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Blogbeitrag

Benutzungsschnittstellen: Es braucht ein Regelwerk

Einkaufen, Onlinebanking, Zugang zur Krankenkasse und Versicherungen: Die meisten Dienstleistungen sind mittlerweile auch oder ausschließlich im Netz verfügbar. Allerdings ist der Zugang immer wieder anders geregelt und stellt manche mitunter vor Schwierigkeiten. GI-Fellow Peter Mertens berichtet von seinen Erfahrungen und schlägt vor, einen „Code of Conduct“ zur Entwicklung von Benutzungsschnittstellen zu entwerfen. 

Problemlage. Die ersten IT-Systeme wurden für Fachleute, z. B. aus der Informatik, der Mathematik, den Ingenieur- oder Naturwissenschaften als Benutzende geschaffen. Bald folgten die ersten Konzepte für Wirtschaftsunternehmen und später für die Öffentliche Verwaltung. Seit einigen Jahren erleben wir zunehmend die Befassung von Privatpersonen in unterschiedlichen Rollen, etwa als Lernende, Patientinnen, Bürger, die gesetzliche Aufgaben erfüllen, z. B. Berechnung und Zahlung von Abgaben, Versicherungsnehmer, Sparerinnen. Eine andere Funktion ist die Informationsbeschaffung in der Literatur (Zeitungen oder Zeitschriften) oder die Suche nach Angeboten für Nahrungsmittel oder Haushaltsgeräte.

Diese Personen haben sehr oft kein Wissen in Informationstechnik, das es ihnen erlauben würde, mit den Darstellungen im Internet in professioneller Weise umzugehen. Zu unterscheiden sind im Gesamtspektrum:

1. Laiinnen und Laien ohne systematische IT-Schulung und ohne Zugang zu Unterstützenden (Verwandte, Schulkameraden, Studienkolleginnen, hilfreiche Freunde, Arbeitskollegen)

2. Wie 1., jedoch mit Möglichkeiten, in ihrer betrieblichen Umgebung beraten zu werden, z.B. durch Mitarbeitende einer IT-Stabsstelle im Unternehmen

3. Menschen mit breit angelegten Informatikkenntnissen 

4. Hauptberuflich arbeitende Personen in der Systementwicklung und Programmierung

Zwischen den Personenkreisen 1. und 2. einerseits und 3. und 4. andererseits besteht eine Kluft insoweit, als Informatikerinnen und Informatiker sehr früh während ihrer Ausbildung den Umgang mit Komplexität lernen und üben oder dass sich nur Personen für einen einschlägigen Beruf entscheiden, die von vornherein Freude an komplexen Problemen und deren Bewältigung haben und sich daher oft nicht in die Lage derjenigen hineinversetzen können, die diesen Zugang nicht haben. In der US-Literatur erscheint häufig der Begriff „digital divide“ (das Begriffsverständnis ist noch nicht gefestigt). Dem viel zitierten US-amerikanischen Blogger Matt Might wird der Spruch zugeschrieben: „The problem is that programmers write code for other programmers or – worse – for themselves“. 

Diese Spaltung wird noch dadurch verschärft, dass die „Philosophie“ der agilen Systementwicklung und Programmierung gelehrt und praktiziert wird. Im Grunde wird der Geschwindigkeit Priorität vor der Gründlichkeit verliehen, denn eventuelle Fehler können ja angeblich mit der nächsten Version (Update, Release) leicht beseitigt werden. 

Vorschlag für ein Regelwerk. Es liegt nahe, ein kleines Regelwerk mit Empfehlungen zu verfassen, welches professionelle Organisationsspezialisten, Systementwicklerinnen und Programmierer anhalten sollte, die eventuellen Probleme der obigen Gruppen 1 und 2 in ihre Überlegungen einzubeziehen. Vorbilder hat man bei Berufen, die unmittelbar „am Menschen arbeiten“, wie Ärztinnen, Polizisten, Rettungshelfer, Stewardessen. Diese werden „vorbeugend“ für Situationen geschult, in denen sie sensibel mit Laien umgehen müssen. 

