Von den Kleinen lernen – Seite 1

Während in der Bundesliga wieder der Ball rollt und Restaurants und Cafés geöffnet haben, ist der Schulbetrieb in Deutschland immer noch alles andere als normal. Umso wichtiger wäre es für Lehrer, Schülerinnen und Eltern, den normalen Unterricht mithilfe von digitalen Werkzeugen vorübergehend ersetzen zu können.

Wie das funktionieren kann, ohne die Angebote der großen Digitalkonzerne nutzen zu müssen, zeigt eine Kooperation zwischen dem Verein Cyber4Edu und einer Grundschule in Berlin. Mit der Open-Source-Plattform Big Blue Button und eigenen Servern hat sich der Fernunterricht deutlich verbessert.

Es ist ein bisschen wie bei Asterix und Obelix: Während die ganze Welt in der Corona-Krise die Videokonferenzsysteme von Microsoft (Teams/Skype), Cisco (Webex) oder Zoom verwendet, versucht ein kleiner Verein in Berlin, sich dem Trend entgegenzustellen. Auf dem Chaos Communication Congress Ende 2019 in Leipzig stellte CCC-Mitglied Michael Merz in einer Session die Ziele seiner Initiative erstmals vor: nachhaltig gute Software, Lernmaterialien und Hardware für Schulen. Die Corona-Krise und die damit verbundenen Schulschließungen ließen den Bedarf an solchen Lösungen plötzlich stark ansteigen.

Die Großen werden bevorzugt

Abgesehen von Merz engagiert sich auch Andreas Steinhauser stark in dem Projekt. Er ist seit 35 Jahren CCC-Mitglied, gründete schon etliche Start-ups und hält auf den jährlichen CCC-Treffen regelmäßig Vorträge über physikalische Grundlagen. Seine Motivation bei der Initiative: "Die Digitalisierung, wie sie an Schulen betrieben wird, läuft in die falsche Richtung. Es werden häufig die Angebote der großen IT-Konzerne genutzt, statt auf Open Source und Datenschutz zu setzen. Der Schutz der Privatsphäre ist gerade bei Kindern ein wichtiges Gut." Daher wolle Cyber4Edu mit Pädagogen und Technikern gemeinsam eine Struktur aufbauen, um Schulen auf allen Ebenen zu helfen.

Eine der ersten Schulen, die die Angebote des Vereins nutzt, ist die private Evangelische Schule in Berlin-Friedrichshain (ESBF). Dort war man – wie in den vielen anderen Schulen – vor der Corona-Krise nicht auf digitalen Fernunterricht eingestellt. Vor allem Grundschülerinnen und Grundschülern fällt das selbstständige Lernen zu Hause noch schwer. Daher ist es umso wichtiger, zumindest per Computer mit Klassenkameradinnen und Lehrern kommunizieren zu können. Statt Konferenzsysteme wie Teams, Zoom oder Jitsi zu nutzen, setzt die Schule die Software Big Blue Button ein.

Diese Software wurde speziell für die Bedürfnisse von Schulen entwickelt. "Es gibt ganz viele Sachen, die für uns als Schule einfach top sind", sagt der stellvertretende Schulleiter Benjamin Bedorf golem.de. Big Blue Button ist eine browserbasierte, in Java programmierte quelloffene Software (Code auf Github).

Dort gibt es nicht nur die üblichen Räume für Videokonferenzen, sondern auch Break-out-Räume, in die sich einzelne Gruppenteilnehmerinnen für eine bestimmte Zeit zurückziehen können. "Ich mache es ganz oft so, dass ich sechs Kinder in einem Raum habe und mit ihnen im Break-out-Raum dann viertelstündige Einzelgespräche führe. Das ist total super. Das ist wie ein Tutorengespräch, das ich jede Woche anbieten kann", sagt Bedorf. Die Software verfügt auch über ein Abstimmungstool und die Möglichkeit, gemeinsam ein Tafelbild auf dem Bildschirm zu zeichnen. Sein Fazit: Die Software sei mit allem ausgestattet, was man brauche, "ohne zu viel Schnickschnack". "Auch die Kollegen, die noch nie so etwas gemacht haben, haben sich das selbst beigebracht."

Bei den Eltern kommt das digitale Konzept ebenfalls gut an. "Der Videounterricht hat definitiv für neuen Drive und viel bessere Stimmung bei unseren Kindern gesorgt – die fanden es wahnsinnig öde, nur zu Hause vor sich hinzuarbeiten", sagt Tamara Becker (Name geändert), deren beide Kinder die ESBF besuchen. Der Videounterricht könne tatsächlich ein bisschen von dem fröhlichen Durcheinander und Miteinander im Klassenzimmer ersetzen. "Unsere Kinder freuen sich auf die digitalen Schulstunden", sagt die Mutter.

