Bits und Bytes im Permafrost

In einer verlassenen Kohlemine auf Spitzbergen soll Software archiviert werden. Doch welche Computerprogramme haben es verdient, für die Zukunft aufbewahrt zu werden? Und wie können Menschen in 1000 Jahren daraus Nutzen ziehen?

Stefan Betschon
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So beginnt ein Science-Fiction-Film: Dick vermummte Gestalten stapfen unter einem weissen Himmel durch eine weisse Landschaft. Kahle weisse Berge begrenzen die Sicht. Am Wegrand kommen dunkelbraune Gegenstände in den Blick: Es sind Eisenbahnwagen, die einst den Abtransport von Gesteinsmaterial ermöglichten. Doch offensichtlich werden diese Güterloren schon seit langem nicht mehr benutzt. Rostig und schief stehen sie neben den Geleisen.

Die vermummten Gestalten scheinen ihr Ziel erreicht zu haben: Andächtig stehen sie vor einem weissen Monolithen, einem turmartigen Gebilde, das erst auf den zweiten Blick als ein Werk von Menschenhand zu erkennen ist. Mit rundlichen Formen erinnert das weisse Ding an ein Iglu, doch es ist höher als ein mehrstöckiges Haus. Es könnte ein Raumschiff sein oder eine Kathedrale.

Eine Art Iglu markiert den Eingang zum Software-Archiv auf Spitzbergen.

Eine Art Iglu markiert den Eingang zum Software-Archiv auf Spitzbergen.

Visualisierung Snøhetta & Plomp

Zeitreisen

Dieser Science-Fiction-Film wurde noch nicht gedreht. Der weisse Monolith wurde noch nicht gebaut. Aber bereits haben Architekten der norwegischen Designfirma Snøhetta die Pläne für das Gebäude im Schnee ins Reine gezeichnet. Das Projekt heisst Arc, Kreisbogen auf Deutsch, es soll einen Durchgang ermöglichen in die Zukunft. Und von dort wieder zurück in die Gegenwart.

Der Ort, an dem der Monolith zu stehen kommen wird, ist bereits bestimmt. Im laufenden Jahr sollen in der Nähe einer Longyearbyen genannten Siedlung auf Spitzbergen die Bauarbeiten beginnen. Auftraggeber ist das Arctic World Archive, ein Gemeinschaftsunternehmen der beiden norwegischen Firmen Store Norske und Piql. Die Store Norske Spitsbergen Kulkompani ist ein Staatsbetrieb, der seit 1916 auf den Spitzbergen den Kohlebergbau betreibt. Piql ist eine 2002 in der Nähe von Oslo gegründete Computerfirma, die sich auf die langfristige Speicherung von Daten spezialisiert hat. Die beiden Firmen wollen eine stillgelegte Kohlemine dazu nutzen, um für eine ferne Zukunft sicher aufzubewahren, was den Menschen heute wichtig ist. Der Monolith soll den Eingang zur Kohlemine architektonisch aufwerten.

Seit rund zehn Jahren gibt es auf Spitzbergen bei Longyearbyen eine Pflanzensamenbank. Sie soll Nutzpflanzen wie Reis, Mais, Weizen oder Kartoffeln vor Naturkatastrophen oder Kriegen schützen. Die abgelegene, dünn besiedelte Insel nördlich des Polarkreises scheint für ein solches Vorhaben gut geeignet: Das Klima ist kühl, der dauerhaft gefrorene Boden ist geologisch stabil. Politisch ist das Gebiet, das zu Norwegen gehört, seit 1920 eine entmilitarisierte Zone. Der entsprechende Vertrag wird von 43 Staaten anerkannt, auch von China, Russland und den USA.

Neben Saatgut wird auf den Spitzbergen auch geistige Nahrung gebunkert: In digitaler Form, auf Filmstreifen konserviert, werden hier wichtige Bücher – etwa aus der Vatikanischen Bibliothek – und bedeutende Gemälde – «Der Schrei» von Edvard Munch – im Permafrost aufbewahrt. Und bald soll auch noch Software dazukommen: Die kalifornische Firma Github hat Mitte November angekündigt, dass sie im Februar 200 Daten-Cartridges in der Kohlemine versenken will. Jede Cartridge ist so gross wie eine Pizzaschachtel und soll auf Filmstreifen 120 Gigabyte für 1000 Jahre speichern.