Unter Benutzungsschnittstellen sollen hier nicht nur Details der Oberfläche am Bildschirm, z. B. die Abwägung zwischen Textpassagen und Grafiken, verstanden werden. Vielmehr geht es auch um „ergänzende Kommunikationselemente“ zwischen den Lieferanten von Informationen und den Adressierten. Ein Beispiel sind Telefonaktionen zwischen Fachleuten und Ratsuchenden nach einer Systemumstellung oder nach Pannen, die die Nutzenden mit komplizierten und/oder gefährlichen Maßnahmen oder gar Ängsten konfrontieren (siehe das Beispiel 1 unten). 

Ein solches Regelwerk könnte so aussehen: 

1. Die Schnittstelle ist nicht nur für IT-Fachleute wichtig, sondern auch für relative Laien, z. B. ältere Personen, für Menschen mit wenig Zeit, z. B. hochbelastete Fach- und Führungskräfte, oder Personen, die sich sehr auf ihre Hauptaufgabe konzentrieren müssen und nur einen kurzen Blick auf einen Bildschirm werfen dürfen, etwa Pilotinnen und Piloten.

2. Nur ein Bruchteil der Nutzerinnen und Nutzer hat guten Zugang zu Helfenden, z. B. Schulkameraden, Studienkolleginnen, jüngere Verwandte, Berater der betrieblichen IT-Abteilung. Mitarbeitende in der Telefonberatung („Hotline“) stehen oft unter erheblicher Belastung und haben lange Warteschlangen abzuarbeiten. 

3. Irritieren Sie nicht Ihre Adressaten, wenn Sie ihnen eine komplizierte Prozedur zumuten müssen, mit werblichen bzw. verniedlichenden Aussagen wie „Es ist alles ganz einfach“ oder Umbenennungen wie „Login“ in „Komfort-Login“ (Bank). Auch den durchschnittlichen Benutzerinnen und Benutzern meist nicht bekannte Spezialbegriffe („termini technici“, Jargon) sollten vermieden werden (s. Beispiel 3 unten). 

4. Der „Lebenszyklus“ einer Benutzungsoberfläche soll hinreichend lang sein. In kurzen Abständen erscheinende Mitteilungen der Art „Wir haben unser System in Ihrem Interesse nochmals optimiert“ sind nicht nur semantisch fragwürdig (ein Optimum kann man nicht optimieren), sondern mögen als Verhöhnung empfunden werden (Spottwort: „Bananensoftware, reift beim Kunden“).

5. Nachträgliche Verbesserungen fehlerhaft ausgelieferter Software können beim Partner erhebliche Ladekosten verursachen.  

6. Eine große Zahl von Varianten und die Auswahl zwischen diesen bedingen das konzentrierte Studium besonders langer Benutzungsanleitungen (sofern überhaupt mitgeliefert) sowie die Befassung mit vielen Parametern, die zudem oft in komplizierten Wechselwirkungen stehen, den Einarbeitungsaufwand erhöhen und zu Fehlerquellen werden. Hilfreich ist eine gut gegliederte Übersicht der Auswahlentscheidungen, die die Benutzerinnen und Benutzer bei der Einstellung der Schnittstellen treffen müssen. Hierbei sollten obligatorische und freiwillige Einstellungen unterschieden werden. 

7. Die vor der Freigabe eingeschalteten Test-Teams müssen für die potenziellen Käuferinnen und Käufer repräsentativ sein. Beipackzettel zu Medikamenten werden auch nicht nur von Ärztinnen und Apothekern getestet, neue PKW nicht nur von deren Konstrukteuren oder im Extremfall von Piloten der Formel 1. Zuweilen mag es zweckmäßig sein, professionelle Testerinnen und Tester einzuschalten. 

8. Eine gewisse unternehmens- oder gar landesweite Vereinheitlichung häufiger Begriffe beim Aufruf einer Benutzungsoberfläche, wie z. B. „Anmeldename“, „Benutzername“, „Zugangscode“, „Kennwort“, „Kundenkennwort“, „Internet-Kennwort“, „Kenncode“, „ID“, „Identitätsschlüssel“, „Passwort“, „PIN“, reduziert Verwechslungen, wenn die Benutzerin es mit mehreren Korrespondenzpartnern (Versicherungen, Banken, Einzelhändlern, Verkehrsbetrieben, Vereinen …) zu tun hat. 

