Macht uns der Computer zu Kommunisten? – Big Data lässt den linken Traum der Planwirtschaft wiederaufleben

Warum ist der real existierende Sozialismus gescheitert? Weil der Staat zu wenig Informationen hatte, um den Markt zu steuern, sagt der chinesische Unternehmer Jack Ma. Das sei heute anders. Mit Daten lasse sich jeder Markt beherrschen.

Adrian Lobe
Drucken

In Venezuela zeigt sich derzeit die Hybris der Planwirtschaft: leergefegte Supermarktregale, lange Schlangen an den Tankstellen, eine Hyperinflation von über 130 000 Prozent. Lebensmittel, Hygieneartikel und selbst der Strom werden rationiert. Es fehlt an allem: Nahrungsmittel, Toilettenpapier, Antibiotika, Bettlaken. Coca-Cola hat 2016 seine Produktion gestoppt, weil es keinen Zucker mehr gab. Die Menschen haben aufgrund der Mangelernährung 2016 im Durchschnitt neun Kilo abgenommen. Das Malaise der venezolanischen Volkswirtschaft hat fast schon Lehrbuchcharakter.

Die Klassiker der liberalen Ökonomie – Friedrich August von Hayek zum Beispiel – brachten gegen die Planwirtschaft vor allem einen steuerungstheoretischen Einwand vor: Der Planer verfügt nie über bessere Echtzeitinformationen als der Markt. Der Staat weiss nicht, wie viele Fahrzeuge, Toaster und Türgriffe produziert werden müssen, damit der gegenwärtige Bedarf gedeckt ist.

Man müsste Millionen von Gleichungen lösen, um ein makroökonomisches Gleichgewicht zu erhalten. Eine zentrale Planungsbehörde könne nie das gesamte Wissen über die Gesellschaft aggregieren, geschweige denn die Nachfrage nach bestimmten Gütern berechnen. Doch durch die Fortschritte der Informationstechnologie könnte dieses Wissensproblem gelöst werden.

Die unsichtbare Hand wird sichtbar

Alibaba-Chef Jack Ma ist von der Idee beseelt, dass man mit Big-Data-Analysen die Planungsfehler der Vergangenheit korrigieren und eine Planwirtschaft 2.0 ins Werk setzen könne. In einer Rede formulierte er seine Vision: «In den vergangenen hundert Jahren hatten wir immer das Gefühl, dass die Marktwirtschaft exzellent ist, aber meiner Meinung nach wird es in den nächsten drei Dekaden einen signifikanten Wandel geben: Die Planwirtschaft wird zunehmend gross.» Der Zugang zu allen möglichen Daten erlaube es, die unsichtbare Hand des Markts zu finden, so Mas Überzeugung. «Im Zeitalter der Daten ist es so, als hätten wir ein Röntgengerät und eine Computertomografie-Maschine für die Weltwirtschaft.»

Alibaba könnte mit den Daten seiner 500 Millionen Kunden den Prozess der Preisbildung simulieren. Wer interessiert sich für welches Produkt? Wer plant die Anschaffung einer Waschmaschine? In welcher Region steigt die Nachfrage nach Autos? Mit mathematischen Modellen könnte man die Angebots- und Nachfragemenge analog zum Markt am Computer berechnen und eine Art künstlichen Preisbildungsmechanismus entwickeln.

Seit geraumer Zeit greifen Notenbanken auf Google-Daten zurück, um ihre makroökonomischen Modelle zu verfeinern. Die chilenische und die britische Zentralbank etwa nutzen Google-Analytics-Daten, um anhand von Suchbegriffen wie etwa Transferleistungen die Zahl der Jobsuchenden und Beschäftigten zu prognostizieren. Auch die Fed stützt ihre Prognosen zum Auto- und Immobilienmarkt zum Teil auf Google-Stichwortsuchen.

Auch der Markt ist ein Computer

Die Idee einer computerisierten Kommandowirtschaft ist nicht neu. Der polnische Wirtschaftswissenschafter Oskar Lange entwickelte bereits 1967 die Idee einer «elektronischen Analog-Maschine», die Marktmechanismen nach dem Trial-and-Error-Prinzip simuliert. Die Maschine könne aber nicht nur den Markt simulieren, etwa hinsichtlich der Preisbildungsprozesse. Der Markt könne selbst als ein Computer modelliert werden, der ein «System simultaner Gleichungen» löse. Die Lenker der Planwirtschaft, argumentierte er im Fahrwasser der Management-Kybernetik, würden sowohl den elektronischen Computer als auch den Markt steuern. Der Computer habe aber den entscheidenden Vorteil, dass er viel schneller Marktsignale verarbeiten könne.

An diese Überlegungen anknüpfend stellten der schottische Computerwissenschafter Paul Cockshott und der US-Wirtschaftsprofessor Allin Cottrell in ihrem 1993 erschienenen Buch «Towards a New Socialism» die These auf, dass durch leistungsfähigere Computer, angewandt auf mathematische Iterationsverfahren und Simulationstechniken wie neuronale Netze, eine effektive Planwirtschaft möglich sei. Die Autoren schlagen ein «System rechnergestützter Planung» vor, «das die Simulation des Verhaltens der Wirtschaft in allen Einzelheiten einbezieht».

