Erklärt

Back to school: Klingelt die Pausenglocke, greifen die Schüler zum Handy - Was können Eltern tun, damit Kinder einen gesunden Umgang mit den sozialen Netzwerken erlernen?

Die wichtigsten Antworten aus Sicht der Entwicklungs- und Medienpsychologie.

Eveline Geiser 6 min
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Sich in sozialen Netzwerken zu bewegen, will gelernt sein. Mädchen tippen auf ihren Smartphones.

Sich in sozialen Netzwerken zu bewegen, will gelernt sein. Mädchen tippen auf ihren Smartphones.

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Viele Jugendliche beginnen das neue Schuljahr erstmals mit einem eigenen Smartphone in der Tasche und können nun immer und überall Inhalte auf Instagram, Snapchat oder Tiktok konsumieren und teilen. Denn in der Schweiz haben Kinder im Durchschnitt ab dem Alter von elf Jahren ein eigenes Smartphone.

Was das bedeutet, bringen Fachleute und Wissenschafter in einem Satz auf den Punkt: Der Umgang mit sozialen Netzwerken muss erlernt werden wie das «Schwimmen im Meer». Für Eltern bedeutet dies, dass Instruktion genauso dazugehört wie das begleitete, schrittweise Entdecken, bis der Jugendliche sich selbständig in dieser Umgebung bewegen kann.

Soll ich die Nutzung des Smartphones begrenzen?

Die Art und Weise, wie das Smartphone und damit die sozialen Netzwerke genutzt werden, unterscheidet sich zwischen den Jugendlichen stark. Eine optimale oder maximale Nutzungsdauer gibt es daher nicht. Wichtiger ist es, dass die Jugendlichen die «Risiken und Nebenwirkungen» sozialer Netzwerke kennen.

Die in Bern tätige Psychologin Ronia Schiftan berät Jugendliche auch im Umgang mit sozialen Netzwerken. Auch in ihrer Beratung dreht sich das Gespräch weniger um die Nutzungsdauer als vielmehr um den gesunden Umgang mit den Medien. Sie spricht in diesem Zusammenhang von «protective filtering» – oder auch von Achtsamkeit. Den Jugendlichen soll bewusst sein, welche Medien sie nutzen, welche Nachrichten oder Push-Mitteilungen sie erhalten wollen und – vor allem – was ihnen guttut und was nicht.

Ein zweiter Fokus ihrer Beratung liegt auf der Entspannung. «Jugendliche konsumieren die ‹ganze Welt› bis kurz vor dem Zubettgehen», sagt Schiftan. Das führe nicht selten zu einer starken körperlichen Anspannung und Stress. Sie spricht daher mit ihren jungen Klienten über grundlegende Prinzipien des Gesundheitsverhaltens: genügend Bewegung und ausgewogene Ernährung beispielsweise.

Gängige Empfehlungen, die sich auf wissenschaftliche Studien abstützen, sagen vor allem eines: Bildschirmzeit während des Essens und vor dem Zubettgehen ist suboptimal. Oft geht die lange Aktivität auf sozialen Netzwerken mit zu wenig Schlaf einher. Und dies führt langfristig zu einer grossen psychischen Belastung und kann gar eine psychische Erkrankung auslösen. Dies zeigte beispielsweise eine Studie an über 12 000 Jugendlichen in den USA.

Soll mein Kind das Smartphone in die Schule mitnehmen?

Viele Schulen diskutieren derzeit, ob die Nutzung von Smartphones eingeschränkt werden soll. Was dies bewirken könnte, dazu gibt es noch wenige Studien. Doch diese zeigen, dass das Schulklima profitieren kann. In Spanien etwa berichteten Schüler nach einem Verbot von Smartphones an der Schule von weniger Mobbing. Und an Schulen in England verbesserte sich die Lernleistung vor allem der schwächeren Schüler, nachdem Smartphones von der Schule verbannt worden waren, wie eine Analyse der London School of Economics zeigte.

