"Das GPS war aus – woher weiß Google trotzdem, wo ich bin?" – Seite 1

Hört da wer mit? Sind gelöschte Bilder wirklich weg? Macht mich mein Smartphone süchtig? Welche dieser Sorgen berechtigt sind, welche übertrieben, beantwortet der ZEIT-ONLINE-Schwerpunkt "Digitale Ängste".

Technik kann gruselig sein. Vor allem dann, wenn man sie nicht versteht. Die anfängliche Freude über ein Gerät oder ein Produkt kann schnell in Misstrauen umschlagen, wenn sich Ereignisse nicht einfach erklären lassen. Zum Auftakt des Schwerpunkts Digitale Ängste hat ZEIT ONLINE seine Leserinnen und Leser nach Erfahrungen mit Technologie gefragt, die sie sich selbst nicht erklären konnten und die sie unheimlich oder zumindest irritierend fanden.

Wir erhielten mehr als 200 Einsendungen. Leider ist es in den meisten Fällen kaum möglich, hundertprozentig nachzuvollziehen, was hinter dem geschilderten Vorgang steckt – etwa wenn es darum geht, ob die Standortfreigabe des Handys zum besagten Zeitpunkt tatsächlich komplett ausgeschaltet war. Eine Aufklärung individueller Fälle ist deshalb schwieriger, als wir uns erhofften.

Die Reaktionen auf den Leseraufruf aber zeigen: Viele der geschilderten Angstmomente ähneln sich. Sie lassen sich auf etwa eine Handvoll Phänomene reduzieren, die offenbar viele unserer Leserinnen schon einmal erlebt haben.

"Hört da jemand mit?"

Die mit Abstand häufigste Einsendung betrifft die Vermutung, Firmen wie Facebook oder Amazon könnten heimlich Gespräche mithören, um anschließend passende Werbeanzeigen auf ihren Websites und Apps zu schalten. Einige Auszüge:

"Im Urlaub hat mein Vater, der weder Facebook, Twitter, Instagram o.Ä. besitzt, mit mir auf dem Golfplatz darüber gesprochen, dass er mal vernünftige Golfschuhe bräuchte. Später, beim Googeln einer belanglosen Sache, hat er gezielte Werbung auf Websites für Golfschuhe bekommen."

"Ich habe mit Reitsport überhaupt nichts am Hut. Eines Tages erzählte mir eine Kollegin eine halbe Stunde lang etwas über ihr Pferd. Mein Smartphone lag auf meinem Schreibtisch, es war keine App geöffnet. Zwei Tage lang wurde mir anschließend auf Facebook fast ausschließlich Werbung für Pferdezeug angezeigt."

"Ich habe mich mit Freunden über Armbanduhren aus Holz unterhalten und prompt wochenlang Werbung auf Instagram zu Holzarmbanduhren bekommen. Mein Smartphone war gesperrt und Instagram nicht offen! Ich hatte vorher keinen Anknüpfungspunkt dazu und habe noch nie nach Armbanduhren im Internet gesucht."

Eben über etwas gesprochen und wenige Minuten später erscheint die passende Anzeige. Das kann doch kein Zufall sein – oder doch? Es gibt einige Gründe, weshalb es unwahrscheinlich ist, dass wir permanent belauscht werden. Erstens wären die Datenmengen viel zu groß, um im monatlichen Datenvolumen nicht aufzufallen. Zweitens konnten Forscher in wissenschaftlichen Untersuchungen nicht beweisen, dass beliebte Apps das Mikrofon ein- und ausschalten und auf bestimmte Schlüsselwörter reagieren. Drittens widersprechen die Anbieter selbst der Abhörpraxis. Das muss man zwar nicht glauben, doch da Facebook und Google inzwischen genauer von Politik und Regulierungsbehörden beobachtet werden, wäre ein heimlicher Lauschangriff auf Milliarden Menschen ein wirtschaftliches Existenzrisiko. In einem Artikel erklären wir das Phänomen anhand von Facebook auch noch einmal im Detail – viele der dort aufgeführten Argumente lassen sich auch auf andere Apps übertragen

Eine noch plausiblere Erklärung liefert das sogenannte Tracking: So heißt die gängige Praxis, einzelne Nutzer und Nutzerinnen mit möglichst vielen individuellen Datensätzen zu verknüpfen, um ihnen anhand dessen möglichst relevante Werbung zu präsentieren. Tracking funktioniert nicht nur im Browser mithilfe von Cookies, sondern auch über den Abgleich von Standortdaten eines Smartphones oder den Abgleich von Adressbüchern.