Programmieren als schöne Kunst betrachtet

Warum sollte man im hohen Norden, 300 Meter tief im Boden, Software aufbewahren? Software, so behaupten die Marketingmanager von Github, sei der «verborgene Eckstein der modernen Zivilisation» und müsse für zukünftige Generationen erhalten werden.

Computerprogramme sind in zweifacher Ausführung zu haben: Als Quelltext, in einer für Menschen lesbaren Form, und als Maschinencode, der sich als Ansammlung von Einsen und Nullen oder von Hexadezimalzahlen präsentiert. Der Quelltext enthält neben den Anweisungen für den Computer, die durch ein Übersetzungsprogramm in Maschinencodes übersetzt werden, auch Kommentare, die für menschliche Leser gedacht sind. Sie sollen das Programm erklären, die Überlegungen des Programmierers nachvollziehbar machen.

Der bedeutende amerikanische Computerwissenschafter Donald Knuth hat zu Beginn der 1980er Jahre für die Idee geworben, dass Kommentare als die zentralen Bestandteile eines Programms zu betrachten seien. Hauptaufgabe der Programmierer sei es nicht, den Computern zu sagen, was diese zu tun hätten. Vielmehr sollten die Programmierer den Menschen erklären, was sie von den Computern erwarten dürften. Knuth nannte diesen Programmierstil «Literate Programming». Er war überzeugt, dass es der Qualität der Softwareentwicklung zuträglich sei, wenn Programmierer Programme so behandelten, als seien es Werke der schöngeistigen Literatur.

Computerprogramme sind heutzutage oftmals viel zu kompliziert, als dass ein einzelner Mensch sie lesend durchdringen könnte. Sie umfassen mitunter Millionen von Codezeilen, die erst bei der Übersetzung in die Maschinensprache zu einem funktionsfähigen Ganzen vereint werden. Der Linux Kernel beispielsweise, das Herzstück des Linux-Betriebssystems, umfasst – verteilt auf mehr als 66 000 Dateien – rund 28 Millionen Zeilen Code. Die ersten Versionen von Linux hat zu Beginn der 1990er Jahre ein junger finnischer Student namens Linus Torvalds im Alleingang geschrieben. Heute ist dieses Betriebssystem das grösste auf Github gespeicherte Softwareentwicklungsprojekt. Es ist die gemeinsame Arbeit von mehr als 14 000 Entwicklern rund um den Globus.

Der Einstieg in die Kohlemine als architektonisches Erlebnis.

Der Einstieg in die Kohlemine als architektonisches Erlebnis.

Visualisierung Snøhetta & Plomp

Ein Algorithmen-Sammler

Die Idee, dass man Computerprogramme lesen kann – nicht studieren, nicht analysieren, sondern lesen, so wie man ein gutes Buch liest: zur Entspannung, als literarisches Vergnügen –, diese Idee ist heute nicht mehr praktikabel. Doch die Erinnerung an dieses Konzept aus der Frühzeit des Software-Engineering erleichtert die Erkenntnis, dass Software nicht nur für Computer von Bedeutung ist, sondern auch für die Menschen. Programme umfassen nicht nur Daten und Algorithmen, sondern auch eine Weltsicht. Programme sind, auch wenn heute niemand sie so liest, so wie Knuth das vorschlug, ein Stück Kultur.

Als Knuth anfing, sich mit Computern zu beschäftigen, wurde von einem Programmierer verlangt, dass er mathematisch beweisen kann, warum ein bestimmter Algorithmus effizienter ist als ein anderer. Damals war der Stundenlohn eines Programmierers vernachlässigbar im Vergleich zu den Kosten, die der Betrieb eines Computers pro Stunde verursachte. Heute ist nicht einmal mehr klar, was ein Algorithmus ist. Umgangssprachlich wird das Wort meist als Synonym für Software verwendet, manchmal bezeichnet es auch nur Software im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI), manchmal – im Gegenteil – Software ohne KI-Funktionen.