Entwicklungspsychologen erklären diese Befunde folgendermassen: Die Selbstregulationsfähigkeit der Teenager ist noch nicht voll ausgereift. Liegt also das Smartphone in den Pausen griffbereit oder gar während der Arbeit auf dem Tisch, können viele Jugendliche kaum widerstehen, immer wieder einen Blick darauf zu werfen.

Die Ablenkung vom Schulstoff ist das eine. Das andere ist die mangelnde Erholung in den Pausen. Denn viele Jugendliche denken, das Scrollen auf dem Bildschirm in der Pause diene auch der Entspannung. Doch auch das Gegenteil kann der Fall sein: Die Schüler werden mit Informationen bombardiert, und es stehen im Sekundentakt Entscheidungen an: Drücke ich auf den Link? Antworte ich? Was halte ich davon? Jede Entscheidung kostet Energie. So sind die Schüler nach der Pause nicht erholt, sondern erst recht reif für eine Pause.

Hier hilft nur, die Jugendlichen aufzuklären. Konkret könnten sie sich drei Fragen stellen, bevor sie zum Handy greifen: Wozu gucke ich aufs Handy? Warum gerade jetzt? Was könnte ich sonst tun in diesem Moment?

Wo liegen die Gefahren und Herausforderungen im Umgang mit sozialen Netzwerken?

Aus psychologischer Sicht wirken soziale Netzwerke als eine Art Verstärker. Im Vergleich zu einer persönlichen Interaktion von Angesicht zu Angesicht werden Meinungen schneller und ungefiltert mitgeteilt und durch weitere Mitglieder des Netzwerks beurteilt und verstärkt.

Auch ohne digitale Medien ist eine der grössten Herausforderungen von Jugendlichen die Interaktion mit ihrem sozialen Umfeld. Die sozialen Netzwerke akzentuieren Erfahrungen, die zur Identitätsentwicklung gehören – etwa die Erfahrung von sozialer Akzeptanz und Ausgrenzung –, noch zusätzlich.

Denn aufgrund der digitalen Netzwerken finden diese Prozesse nicht mehr nur in der Schule und bei Freizeitaktivitäten statt. «Mit dem Smartphone nehmen die Jugendlichen ‹die Welt› mit ins Bett», sagt Schiftan. Anders als früher können sie sich nicht erholen, wenn sie zu Hause die Tür hinter sich schliessen.

Welche weiteren Herausforderungen in den sozialen Netzwerken liegen, ist individuell sehr unterschiedlich. Für einige sind es die vorhandenen Normen, beispielsweise das als ideal dargestellte Körperbild, die am Selbstbewusstsein nagen.

Anderen fällt es schwer, Falschinformationen in ihrer eigenen «Bubble» zu erkennen und einzuordnen. So finden sich beispielsweise in den sozialen Netzwerken «Pro Bulimie»-Bewegungen, die Jugendliche mit Essstörungen darin bestärken, dass sie nicht krank seien.

Muss ich mir über Onlinesucht Gedanken machen?

Hinter dieser Frage steht oft die Beobachtung, dass Jugendliche das Smartphone exzessiv nutzen. Doch suchtgefährdet sind die wenigsten Jugendlichen. Dies bestätigt unter anderem Michael Rich, der als Kinderarzt an der Harvard Medical School tätig ist.

So lange nutzen Jugendliche (12 bis 19 Jahre) in der Schweiz ihr Smartphone

Statistische Nutzungsdauer pro Tag in Stunden
Durchschnittlich
Median (am häufigsten genannte Zahl)

Meist sei die masslose Nutzung sozialer Netzwerke eine Folge von einem anderen Problem: von sozialen Ängsten oder von Entwicklungsstörungen, etwa der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung (AD(H)S). Diese Probleme werden in einer Therapie denn auch behandelt.

Wie häufig nutzen Jugendliche in der Schweiz soziale Netzwerke?

Täglich oder mehrmals pro Woche (Statistik in Prozent)

Welche Kompetenzen müssen Jugendliche im Umgang mit sozialen Netzwerken erwerben?

Um sich kompetent in den sozialen Netzwerken zu bewegen, müssen Jugendliche verstehen, wie diese funktionieren. Dazu gehört beispielsweise, wie man jemandem «entfolgen» kann, diese Person also für sich selber «stumm schaltet».