Im Fall der Golfschuhe könnte das Handy des Vaters registriert haben, dass dieser für eine längere Zeit auf einem Golfplatz war. Das lässt darauf schließen, dass er Golf spielt und früher oder später neue Schuhe sucht. Vielleicht hat er schon zuvor in Google oder in einem Onlineshop, der an Googles Werbeprogramm teilnimmt, nach spezifischen Produkten gesucht oder in Google Maps die Adresse des Golfplatzes eingegeben. Selbst wenn das Wochen oder gar Monate zurückliegt, könnte der Tracking-Algorithmus durch den Besuch des Golfplatzes erkannt haben, dass dieses Thema wieder relevant ist – und daraufhin die entsprechende Anzeige schalten.

In den anderen beiden Fällen scheint es zwar, als sei die Werbung tatsächlich nur anhand der Unterhaltung ausgewählt worden. Ein Beweis für das Mithören der Plattformen ist das aber noch nicht. Wer etwa Instagram oder Facebook erlaubt, auf das Adressbuch zuzugreifen, teilt der Plattform mit, mit wem er oder sie befreundet ist – wenn sie das nicht ohnehin bereits wissen, weil wir auf den Plattformen mit diesen Menschen befreundet sind oder ihnen folgen. Bekommt ein Freund auf Instagram Werbung für Holzarmbanduhren angezeigt, liegt das möglicherweise daran, dass er vielen Outdoor-Fotografen folgt oder sich für nachhaltige Produkte interessiert. Vielleicht klickt er sogar auf die Anzeige oder hat sogar schon aktiv nach Uhren gesucht. Für die Werbealgorithmen könnte das ein Hinweis darauf sein, dass sich vielleicht auch befreundete User für dieses Produkt interessieren – und auch ihnen die Werbung anzeigen.

Das ist nur ein denkbares Szenario. Auf Facebook heißt es, man verwende zur Anzeige von Werbung "Informationen über dich aus deinem Facebook-Konto", was theoretisch Kontakte einschließt. Recherchen der Technikwebsite Gizmodo aus dem vergangenen Jahr lassen darauf schließen, dass Kontaktlisten von Facebook-Nutzern mit Werbetreibenden geteilt werden.

"Woher wissen die, wo ich bin?"

Ein zweites Phänomen, das mehrere unserer Leserinnen beschäftigt, betrifft das Wissen von Diensten wie Google über den aktuellen Standort seiner Nutzerinnen – selbst dann, wenn sie das GPS in ihren Smartphones abgeschaltet und keine Adressen hinterlegt haben.

"Obwohl ich die Ortung bei Google Maps ausgestellt habe und nun auch nicht mehr gefragt werde, ob ich nicht schnell eine Rezension schreiben will, wenn ich in einem Restaurant sitze, scheint sich das Smartphone zu merken, wo ich war und wo ich öfter bin, da es meine Orte teilweise schon kennt und auch meinen Standort, obwohl dieser ausgestellt ist."

"Als ich im Urlaub war und das GPS aus hatte und nur mein Mobilfunk an war, bin ich mit meinen Eltern zu einem großen Parkplatz gefahren. Als wir dann 200 Meter entfernt vom Parkplatz in einem Restaurant saßen und ich in Google was suchte, bekam ich von Google angezeigt, wo unser Auto abgestellt war."

"Eines Tages meldet mir die Karten-App meines iPhones, als ich auf dem fünfminütigen Weg von meiner Arbeitsstelle zum geparkten Auto bin: "Circa 20 Minuten Fahrt nach Hause bei normalem Verkehr." Ich habe weder meine Wohnung in der App als 'Zuhause' markiert noch meine Arbeitsstelle als 'Arbeit' noch den Standort meines geparkten Autos."

Smartphones, ganz gleich ob Androidgerät oder iPhone, ermitteln den Standort ihrer Nutzerinnen und Nutzer auf verschiedene Weise, nämlich über GPS, über das Mobilfunknetz und sogar über Bluetooth- und WLAN-Verbindungen. Ein Beispiel: In einem Café gibt es kostenloses WLAN. Wer sich einloggt, speichert dessen Namen und die MAC-Adresse des Routers auf dem Smartphone. Diese Informationen können in Verbindung mit Standortdaten vom Betriebssystem oder auch einzelnen Apps in Datenbanken gespeichert werden. Wenn sich nun weitere Menschen in dieses Netzwerk einloggen, könnten sie dadurch ihren Standort verraten, selbst wenn sie weder GPS noch Mobilfunk aktiviert haben.