9. Sind, z. B. wegen eines Programmierfehlers, bei einer Umstellung Pannen passiert, so müssen Auskunftspersonen in vertretbarer Zeit telefonisch oder physisch erreichbar sein, bevor Empfänger von automatisch generierten Warnmeldungen in große Sorgen oder gar in Panik geraten. Daher sind Änderungen an einem Freitagabend nicht opportun (s. unten Beispiel 1). Analoges gilt für Umstellungen in Urlaubsperioden.

10. Sind Ausfälle eingetreten, z. B. als Folge von „Cybercrime“, die eine sehr große Zahl von Benutzerinnen und Benutzern treffen, etwa alle Abonnentinnen und Abonnenten einer „digitalen“ Zeitung, so probieren die Betroffenen oft lange, ob sie selbst etwas falsch gemacht haben und/oder etwas modifizieren müssen. Dadurch können schwer zu behebende Folgefehler eintreten. Hier ist abzuwägen, ob die Störung frühzeitig durch automatische Ansagen bei Telefoneinwahl (sonst evtl. unzumutbare Warteschlangen/Wartezeiten am Apparat), eine Post an alle potenziell Betroffenen oder eine Information, vergleichbar mit einem Werbespot in öffentlichen Medien, mehr Vor- als Nachteile bringen könnte.  

11. Unternehmen und Stellen der öffentlichen Verwaltung beginnen, über Personen, die sich als Staatsbürger oder Kundinnen weigern, wegen weniger Behörden und Geschäfte ein Mobiltelefon samt Vertrag mit einem Mobilfunkanbieter zu kaufen, Sanktionen zu verhängen oder sie anderweitig zu benachteiligen (s. Beispiele 4 und 5). Ob diese Geschäftsbedingungen legal sind, wird die Zukunft zeigen. Ein juristisches Argument könnte sein, dass dann, wenn ein Unternehmen seinen Gesamtumsatz plant, die Preissenkungen bei der Kundschaft mit der App durch Preiserhöhungen bei den übrigen Kundinnen und Kunden kompensiert, m. a. W.: die Kundschaft ohne PC oder Mobiltelefon wird benachteiligt bzw. ausgegrenzt. Ein Gegenargument wäre, dass Personen mit der App deshalb begünstigt werden dürfen, weil sie sich die zusätzliche Werbung gefallen lassen. 

12. Bei komplizierten Umstellungen der Schnittstelle zwischen IT-System und Nutzenden soll nicht das Risiko von Verwirrungen und/oder Überforderungen dadurch erhöht werden, dass gleichzeitig andere Änderungen vorgenommen werden, z. B. an Kundennummern, Telefonnummern, Kontonummern, Zuordnung der Kundschaft zu Ansprechpersonen im Unternehmen. 

 

