"Das ist bestimmt nicht die Welt, die ich wollte" – Seite 1

Ohne Vinton Cerf würde das Internet wohl nicht so funktionieren, wie wir es heute kennen: Er gehörte zu der Gruppe amerikanischer Forscher, die Mitte der Siebzigerjahre die Protokolle TCP (Transmission Control Protocol) und IP (Internet Protocol) erfanden. Sie sind die Grundlage unseres heutigen Internets. Seit 2005 ist Cerf, dessen Markenzeichen seit Jahrzehnten der in Tech-Kreisen eher unübliche Dreiteiler ist, bei Google – als Vizepräsident und Chief Internet Evangelist. Das Interview entstand nach einem Vortrag von Vinton Cerf am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam.

ZEIT ONLINE: Vint Cerf, Sie gelten als einer der Väter des Internets. Wenn Sie jetzt zurückblicken, wie sich das Internet entwickelt hat – mit all den Menschen, die sich auf ihren Smartphones Katzenvideos anschauen, bis hin zu Schadsoftware, die Kraftwerke lahmlegen kann: Ist das die Welt, die Sie sich vorgestellt haben, als Sie vor mehr als 50 Jahren dabei mithalfen, das Internet zu entwickeln?

Vinton Cerf: Das ist bestimmt nicht die Welt, die ich wollte. Wir waren damals eine Truppe aus Ingenieuren, die etwas Neues ans Laufen bringen wollten. Es fiel niemandem von uns ein, es absichtlich kaputt zu machen. Es ging von selbst kaputt, so wie es war. Das Problem, das wir jetzt erleben, besteht darin, dass sich das Internet in den Händen der breiten Öffentlichkeit befindet. Und wir wissen aus Erfahrung, dass die breite Öffentlichkeit auch Menschen umfasst, die Schaden anrichten möchten. So ist diese Plattform Risiken ausgesetzt – genauso wie alles andere, was frei zugänglich ist.

ZEIT ONLINE: Früher konnte man nur in den Netzwerken mitwurschteln, wenn man ein tiefes Verständnis dafür hatte, wie sie funktionieren. Heute genügt schon ein kurzer Programmierkurs, um Mobile Apps zusammenschustern zu können, Websites zu bauen oder anderes. Ist das gut oder schlecht?

Cerf: Generell ist es eine gute Sache, dass man Systeme auch dann nutzen kann, wenn man keinen Doktor in Elektrotechnik hat. Auch wenn sie nicht im Detail wissen, wie sie funktionieren. Das ist doch beim Auto ganz genauso. Wir sollten Systeme bauen, die es Menschen ermöglicht, sie als Ressource zu nutzen.

ZEIT ONLINE: Puristen könnten ja meckern: Jetzt haben wir mit all unserer intellektuellen Kraft dieses Internet erfunden – und alles, was ihr damit macht, ist blöde Videos darin zu teilen.

Cerf: Das ist wie Graffiti, in gewisser Weise. Warum sprühen Menschen Graffiti auf die Wände? Manchmal einfach, weil es ihnen Freude bereitet, die Wand von jemand anderem zu beschmieren. Manchmal geht es ihnen um Sichtbarkeit. Manchmal ist es eine Herausforderung: Jemand sprüht ein besonders riskantes Graffiti und ein paar Freunde applaudieren ihm dafür. Das ist die Extremsituation, die wir in sozialen Medien haben: Menschen äußern, tun oder zeigen mitunter extreme Dinge, nur um Aufmerksamkeit zu erregen. Darum geht es auch bei Vandalismus oft.

ZEIT ONLINE: Mit seiner offenen Struktur ermöglicht das Internet Menschen, dort das Gute wie das Schlechte zu forcieren – also dort entweder kreative Inhalte mit Mehrwert zu erschaffen, Wissen zugänglich zu machen, Prozesse zu vereinfachen oder eben in fremde Systeme einzudringen, Daten zu stehlen, Menschen zu beleidigen. Worauf sollten wir heute die Priorität liegen: das Übel zu verhindern oder Freiheiten aufrechtzuerhalten?

