Das Smartphone ist tot, es lebe das Wearable: kleiner, smarter, fieser

Sie rücken uns zu Leibe, und wir lieben sie: Die Minicomputer, die wir am Körper tragen. In Echtzeit zeichnen sie Bewegungsmuster und Gesundheitszustand auf. Und sie werden unser Zusammenleben radikal verändern – wenn auch anders, als wir denken.

Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski
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Immer näher, immer besser, immer smarter: Die Apple Watch ist eigentlich ein Gesundheitstool.(Bild: Goran Basic / NZZ)

Immer näher, immer besser, immer smarter: Die Apple Watch ist eigentlich ein Gesundheitstool.
(Bild: Goran Basic / NZZ)

Goran Basic / NZZ

Das Zeitalter der Technik ist auch eines der Antiquiertheit: Antiquiert erscheint nicht nur der fehlbare Mensch angesichts immer fähigerer Maschinen, antiquiert ist schliesslich auch die Maschine selbst. Denn Maschinen, erklärte der Technikphilosoph Günther Anders, neigen dazu, «ontologisch abzusinken», zu immer kleineren Teilen eines immer grösseren Netzes zu werden – das heisst: langsam zu verschwinden.

Was Anders schon vor Jahrzehnten beschrieb, gerät selten derart klar in den Blick wie in diesen Tagen. Es sind besonders die Hersteller von iPhone und Co., die die Grenzen ihrer eigenen Erfindungen aufzeigen, die die Antiquiertheit der Smartphones und damit eine neue Stufe der Miniaturisierung ausrufen: Das Smartphone ist vorbei, an seine Stelle rückt das Wearable.

Treffend brachte es Kang Yun-Je, der Chef des Design-Teams von Samsung, auf den Punkt: Das Ende des Smartphones, wie wir es kennen, sei in fünf Jahren erreicht. Die neue hergestellte Zukunft werde tragbarer und interaktiver als je zuvor, geprägt von kleineren Apparaturen wie der Smartwatch, die sich wie eine zweite, vermessene Haut über den Körper lege. Eine Zukunft, die uns nah und immer näher kommt.

Das Ich: eine einzige Zahlenwolke

Die jüngsten Quartalszahlen der führenden Hersteller scheinen den Wearable-Propheten recht zu geben. Bei Apple wuchs das Segment tragbarer Technologien – von den Airpods bis zur Apple Watch – zuletzt um sagenhafte 37 Prozent und verbuchte erstmals mehr als 10 Milliarden Dollar Umsatz. Im November 2019 forcierte auch Google das Geschäft, kaufte für 2,1 Milliarden Dollar den Wearable-Hersteller Fitbit, um im Wettlauf smarter Gadgets Boden gutzumachen.

Die Tech-Konzerne arbeiten schon seit Jahren an eng anliegenden Apparaten, die jeden Schritt und Pulsschlag erfassen, um das Ich als Zahlenwolke lesbar zu machen. Doch was lange ein Spleen egozentrischer Selbstoptimierer war, erscheint nun immer mehr als unentbehrliches Anhängsel des menschlichen Mängelwesens.

So wird man mit seiner Smartwatch nicht mehr, wie noch in der Apple-Werbung von 2018, auf ein bloss «besseres Ich» beschränkt, das sich um sich selber dreht. Die Apple Watch Series 5 glänzt stattdessen als Gesundheitstool, das auch der kollektiven Selbstsorge nützt. Dank vernetzter Sensorik ermöglicht sie es (zunächst nur in den USA), über Apps wie «Apple Research» persönliche Gesundheitsdaten zu «spenden», so dass der Nutzer als ein Art «Co»-Produzent heilsame Innovationen ermöglicht, derweil der Konzern ganz neue (Geschäfts-)Bereiche erforscht: «The future of health research is you.»