Die Anbieter machen daraus keinen Hehl. Auf der Website von Apple heißt es dazu: "Sind die Ortungsdienste aktiviert, sendet dein iPhone in regelmäßigen Abständen die per Geotagging markierten Positionen von nahegelegenen WLAN-Hotspots und Mobilfunkmasten in anonymisierter und verschlüsselter Form an Apple, um die Crowdsourcing-Datenbank mit den WLAN-Hotspot- und Mobilfunkmastpositionen zu erweitern."

Anhand der Standortdaten lässt sich ebenfalls recht leicht feststellen, wo eine Person lebt oder arbeitet – oder wie im erwähnten Beispiel bloß parkt. Google Maps bietet das inzwischen als Feature an. In iOS findet sich tief im System die Option "Significant Locations", die häufig besuchte Orte speichert. Das erklärt, weshalb unserem Leser in der Karten-App der Weg zu seiner Wohnung angezeigt wurde, obwohl dieser deren Adresse nie angegeben hat. Immerhin: Im Fall von iOS bleiben diese Daten ausschließlich auf dem iPhone und werden nicht mit Dritten geteilt, sagt Apple.

Wer GPS deaktiviert macht sich nur unauffälliger

Wer dagegen in seinem Google-Account die Option "Standortverlauf" aktiviert hat, überträgt damit komplexe Bewegungsverläufe über das Smartphone an Google. Diese können sogar als übersichtliche Timeline angezeigt werden. Wenn Sie dort Einträge sehen, haben Sie Google möglicherweise über Jahre hinweg komplexe Bewegungsabläufe mitgeteilt. Eine Deaktivierung stoppt zwar deren Speicherung, aber nicht die Standortübertragung. Denn Standortdaten werden auch über die "Web- und App-Aktivität" ermittelt, etwa wenn über Google nach Adressen gesucht wird. Auch diese Einstellung sollte man deshalb deaktivieren und die automatische Löschung von Einträgen nach drei Monaten auswählen.

Dazu kommen noch Einstellungen in Android: Zwar kann man einzelnen Apps den Zugriff auf Standortdaten untersagen; häufig geschieht das beim ersten Öffnen nach der Installation. Doch wie Sicherheitsforscher erst kürzlich herausgefunden haben, umgehen zahlreiche Apps diese Einschränkung. In den Einstellungen zu Ortungsdiensten findet sich zudem noch ein Dienst namens "Google Standortgenauigkeit". Ist dieser aktiviert, erlaubt man Google, den Standort zusätzlich über Mobilfunk und WLAN-Netzwerke statt nur über GPS zu ermitteln und zu übertragen. Und auch viele Gerätehersteller haben die Übermittlung sogenannter "Diagnosedaten", inklusive Standorte, standardmäßig eingestellt.

All das erklärt, weshalb Dienste häufig wissen, wo wir uns gerade befinden. Sämtliche Standortdaten auf allen Geräten und allen Apps zu deaktivieren, ist leichter gesagt, als getan. Und wer das GPS deaktiviert macht sich vielleicht etwas unauffälliger. Aber noch längst nicht unsichtbar.

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"Wieso bekomme ich diese Person als Kontakt vorgeschlagen?"

Sie haben einen neuen Job angefangen und nur kurze Zeit später bekommen Sie in sozialen Netzwerken neue Kollegen und Kolleginnen als Freunde vorgeschlagen, obwohl Sie diese höchstens mal kurz auf der Toilette getroffen haben? Offenbar kein Einzelfall. Mehrere Einsendungen unserer Lesenden betrafen genau dieses Phänomen.

"Ich war auf LinkedIn und mir wurde ein flüchtiger Kontakt von vor zehn Jahren als Kontakt vorgeschlagen. Von diesem Menschen kannte ich den vollen Namen nie, anders herum genauso wenig. Wir hatten Nummern ausgetauscht, aber die nie verwendet."

"Ich habe Facebook keinen Zugriff auf mein Telefonbuch am Smartphone gewährt. Trotzdem passiert eines immer wieder: Wenn ich jemanden kennenlerne und wir Handynummern austauschen, wird mir die Person am nächsten Tag als möglicher neuer Facebook-Freund vorgeschlagen."