Cerf: Ich bin dafür, das Netzwerk so offen wie möglich zu halten. Menschen nutzen das Internet tagtäglich für sehr nützliche Dinge. Ich verlasse mich auf die Möglichkeit, dort Fakten zu recherchieren, zu übersetzen, meine Aktivitäten zu koordinieren und über E-Mail, Twitter oder andere soziale Netzwerke meine Ideen mit anderen zu teilen. Sich so auf das Verhindern negativer Aspekte zu konzentrieren, dass wir alles Nützliche behindern – das ist das Letzte in der Welt, was ich möchte. Und gleichzeitig können wir die negativen, schädlichen Entwicklungen nicht ignorieren – sondern müssen daran arbeiten, Menschen, die ihnen ausgesetzt sind, zu beschützen. Um Menschen zur Verantwortung ziehen zu können, die sich schädlich verhalten, müssen wir in der Lage sein, sie zu finden und zu identifizieren.

"Ich bin weiterhin ein großer Fan davon, die Dinge offen zu halten"

ZEIT ONLINE: Womit wir wieder bei den Risiken wären, von denen Sie vorhin sprachen – und die dadurch entstünden, dass das Netz nicht nur von wohlmeinenden Menschen geprägt ist. Was ist die Lösung dafür?

Cerf: Wir haben da verschiedene Aufgaben vor uns. Eine davon besteht darin, mehr technische Antworten für diese Risiken zu entwickeln. Indem man Verteidigung gegen verschiedene Schadsoftwareattacken baut oder zum Beispiel gegen Denial-of-Service-Angriffe …

ZEIT ONLINE: … also Angriffe, die eine Website lahmlegen, indem sie sie mit zu vielen Abfragen gleichzeitig überlasten …

Cerf: … aber auch die Nutzer können sich schützen, indem sie zum Beispiel die Zwei-Faktor-Authentifizierung verwenden. Bei Google tun wir viel dafür, derartige Technologien für alle verfügbar zu machen, damit andere nicht in Accounts eindringen können. Sehr viel schwieriger ist es für uns, mit Hatespeech, Desinformation und Falschmeldungen umzugehen. Schon allein, weil es nicht immer klar ist, was eine Falschmeldung ist und was Desinformation. Oft enthalten die Nachrichten einen wahren Kern – und der lässt dann das, was an der Meldung nicht stimmt, glaubwürdiger erscheinen. Menschen sind sehr clever darin, Falschmeldungen so zu formulieren, dass sie Verwirrung stiften. Manche Leute erwarten nun, dass man diese Dinge mit künstlicher Intelligenz herausfiltern und entsorgen kann – aber ich halte das für sehr viel komplizierter, als es klingt.

ZEIT ONLINE: Im Grunde steht dahinter aber doch ein sehr analoges, zutiefst menschliches Problem.

Cerf: Ja, das ist menschliches Verhalten. Warum lesen wir immer noch Shakespeare, 400 Jahre nachdem er seine Stücke geschrieben hat? Weil diese Stücke uns alles über das schlechte Verhalten erzählen, das Menschen an den Tag legen können. Und daran hat sich in den vergangenen 400 Jahren nichts verändert. Also ja: Manches davon hat mit Technologie wenig zu tun.

Wenn wir als Gesellschaft bestimmte Normen anerkennen, dann erzeugt das einen gewissen Druck, dass Menschen sich im Einklang mit diesen Normen verhalten. Und das kann manchmal so mächtig wirken wie Verbote.
Google-Vizepräsident Vinton Cerf

ZEIT ONLINE: Aber wie verbessert man nun dieses schlechte Kommunikationsverhalten in sozialen Netzwerken?