Beispiele  

1. Am 5.5.2023, einem Freitag, fand der Autor um 19:30 Uhr auf seinem Mobiltelefon eine Meldung der Filiale seiner Bank, wonach jemand seine Anschrift verändert hatte. Sollte er es selbst veranlasst haben, so müsse er nichts unternehmen. Im anderen Fall möge er sich umgehend an seinen Berater wenden. Sofort gestartete Fahrten zur Hauptstelle des Instituts in der Großstadt, zu der für ihn zuständigen Filiale in einer Umgebungsgemeinde, in der das Konto samt Depot geführt wurde, und zur Filiale am Hauptbahnhof in der Stadtmitte erbrachten nur, dass alle geschlossen waren. Mehrere Versuche, eine Telefonverbindung herzustellen, führten auf die automatische Durchsage „Sie rufen leider außerhalb unserer Öffnungszeiten an“. Erst am darauffolgenden Montagvormittag erfuhr er, dass ein automatischer Verteiler des Instituts selbst allen rund 1400 Kundinnen und Kunden der Filiale die gleiche Nachricht gesandt hatte. Die Gemeinde heißt Röthenbach. Da es laut Atlas in Deutschland acht Orte mit Namen Röthenbach gibt, dazu fünfmal „Rötenbach“ und zweimal „Röttenbach“, gab es wiederholt Verwechslungen, weshalb man die Anschrift „Röthenbach“ in diesem Beispiel um „an der Pegnitz“ ergänzte. Daraufhin versandte ein automatisches System die o. a. Meldung an alle Kunden, in deren Stammsätzen „Röthenbach“ in “Röthenbach a.d.P.“ geändert worden war. Irgendwelche Anstalten, nach Bekanntwerden des Fehlers Not-Telefonverbindungen herzustellen, wurden nicht getroffen. Vielmehr wurden die rund 1400 betroffenen Kundinnen und Kunden erst ab Montag davon verständigt, dass sie sich keine Sorgen machen müssten. Die Komplikationen mit der Kundenschnittstelle wären nicht eingetreten, wenn im Text der Mail nicht gestanden hätte, dass jemand die Anschrift modifiziert hatte, sondern die Bank selbst, und zwar weil Verwechslungen vermieden werden sollten. Nach Bekanntwerden des Fehlers wäre weitere Unruhe vermieden worden, hätte man dafür gesorgt, dass die Kundschaft nicht mit sämtlichen Versuchen der Kontaktaufnahme bis zum Montag gescheitert war. Falls das Institut mit solchen Zwischenfällen bzw. Irrtümern von Angestellten oder Automaten rechnen muss, könnte der Schaden immer noch reduziert werden, wenn man eine derartige Aussendung nicht an einem Freitagabend abschickt. 

2. Der Verfasser hatte nach seiner Emeritierung an der Universität Erlangen-Nürnberg nur noch eine Assistentin. Diese musste wiederholt trotz anstehender Aufgaben ihren Arbeitsplatz verlassen, um ihren Eltern dabei zu helfen, Pflichtaufgaben der „digitalen“ Kommunikation mit Behörden zu erledigen. (In dem Bundesland gestaltet sich die Kommunikation zwischen Bürger und Verwaltung recht kompliziert, wenn man nicht „digital“, sondern per Briefpost oder Telefon kommuniziert). Daher legte die Assistentin jeweils 800 km (Hin- und Rückfahrt) mit ihrem PKW zurück. 

3. Die Firma XY teilte am 20.7.2023 den Besitzern eines Mobiltelefons mit: „Die Sicherheit Ihres Geräts wurde verbessert. Eine Softwareaktualisierung enthält zum Beispiel die folgenden Komponenten: … Stabilitätsverbesserungen und Bugfixes für das Gerät … Weitere Verbesserungen für eine optimale Leistung“.  

4. Eine Supermarktkette bietet einige preislich sehr günstige Artikel nur Kundinnen und Kunden an, die die App „Supermarktkette Plus“ samt QR-Code installieren und in Kauf nehmen, dass sie danach viele besondere und nicht passende Werbebotschaften erhalten (z. B. Gartengerät auch dann, wenn man keinen Garten hat).  

5. Ein Mineralölkonzern hat die Rabattmarken für das Tanken abgeschafft und räumt den Vorteil jetzt nur noch Kraftfahrenden ein, die ein Mobiltelefon haben und dort „digitale Rabattmarken“ speichern. 

Dieser Text erschien zuerst in unserem Newsletter GI-Radar. Alle Ausgaben gibt es hier zum Nachlesen. Anregungen und Kritik können gerne direkt an den Autor gerichtet werden: Prof. Dr. Peter Mertens, peter.mertens@fau.de

Mit diesen Themen beschäftigt sich der Fachbereich Mensch-Computer-Interaktion (MCI) der GI.

Einer alter Mann mit Brille und schwarzer Jacke arbeitet gerade mit einem Laptop.
Besonders ältere Menschen sind von Softwareanwendungen überfordert. Ein Regelwerk zur Festlegung von Standards der Nutzerfreundlichkeit von Apps und co. könnte helfen, dieses Problem zu lösen. (© Beth Macdonald/Unsplash)