Um dies zu erreichen, müsse der Zentralrechner «mit einer Unmenge technischer Informationen» gefüttert werden, etwa mit Listen von Produkten und regelmässigen Updates über die in jedem Produktionsprozess verwendete Technologie. Cockshott und Cottrell schwebt ein «Marktalgorithmus» als Umsetzungswerkzeug vor, der nach deterministischen Programmiervorschriften operiert. «Wenn Preis / Wert > Arbeitsgutscheinkonsum / Konsum, dann erhöhe Bestellmenge des Guts.»

Selbst Schokoladenkekse kann man nur verkaufen, wenn die Leute sie essen wollen. Also muss es darum gehen, möglichst genau zu wissen, wo wie viele Leute Kekse mögen. (Bild: Jason Alden / Bloomberg)

Selbst Schokoladenkekse kann man nur verkaufen, wenn die Leute sie essen wollen. Also muss es darum gehen, möglichst genau zu wissen, wo wie viele Leute Kekse mögen. (Bild: Jason Alden / Bloomberg)

Alles unter Kontrolle

Es gab in der Wirtschaftsgeschichte bereits einige Experimente mit der computergestützten Planung einer Ökonomie, wie das 1971 von Stafford Beer in Chile unter Präsident Salvador Allende eingeführte kybernetische System. Im Rahmen des «Project Cybersyn» wurden die Schlüsselindustrien und -fabriken des Landes über mehrere Relais mit einem IBM 360/50, dem ersten industriell verfügbaren Computer überhaupt, mit dem Wirtschaftsministerium in Santiago verbunden.

In einem futuristischen Kontrollzentrum («Operation Room»), wo die Informationen einströmten und auf Bildschirmen dargestellt wurden, sollten die Planer in Star-Trek-artigen Stühlen die Parameter der Wirtschaft konfigurieren. Das Experiment wurde nach dem Militärputsch 1973 und dem Siegeszug der «Chicago Boys» jäh beendet.

Die Explosion der Daten (Stichwort Big Data) und die gigantische Rechenpower von KI-Systemen beflügeln diese Kontrollphantasien allerdings neu. Der chinesische Rechtsprofessor Feng Xiang schrieb in einem Gastbeitrag für die «Washington Post», dass KI das Ende des Kapitalismus einläuten werde. Wenn KI Ressourcen durch Big-Data-Analysen rational verteile und robuste Feedback-Loops die Unzulänglichkeiten der unsichtbaren Hand beseitigten, wäre eine digitale Planwirtschaft denkbar, so Xiang.

Amazon weiss, was wir brauchen

Die Planwirtschaft könnte durch zentralisierte Datenverarbeitungssysteme ihren «Wettbewerbsnachteil» gegenüber dem Kapitalismus kompensieren. Der Bloomberg-Kolumnist Matt Levine, der nicht gerade als Kommunist bekannt ist, schrieb, dass Computer schon heute die besseren Anlagestrategien entwickeln würden. Zwar sei der Markt der bessere Algorithmus. Langfristig aber «werden die Finanzmärkte in Richtung perfektes Wissen tendieren – eine Art Zentralplanung».

Die Idee einer computergestützten Kommandowirtschaft scheint die New Left zu elektrisieren. Das linke Politmagazin «Jacobin» hat kürzlich einen Essay darüber publiziert, wie die planwirtschaftlichen Big-Data-Methoden von Amazon und Walmart in einen real existierenden Sozialismus überführt werden können. In Zeiten, in denen das Smarthome den Ressourcenverbrauch misst (und zum Teil auch antizipiert) und das Smartphone die Bestellhistorie kennt, lagert in den Silos von Tech-Konzernen womöglich mehr volkswirtschaftlich relevantes Wissen als auf dem Markt.

Amazon hat 2014 ein Patent für ein Vorbestellsystem («anticipatory shipping») angemeldet, bei dem Waren in jene Regionen verfrachtet werden, wo sie noch gar nicht bestellt wurden. Amazon weiss, was die Leute brauchen. Was die Planer in den Ostblockstaaten nicht schafften, könnte nun ausgerechnet dem Klassenfeind Amazon mit seinen prädiktiven Algorithmen gelingen.

Bestehen wir aus Datenpaketen?

Viel interessanter als die ökonomisch relevante Frage, ob durch Big-Data-Analysen eine effektivere Ressourcenallokation möglich wäre, ist der Umstand, dass durch die Ankunft einer neuen Technologie, in diesem Fall KI, Ideologien umcodiert werden. Positionen, die man einst in marxistisch-leninistischen Zirkeln ventilierte, werden nun ausgerechnet durch die Innovationen des Datenkapitalismus validiert – und schliessen an das Geschäftsgebaren der Tech-Konzerne an.

Macht uns der Computer zu Kommunisten? Besteht der soziale Egalitarismus darin, dass jeder Mensch aus Datenpaketen besteht? Findet durch Apps und Gadgets nicht schon längst eine Zwangskollektivierung unseres geistigen Eigentums statt? Was an Mas Vision einer Planwirtschaft 2.0 verstört, ist nicht nur die verengte Sicht, das Scheitern des Sozialismus auf ein reines Informationsproblem zu reduzieren. Der Traum einer computerisierten Kommandowirtschaft ist vor allem auch der Traum eines perfekt beherrschbaren und berechenbaren Individuums, das nur noch etwas wollen soll: konsumieren.

Adrian Lobe ist Politikwissenschafter und Journalist und lebt in Heidelberg. Im September erscheint bei C. H. Beck sein neues Buch «Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis».

Weitere Themen