"In der Frühzeit von Facebook erhielt ich mehrfach 'Einladungen' per E-Mail, in denen mich Freunde oder Bekannte aufforderten, ebenfalls auf Facebook tätig zu werden. Am Ende jeder E-Mail waren mehrere Personen aufgeführt, die ich laut FB kennen könnte. Eines Tages fand ich dort (…) auch meine Cousine aus Florida, zu der ich weniger als sporadischen Kontakt hatte."

Eine mögliche Erklärung ist auch hier die Kombination aus Tracking- und Kontaktdaten, oder wie es in sozialen Netzwerken intern heißt: dem Social Graph. Er beschreibt die Beziehungen von Nutzerinnen einer Plattform untereinander und bedient sich dafür unterschiedlichster Daten. Wer mit wem befreundet ist, wer mit wem kommuniziert, wer wessen Beiträge empfiehlt. Aber auch wer welche Profile besucht, die gleichen Arbeitsplätze, Universitäten, Schulen, Sportvereine in seinem Profil angegeben hat oder an den gleichen Orten Urlaub macht.

Ein soziales Netzwerk wie Facebook kann anhand all dieser Informationen Beziehungen erkennen, die manche vielleicht lieber geheim hielten. Schon 2014 beschrieb Facebook, wie es erkennen konnte, ob zwei User in einer Liebesbeziehung sind – und sogar grob angeben, zu welchem Zeitpunkt diese begann. Dass auch entfernte Verwandte wie die Cousine aus Florida als mögliche Kontakte empfohlen werden, ist deshalb nicht überraschend: Wenn die Cousine bereits mit anderen Verwandten befreundet sein sollte, kann Facebook problemlos auf eine mögliche Beziehung schließen.

Wer bei LinkedIn einen neuen Arbeitgeber angibt oder auf Instagram Kolleginnen folgt, die wiederum mit anderen Kollegen befreundet sind, bekommt folglich früher oder später weitere Kontakte aus diesem Umkreis vorgeschlagen. Ist ja einleuchtend: Wenn fünf Ihrer Freunde einer sechsten Person folgen, besteht eine gute Chance, dass auch Sie diese Person kennen.

Noch einfacher haben es die Plattformen, wenn eine Person bereits in ihrem Adressbuch auf dem Handy steht. Aus gutem Grund fragt etwa Instagram regelmäßig, ob man der App nicht Zugriff auf die Kontaktliste gewähren möchte. Telefonnummern gehören zu den wichtigsten Daten, wenn es darum geht, Beziehungen zwischen Nutzern herzustellen. Aus diesem Grund gibt es Bedenken, dass etwa die Kontaktdaten von Instagram, Facebook und WhatsApp eines Tages zusammengeführt werden könnten. Auf der Website von WhatsApp heißt es derzeit allerdings, "dass WhatsApp deine Kontakte nicht mit Facebook oder anderen Mitgliedern der Facebook-Unternehmen teilt und auch nicht plant, dies zu tun".

Dank "Tracking" wissen Dienste mehr, als wir vermuten

Allerdings benötigt Facebook gar nicht unbedingt WhatsApp oder Instagram, um an Kontaktdaten zu gelangen: Auch andere Apps, die Zugriff auf das Telefonbuch haben, könnten diese Informationen an Facebook oder Dritte senden. In welchem Maße Apps persönliche Daten mit Facebook teilen, hat erst Anfang 2019 eine Recherche des Wall Street Journal offengelegt. Facebook selbst den Zugriff auf die Kontakte zu verwehren, schließt deshalb nicht aus, dass das Netzwerk auf anderen Wegen an diese Informationen kommt und darauf basierend Freunde vorschlägt.

Nicht zuletzt können auch Ortungsdienste die Vorschläge beeinflussen. 2016 dementierte Facebook zwar, Kontakte anhand von Standortdaten vorzuschlagen. Auf anderen Plattformen aber ist es ein Feature: Bei LinkedIn etwa heißt es Find Nearby und verwendet eine aktive Bluetooth-Verbindung, um andere LinkedIn-Nutzerinnen im Umkreis, zum Beispiel auf Konferenzen zu erkennen. Das funktioniert selbst dann noch, wenn die LinkedIn-App gar nicht aktiv ist. Das Feature muss aber immerhin zuerst von den Nutzern aktiviert werden.

Die Antwort ist also: Soziale Netzwerke wissen dank komplexer Tracking-Mechanismen und dem Datenaustausch über mehrere Apps in vielen Fällen weit mehr über unsere privaten und beruflichen Beziehungen, als wir vermuten.