Cerf: Das Verhalten von Menschen verändern ist nicht einfach. Man muss Anreize schaffen, die zu einem anderen Verhalten motivieren. Ich halte drei Komponenten für nötig, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Die erste ist Technologie, die schlechtes Verhalten erkennt und automatisch stoppt. Die nächste Stufe heißt Post-Hoc-Enforcement: Wer bei Handlungen erwischt wird, die unsere Gesellschaft für unangebracht hält, muss die Konsequenzen dafür tragen. Wir wissen, dass wir auf diesem Wege nicht alle erwischen werden – genauso wie eine Geschwindigkeitskontrolle nicht jeden erwischt, der zu schnell fährt. Aber eben doch ein paar. Und dann gibt es noch die dritte Komponente. Die besteht darin, Menschen zu verstehen zu geben, dass in unserer Gesellschaft bestimmte Dinge einfach nicht akzeptabel sind. Das klingt etwas schwach. Aber wenn wir als Gesellschaft bestimmte Normen anerkennen, dann erzeugt das einen gewissen Druck, dass Menschen sich im Einklang mit diesen Normen verhalten. Und das kann manchmal so mächtig wirken wie Verbote.

ZEIT ONLINE: Sie sagen bis heute, dass Ihre Technologie, die dem Web zugrunde liegt, eine neutrale, agnostische ist. Aber gibt es nicht doch etwas, das Sie nachts wachhält, weil Sie sich denken: Hätten wir das doch mal damals anders gemacht, das Internet hätte sich in eine ganz andere Richtung entwickelt?

Cerf: Klar schaue ich zurück und sage: Wir hätten es anders machen sollen. Aber wie hätten wir das wissen sollen? Ich gebe Ihnen mal ein Bespiel: Jedes Gerät kann mit jedem Gerät im Netzwerk kommunizieren, wenn es dessen IP-Adresse kennt. Das war in unserem Originaldesign so und so ist es bis heute. Wir haben uns damals dafür entschieden, weil wir nicht wussten, welche Geräte irgendwann einmal mit welchen anderen reden würden. Wir wollten nicht willkürlich unmöglich machen, dass bestimmte Geräte in Zukunft miteinander in Austausch miteinander treten können, und darum verlangten wir von einem Netzwerk am Ende einzig und allein, ein Paket vom Sender zum Empfänger zu schicken. Das ist eine ziemlich niedrigschwellige Anforderung. Wir verlangten keine besondere Geschwindigkeit, keine Verzögerungen oder anderes.

ZEIT ONLINE: Und das bereuen Sie jetzt?

Cerf: Ich halte diese Entscheidung für richtig – auch wenn man aus heutiger Sicht die Frage stellen muss, ob wirklich alles mit allem kommunizieren können sollte. Durch diese Offenheit hat sich zwar die Zahl möglicher Angriffswege gegen das Netzwerk vergrößert. Aber weil wir immer noch weiter Anwendungen erfinden, denke ich, dass wir sehr zurückhaltend damit sein sollten, die Interaktion zwischen Geräten im Netzwerk willkürlich zu beschränken. Ich bin weiterhin ein großer Fan davon, die Dinge offen zu halten.

"Sie fragen den Google-Vizepräsidenten, ob Google zerschlagen gehört?"

ZEIT ONLINE: Sie arbeiten seit einigen Jahren für Google. In den USA gibt es immer lautere Kritik an großen Tech-Unternehmen – insbesondere seitens der Demokraten.

Cerf: Auf allen Seiten, denke ich.

ZEIT ONLINE: Inzwischen werden häufig Ideen geäußert, Unternehmen wie Google, Facebook und andere große Tech-Konzerne zu zerschlagen – um die Freiheit des Internets zu schützen und den Wettbewerb. Halten Sie das für eine gute Idee?

Cerf: Sie fragen den Vizepräsidenten von Google, ob Google zerschlagen gehört? Die offensichtliche Antwort ist: Nein. Aber lassen Sie mich das begründen. Nur weil ein Unternehmen groß ist, heißt das noch nicht, dass es böse ist, animalisch oder schädlich für den Wettbewerb. Wenn man Milliarden von Kunden bedienen will, baut man ziemlich riesige Datencenter auf – und es zeigt sich, dass die Effizienz steigt, wenn man größere Systeme baut. Die wahre Frage ist nun aber: Was ermöglicht diese Größe? Gibt es Kritik am Verhalten des Unternehmens, dann kann es gut sein, dass eine Zerschlagung nicht die Lösung ist.

ZEIT ONLINE: Sondern?