Auch Google übte sich zuletzt als Forschungslabor. In der Gesundheitsstudie des Projekts «Baseline» werden über vier Jahre hinweg via Study Watch alltägliche Aktivitäten – von den Schritten übers EKG bis zur mentalen Verfassung – von 10 000 Teilnehmenden getrackt. Baseline strebt mit der Komplettvermessung ein «Redesign der Zukunft der Gesundheit» an, eine datengestützte Gesundheitsvorsorge. Körper werden wie Strassen vermessen, die Daten der Vitalfunktionen laufend kontrolliert – und dies alles zu unserem Besten.

Der Erfinder: Pentland

Will man die künftige Tragweite der Wearables ermessen, kommt man an einem kaum vorbei: Alex Pentland. Der Mathematiker, Psychologe und Leiter diverser Forschungslabors am MIT, der nebenher auch Google berät, antizipierte in zig Experimenten den heutigen Einsatz von Wearables. Damit zeichnete er eine Form des sozialen Verhaltens vor, die er selbst «social physics» nennt.

Pentlands Forschung zielt nicht allein auf die Wiederbelebung der klassischen sozialen Physik von Auguste Comte, d. h. der Beschreibung des Sozialen, als würde dieses naturwissenschaftlichen Gesetzen gehorchen. Vielmehr sucht er über die Gestaltung der Umwelt und den Einsatz smarter Technologien zwischenmenschliche Interaktionen – also das Verhalten der Menschen selbst – zu verändern. In einer Vielzahl von Experimenten konnte er aufzeigen, wie sich Gemeinschaften über Wearables effizienter organisieren und ihre Mitglieder – Pentland spricht auch von Versuchskaninchen – mit technisch «getunter» Transparenz zu einem gesünderen, fitteren und aktiveren Lebensstil animieren liessen.

Beim Wellness-Game «Fun Fit» etwa wurden zunächst Zweiergruppen aus Familie und Freunden gebildet und über smarte Gadgets so verbunden, dass jeder – in einer Art wechselseitigem Beobachten – den Aktivitätsscore des anderen kannte. Die Leistungsstände sollten sich dann in Motivation verwandeln, so dass die Spieler hier immer beides in einem waren: Animateure und Animierte, Kontrolleure und Kontrollierte.

Das Experiment war äusserst erfolgreich. Es bildete sich nicht nur ein Freundeskreis, der sich – technisch gestützt – am Laufen hielt. Fun Fit diente auch eine empirische Grundlage für heutige Versicherungsmodelle, die Fitnesstracker für ein besseres Gesundheitsmanagement anbieten – wobei nicht mehr der Freund, sondern die Versicherung zu mehr Bewegung motiviert.

Der Mensch: ein Imitierer

Eine der wichtigsten Annahmen dieser Art der sozialen Forschung bildet die Prämisse, dass Individuen weniger vernunftbegabte als adaptive Akteure sind, dass sie weniger rational als relational entscheiden: Jeder ist demnach ein homo imitans, Handeln allenfalls kontextuell geprägt, kurz: eine Funktion des sozialen Netzwerks. Damit verschieben sich zwangsläufig auch aufklärerische Ideale. Die Idee einer Vernunft, die jenseits «fremder Leitung» (Kant) Aufklärung versprach, wird neu interpretiert: Unmündigkeit ist nun das Unvermögen, sich seiner Wearables zu bedienen.

So fokussiert die Sozialphysik auch nicht auf die Individuen, sondern auf die Bindekräfte zwischen ihnen. Denn wer diese stillen Mechanismen zu entziffern und Gewissenhaftigkeit, Transparenz und Zuverlässigkeit zu produzieren vermag, der könne, so Pentland schon vor Jahren, Gesellschaften modellieren, die «höhere Level an Fairness, Vertrauen und Stabilität» böten. Genau dieses Potenzial erkennt der Sozialingenieur in den Wearables. Erklärtes Ziel ist die neue datenreiche Gesellschaft: eine Gesellschaft, in der sich sämtliche Probleme, von Klima- bis zu Finanzkrisen, durch multisensorische Systeme beobachten und schliesslich lösen lassen. Pentland: «Das ist das Versprechen der data-rich society.»