Das Programmieren hat sich von einem Kunsthandwerk in eine Ingenieurdisziplin verwandelt, die Softwarebranche wurde industrialisiert. Software wird heute in einem arbeitsteiligen Prozess hergestellt, der entlang einer langen Lieferkette unterschiedliche Spezialisten zusammenbringt und auch automatisch generierte Code-Komponenten einbindet. Dieser Internet-basierte Prozess wird durch Software gesteuert, und die vielleicht wichtigste Software dieser Art wird von Github zur Verfügung gestellt. Den Anstoss zur Entwicklung dieser Software gab Linus Torvalds.

Die Qual der Wahl

Softwareentwickler schauen nie zurück. Ihr Blick ist starr nach vorne gerichtet, in die Zukunft, sie fokussieren sich auf die Verbesserungen der nächsten oder übernächsten Version. Was an Software schon da ist, gilt als Altlast, denn es engt den Gestaltungsraum bei der Programmierung ein. Es gibt rund um die Welt viele Möglichkeiten, die Computer-Hardware vergangener Zeiten zu besichtigen. Doch ein Softwaremuseum gibt es nicht.

Im kalifornischen Mountain View hat das Computer History Museum vor einigen Jahren angefangen, die Quelltexte von berühmten Programmen zu sammeln und öffentlich zugänglich zu machen. Man kann sich auf der Website dieser kalifornischen Institution etwa Photoshop 1.0 anschauen. Man kann den Quelltext dieses berühmten Bildbearbeitungsprogramms besichtigen, aber er ist nicht fassbar, man kann nicht damit herumspielen, man kann ihn nicht erweitern, umschreiben, in ein lauffähiges Programm verwandeln. Dazu müsste man die Softwareumgebung, in der Photoshop 1.0 einst existierte, rekonstruieren können, man müsste auch die Betriebssysteme und die Programmierwerkzeuge der damaligen Zeit zur Verfügung haben. Es genügt eben nicht, alte Sachen aufzubewahren, man muss sie am Leben erhalten.

Dass Software und die mit ihr erstellten digitalen Inhalte leicht vergänglich sind, sorgt seit Jahrzehnten für angstvolle Debatten. Kurioserweise werden diese Ängste unter der Rubrik «Dark Age» abgehandelt: Wenn der Zerfall der digitalen Daten nicht gestoppt werden könne, so heisst es, fände sich die Menschheit bald in einem «dunklen» Mittelalter wieder. Unter den zahlreichen Zeitungsartikeln, die sich seit Mitte der 1990er Jahre mit diesem Problem beschäftigten, gibt es nur wenige, die nicht schon im Titel einen Bezug zum Mittelalter herstellen.

Es ist ganz offensichtlich vergessen gegangen, dass es das «Dunkle Mittelalter» nie gegeben hat. Diese Düsternis wurde einst erfunden, um eine Neuzeit umso heller erstrahlen zu lassen. Der Unterschied zwischen dem «Dunklen Mittelalter» und dem «Siècle des Lumières», der Aufklärung, liegt nicht darin, dass die Vorgänger sich für Geschichte, für kulturelle Traditionen nicht interessiert hätten. Es war nur einfach so, dass ihnen andere Inhalte und andere Medien wichtig waren. Ein mittelalterliches Kirchenschiff ist auch ein Datenträger, eine Kathedrale mit all ihren Skulpturen, Figuren, Kapitellen, Glasmalereien, Bildern und Geschichten lässt sich auch als Speichermedium betrachten. Interessanterweise ist das von Brewster Kahle in den 1990er Jahren gegründete Internet Archive, das inzwischen Kopien von 330 Milliarden Webseiten aufbewahrt, in San Francisco in einer stillgelegten christlichen Kirche zu Hause.