Zur dieser sogenannten Medienkompetenz gehört auch, zu begreifen, wie die Plattformen und vor allem die Algorithmen dahinter arbeiten. Kurz: Man muss das Geschäftsmodell hinter diesen Plattformen verstehen.

Herausforderungen, wie sie die sozialen Netzwerke für Jugendliche sind, fordern auch ganz grundsätzliche Lebenskompetenzen, also psychische Fähigkeiten, die ein Mensch braucht, um sich gesund durch das Leben zu bewegen.

Dazu gehört es, die eigenen Emotionen wahrzunehmen, zu verstehen und gegebenenfalls Bewältigungsstrategien zu entwickeln. Aber auch das Verständnis, was das eigene Handeln bei anderen Menschen auslösen kann. Diese Fähigkeiten erwerben die Jugendlichen erst im Laufe ihrer Entwicklung.

Psychologen betonen heute weltweit, wie wichtig diese Lebenskompetenzen für Jugendliche sind. Die WHO forderte jüngst, dass sie Teil des schulischen Curriculums sein sollten.

Wie kann ich meinen Sohn, meine Tochter begleiten?

Entscheidend ist der Moment, wenn Jugendliche ein eigenes Smartphone erhalten. «Das Alter zwischen acht und dreizehn ist besonders zentral, weil sich die Welt des Jugendlichen noch weiter öffnet», sagt Yvonne Haldimann. Sie betreut in der Schweiz die vom Bund finanzierte Plattform Jugend und Medien, die für Eltern und Lehrpersonen Informationsmaterial zum Thema bereitstellt.

Das Wichtigste sei, dass Eltern sich für die Jugendlichen und ihr Leben interessierten – und mit ihnen das Gespräch suchten. So können Eltern erkennen, wie sich das Kind in sozialen Netzwerken verhält, und als Ansprechperson zur Verfügung stehen.

Dass sich das elterliche Engagement lohnen kann, zeigt auch eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Jugendliche in der Schweiz nutzen das Internet weniger lange pro Woche und machen dort weniger negative Erfahrungen, wenn sie sich von den Eltern unterstützt fühlen.

«Doch Medienbildung beginnt nicht mit dem ersten Smartphone», sagt Yvonne Haldimann. Schon früher, wenn ein Kind zum ersten Mal digitale Inhalte sieht, können die Eltern ihm beispielsweise erklären, wer ein Video erstellt hat, warum er das tut und wie das Video entstanden ist. So lernt das Kind schrittweise, digitale Inhalte kritisch zu beurteilen.

Muss ich meinen Sohn anders unterstützen als meine Tochter?

Tatsächlich scheinen Buben und Mädchen anders gefordert zu sein. Was Fachleute in der Praxis beobachteten, wurde kürzlich durch eine Studie der Universität Cambridge bestätigt. Es ist die erste Studie ihrer Art.

Die Forscher interessierten sich dafür, wie sich die Dauer der Nutzung sozialer Netzwerke auf die Lebenszufriedenheit im darauffolgenden Jahr auswirkt. Dazu analysierten sie Daten von über 17 000 Jugendlichen und schlüsselten sie nach einzelnen Lebensjahren zwischen zehn und einundzwanzig auf.

Ein Zusammenhang war nicht in allen Altersgruppen statistisch fassbar. Bei Buben wirkte sich die Aktivität in sozialen Netzwerken im Alter von vierzehn bis fünfzehn Jahren auf die Lebenszufriedenheit aus – und zwar negativ.

Bei Mädchen war das viel früher der Fall: schon im Alter von elf bis dreizehn Jahren und dann wieder mit neunzehn Jahren. Und bei ihnen führte die schlechtere Lebenszufriedenheit wiederum zu einer verstärkten Nutzung sozialer Netzwerke.

Die Autoren der Studie schliesst daraus: «Der Beginn der Pubertät könnte bei Mädchen eine sensible Phase sein. Dann sollten Eltern ihre Kinder bei der Nutzung sozialer Netzwerke begleiten.»

Eine frühere Version dieses Textes wurde am 6. Mai 2023 online publiziert