Besonders plastisch wird dieses Versprechen, wenn man Pentlands experimentelle Lösungen für konkrete Probleme anschaut. So regte er beispielsweise an, zur Eindämmung von Grippe-Epidemien Verhaltensdaten mit lokalen Bewegungsdaten in Echtzeit zu tracken – denn Kranke verhalten sich anders als Gesunde. Ziel sei es, via digitales Device Verhaltensauffälligkeiten zu orten und die Ansteckungsgefahr in Live-Karten abzubilden. So kann man gesunde Perso­nen darauf hinweisen, gefährliche Orte zu meiden. Infizierte Menschen lassen sich erfassen, noch bevor sie die Krankheit verbreiten.

Pentland nennt dies «real-time flu tracking» und versichert, dass die Krankheitskontrolle über den Datenstrom Kliniken helfe, genug Medizin und Personal bereitzustellen. Man könnte dieses Verfahren der Kartierung aber auch als Generalisierung panoptischer Kontrolle beschreiben: als einen Mechanismus, der im Namen der Gesundheit jede Bewegung registriert, kategorisiert, jeden Einzelnen nach bestimmten Normen – gesund/ungesund – klassifiziert.

Das Wearable: die Zukunft

Obgleich Pentlands Visionen zuweilen wie das Remake überholter Steuerungsträume an­muten, hat sein Forschungsdesign derzeit erstaunlich viele Anhänger. Mitte Januar wurde eine Studie im Journal «The Lancet Digital Health» veröffentlicht, die nicht auf Bewegungs-, sondern direkt auf die Körperdaten von 200 000 Fitbit-Trägern zurückgreift. Über das Device konnten Echtzeit-Daten – vom erhöhten Ruhepuls bis zum unruhigen Schlaf – erfasst werden, mit denen sich, so das Ergebnis der Studie, signifikant bessere Influenza-Prognosen erstellen liessen.

Dass die Teilnehmer dabei nicht verständigt wurden, dass sie als Versuchskaninchen – über AGB hatten sie indirekt zugestimmt – herhielten, war für die Forscher dann auch kein Makel, sondern vielmehr ein Vorteil der Kontrolle über Wearables. Ohne langwierige Fragerei, ohne individuelle Interpretation konnte es auch keine falschen Antworten geben; die Daten erschienen – trotz statistischen Unebenheiten – objektiver, die Prognosen sauberer. Wer will (oder kann) da noch widersprechen?

Angesichts solch fortgeschrittener Ideenhorizonte ist es kaum verwunderlich, dass neben den IT-Konzernen zuletzt auch das Robert-Koch-Institut (RKI) im epidemischen Ernstfall um Covid-19 darüber diskutierte, Bewegungsdaten von Patienten-Handys auszulesen, um die Verbreitung des Virus nachzuverfolgen. Im RKI zielte man aus Datenschutzgründen zwar auf die bewusste «Datenspende», doch wird auch hier deutlich: In Zeiten virologischer Ausnahmezustände öffnen sich neue Möglichkeiten. Pentlands Idee vom «real-time flu tracking» erscheint als verführerische Vorstellung – die erhöhte Nachfrage nach vermessenden Wearables gibt ihm recht.

«Der Einzelne ist das erste besetzte Gebiet», schrieb Günther Anders. Damit hat er – wiewohl in kritischer Absicht – einen Leitspruch unserer digitalen Zeit formuliert. Die Tech-Konzerne bemühen sich geradezu rührend um unsere Gesundheit. Dabei produzieren sie nicht nur Geräte, die sich unseren Körpern sensorisch mitfühlend anschmiegen, sondern gestalten auch eine Gesellschaft der Wearables, in der die Technik so sehr in unsere Lebenswelt einsinkt, dass ihre kontrollierenden Einsichten immer mehr zum Tragen kommen.

Wie hiess es schon bei Pentland: «Das ist das Versprechen der data-rich society.»

Anna-Verena Nosthoff ist Philosophin und politische Theoretikerin, Felix Maschewski ist Kultur-, Literatur- und Wirtschaftswissenschafter. Zuletzt erschien ihr Buch «Die Gesellschaft der Wearables» (Nicolai Publishing & Intelligence).