Der zur Verfügung stehende Speicherplatz reiche nicht aus, um die rasch wachsenden Datenmengen, die Menschen produzierten, zu speichern, so wird oft geklagt. Doch die Menge der Daten ist nicht das Problem. Die amerikanische Library of Congress, die den Auftrag hat, alle englischsprachigen Bücher zu sammeln, besitzt laut Wikipedia 38 Millionen Bücher. Hätte jedes dieser Bücher 500 Seiten mit 2000 Zeichen pro Seite, müssten 38 Millionen Megabytes konserviert werden. Das sind 38 Terabyte – eine Datenmenge, die sich mit den Methoden der verlustfreien Datenkompression auf einen Drittel oder einen Viertel verkleinern lässt. Eine Festplatte mit diesem Fassungsvermögen gibt es heute für wenige hundert Franken zu kaufen. Nein, die Menge der Daten ist nicht das Problem. Die grössten Schwierigkeiten bereitet die Auswahl: Was soll überliefert werden?

Auf den Computern von Github sind mehr als 100 Millionen Softwareentwicklungsprojekte gespeichert. Mehr als ein Drittel dieser Projekte sind öffentlich zugänglich, die darin gespeicherten Quelltexte können eingesehen und benutzt werden. Mehr als 40 Millionen Programmierer nutzen Github. Aufgrund der Metadaten, die Github besitzt, lässt sich erkennen, welche Projekte am raschesten gedeihen und am fleissigsten benutzt werden. Bei der Frage, welche Projekte langfristig im Permafrost gespeichert werden sollen, möchte sich Github aber nicht nur auf diese Metadaten, sondern auch auf die subjektive Meinung von Experten verlassen. Zu den für Github tätigen Beratern gehören unter anderen Brewster Kahle, Alexander Rose von der Long Now Foundation und die Science-Fiction-Autorin Ada Palmer.

Auf Filmstreifen in den von Piql entwickelten Cartridges sollten Daten 1000 Jahre überdauern können. Sie sollen auch dann gelesen werden können, wenn das von Piql entwickelte Lesegerät nicht zur Verfügung steht. Denn die Daten sind als Abfolge von Bildern, als QR-Codes, abgelegt. Das Wissen, das benötigt wird, um diese QR-Codes zu interpretieren, ist in einer für Menschen lesbaren Form zusammen mit den Codes gespeichert.

Piql engagiert sich zusammen mit norwegischen und portugiesischen Computerwissenschaftern für die Entwicklung virtueller Hardware. Das ist eine Software, die zwischen einer Hardware der Zukunft und einer Software der Vergangenheit vermitteln kann. Das von der EU geförderte Projekt hat die Entwicklung einer «immortal virtual machine» zum Ziel. Diese «unsterbliche» Maschine, die aus Software besteht, soll ebenfalls im Permafrost auf Spitzbergen eingelagert werden.

Der Zahn der Zeit

Es sind zunächst sehr kurzfristige Interessen, die Github, Piql und Store Norske einander nähergebracht haben. Alle erhoffen sich von dem Engagement für die Ewigkeit in naher Zukunft einen positiven Einfluss aufs Geschäft. Store Norske steht international in der Kritik, weil der Kohleabbau auf Spitzbergen ein fragiles Ökosystem gefährde. Piql sieht sich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass viele potenzielle Kunden glauben, die Fragen der Datensicherung einem Cloud-Computing-Dienstleister überlassen zu können. Github schliesslich, im Sommer 2018 von Microsoft für 7,5 Milliarden Dollar übernommen, muss die Erträge steigern.

Auch wenn die Idee, Software im Permafrost zu lagern, sich kurzfristigen PR-Zielen verdankt, so lädt sie doch ein, den Blick in die Ferne schweifen zu lassen. Wie sollen wir uns die Menschen vorstellen, die in 1000 Jahren auf Spitzbergen den Arc durchschreiten? Wird es ein Roboter sein, der – künstlich intelligent – den heutigen Menschen intellektuell hoch überlegen ist? Oder wird es ein Affe sein? Oder ein Mensch, der – wie in Samuel Butlers Zukunftsroman «Erewhon» (1872) beschrieben – einer Zivilisation angehört, die der Technologie abgeschworen hat?

Wir können nicht wissen, was in den Köpfen jener Menschen vorgehen wird, die in 1000 Jahren am Rande des Polarmeers vor dem weissen Monolithen stehen werden. Doch allein schon der Versuch, im Kopf eine Zeitreise in die Zukunft zu unternehmen und den eigenen Alltag unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit zu betrachten, kann helfen, die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern.

Das Software-Museum als Kathedrale

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