Cerf: Wenn es einen substanziellen Grund dafür gibt, das Verhalten eines Unternehmens nach bestimmten Standards für nicht akzeptabel zu halten, dann ist es meiner Ansicht nach die bessere Taktik, andere Verhaltensweisen einzuführen. Und zwar solche, an denen Menschen dieses Unternehmen besser messen und es zur Verantwortung ziehen können.

Wir strampeln uns wie verrückt ab, um neue Ideen so schnell wie möglich zu entwickeln. Einfach, weil wir nicht wissen, wer diese zwei Typen aus dem Uni-Wohnheim sind, die es möglicherweise schlauer anstellen als wir.
Google-Vizepräsident Vinton Cerf

ZEIT ONLINE: Kritikerinnen und Kritiker argumentieren: Google beziehungsweise der Alphabet-Konzern hat eine Größe erreicht, die es für Wettbewerber sehr schwer macht, sich gegen ihn zu behaupten.

Cerf: Nur weil man heute im Internet ein erfolgreiches Unternehmen ist, garantiert das nicht, dass man das auch bleibt. Einige sehr erfolgreiche Unternehmen haben sich einfach in Luft aufgelöst – denken Sie an Yahoo oder GeoCities. Das sind Firmen, die für eine gewisse Zeit zu den wichtigsten überhaupt gehörten. Und dann scheiterten sie daran, weiter innovativ zu bleiben. So wurde Google zum Yahoo-Nachfolger. Google hat als sehr kleines Unternehmen angefangen. Mit zwei Leuten. Man hat sogar versucht, an Yahoo zu verkaufen – und dessen Entscheider wollten das damals nicht. Es gibt keine Garantie, dass sich in den Wohnheimen der Universitäten nicht schon das nächste Yahoo oder Google versteckt. Darum strampeln wir uns wie verrückt ab, um neue Ideen so schnell wie möglich zu entwickeln. Einfach, weil wir nicht wissen, wer diese zwei Typen aus dem Uni-Wohnheim sind, die es möglicherweise schlauer anstellen als wir.

ZEIT ONLINE: In einem Interview haben Sie einmal darüber gesprochen, welche Risiken es birgt, wenn das Internet in Zukunft immer allgegenwärtiger wird: Die Abhängigkeit aller Abläufe von seinem Funktionieren steigt immer weiter. Das ist sicher richtig. Nur was ist die beste Reaktion darauf?

Cerf: Das System ist sehr verletzlich. Wir müssen uns Gedanken darüber machen, was der Back-up-Plan für einen Ausfall ist. Sehen Sie sich nur an, was passiert, wenn das Computersystem eines Flughafens abstürzt. Plötzlich verlangsamt sich alles. Gepäck geht verloren, alle ärgern sich. Manchmal dauert es Tage, bis all das verlorene Gepäck und alle anderen mechanischen Registrierungen wieder ins System eingegliedert sind. Wir sollten uns wirklich sorgfältig Gedanken darüber machen, wie viel Abhängigkeit von vernetzten Geräten wir akzeptieren wollen – vor allem, wenn es einfach nur um mehr Komfort geht.

ZEIT ONLINE: Sie meinen, wir sollten nicht von der Digitalisierung Abstand nehmen, sondern immer einen Plan B parat haben?

Cerf: Es sollte immer ein Back-up geben, für den Fall, dass die Infrastruktur nicht verfügbar ist.

ZEIT ONLINE: Gerade im Herbst wurde das 50-jährige Bestehen des Internets gefeiert. Glauben Sie, dass Ihre Protokolle, TCP/IP, auch noch in 50 Jahren genutzt werden?

Cerf: Nun, in Ingenieurskreisen sagen wir immer: Was funktioniert, hat Bestand. Es gibt eine gut begründete Chance, dass das Internetprotokoll auch weiterhin funktioniert und Leute es nutzen. Falls nicht, dann ist das für mich in Ordnung. Ich klammere mich nicht an dieses Protokoll. Ich freue mich, dass wir es entworfen und gebaut haben und dass es so lange überdauert hat. Mag sein, dass etwas kommt, das es ersetzt. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es dann ja besser sein. Denn warum sonst würde man es ersetzen?