht auch mit Mastodon-Instanzen oder vergleichbaren Plattformen tun?

Julia Ebner: Obwohl Meta und Google in den letzten Jahren signifikante Fortschritte beim Entfernen von gewalt- und hassvollen Inhalten gemacht haben, ist es leider nach wie vor so, dass man selbst bei Themen, die nur ansatzweise politisch sind, zunehmend radikalere Inhalte angezeigt bekommt. Da muss die Politik mehr Druck machen, was die algorithmische Infrastruktur der großen Techplattformen angeht. Außerdem sollte die Politik die kleineren, teilweise deutlich extremeren, Plattformen ins Auge fassen.

Christian Montag: Die Politik muss mehrere Themen begleiten und anstoßen, etwa dass Nutzende von sozialen Netzwerken über die jeweiligen Plattformen hinweg kommunizieren können. Wir können uns ja auch von unterschiedlichen Telefonanbietern gegenseitig anrufen. Außerdem muss es möglich sein, problemlos mit unseren Daten von einer Plattform zur nächsten Plattform umzuziehen. Die Schnittstellen zu den Plattformen müssen für unabhängige Forschende geöffnet werden, damit wir verstehen, was momentan in einigen sozialen Medien passiert. Das ist leider aktuell häufig nicht der Fall. Die sozialen Netzwerke stellen in vielerlei Hinsicht noch immer eine Blackbox dar.

ZEIT ONLINE hat die drei Experten um schriftliche Antworten gebeten, die wir hier in leichter gekürzter Form veröffentlichen.

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