"Die ersten zwei Tage waren eine totale Katastrophe"

Anfangs gab es Schwierigkeiten auf beiden Seiten. "Die ersten zwei Tage, in denen wir das Programm mit der gesamten Schule nutzten, waren eine totale Katastrophe", sagt Lehrer Bedorf. Seit dem dritten Tag laufe das System aber. Videokonferenzen mit acht Videostreams und Ton gleichzeitig seien überhaupt kein Thema mehr.

Ähnlich sieht es Tamara Becker: "Für jüngere Kinder ist das Tool leider vergleichsweise schwer zu bedienen." Man müsse lange URLs in den Browser eingeben, um die verschiedenen Klassenräume zu erreichen. Manchmal flögen die Kinder auch plötzlich aus dem Programm. Anfangs hätten sie dann oft Hilfe gebraucht, um dann wieder in den Unterricht zu kommen. Doch man lernt ja dazu: "Inzwischen sind sie schon recht selbstständig im Umgang mit der Technik geworden", sagt Becker.

Die Hardware kontrollieren

Cyber4Edu betreibt selbst die digitale Infrastruktur hinter dem System über die ebenfalls neu gegründete Genossenschaft Infra.run. Infra.run hat für die ESBF sowie andere Schulen und Organisationen eigene Server aufgestellt beziehungsweise angemietet. "Wir versuchen, die Hardware komplett unter unsere Kontrolle zu bringen", sagt Merz. Der Server sei etwas überdimensioniert. Wenn die Schule mit 120 Kindern und Lehrern gleichzeitig online sei, liege die Auslastung bei 40 Prozent. Durch den Puffer ergebe sich aber eine erhöhte Sicherheit und höhere Zuverlässigkeit.

Noch wird die Infra.run ehrenamtlich betreut. Langfristig hoffen die beiden CCC-Mitglieder, mit den monatlichen Einnahmen auch Administratorinnen und Administratoren für das Projekt einstellen zu können. Derzeit lägen die Kosten bei etwa einem Euro pro Schüler pro Monat. Bei weiterführenden Schulen könne der Betrag auch sinken, weil dort der Videoanteil nicht so groß sei. Inzwischen laufe die Einrichtung eines Servers mit Big Blue Button weitgehend automatisiert ab. Die Entwickler schreiben dazu auf Github: Mit dem Installationsscript lässt sich ein Server automatisiert in 30 Minuten einrichten. Laut Merz arbeitet Infra.run nicht gewinnorientiert, "weil wir mit Infrastruktur für Schulen keine Rendite erzielen wollen". Man will lediglich die Kosten decken.

Während die Infrastruktur vor allem von IT-Experten aus dem CCC-Umfeld betrieben wird, engagieren sich bei Cyber4Edu auch Mitglieder der Initiative "Chaos macht Schule", dem Berliner Hackertreffpunkt C-Base, der Free Software Foundation Europe (FSFE) sowie Freifunker. Auch Lehrer, Medienpädagoginnen und Datenschützer sind laut Merz dabei. Ein geplanter Beirat soll das Wissen im Bereich Medienpädagogik, Didaktik und Open Educational Resources ergänzen. Schließlich soll sich eine Schulplattform nicht nur auf Big Blue Button beschränken. So wird die Integration der Lernplattform Moodle und der freien Cloud-Software Nextcloud angestrebt.

Warum müssen sich die Schulen aber überhaupt selbst um eine sichere und datenschutzkonforme Digitalisierung kümmern? Wäre das nicht die Aufgabe der Schulverwaltung, zumindest was die staatlichen Schulen betrifft? In Berlin gibt es immerhin einen eigenen digitalen Lernraum für die Schulen. Das Hasso-Plattner-Institut (HPI) in Potsdam hat seine Schulcloud bundesweit geöffnet. Die niedersächsische Bildungscloud stellt seit Anfang März bereits Big Blue Button für die Schulen zur Verfügung.

Nach Ansicht von Merz wird die Digitalisierung in Berlin oft nicht mit der notwendigen Konsequenz betrieben. "Wir haben gehört, dass sie einen Vertrag mit Webex von Cisco gemacht haben. Warum mit Moodle anfangen und sich dann Webex ins Boot holen, wo Schulcloud sich gleich um die Ecke mit Big Blue Button arrangiert hat? Das ist wirklich total irre", sagt Merz.

Was ich am meisten vermissen werde, ist das Stummschalten. Wenn es das im realen Leben geben würde, wäre es ein Traum.
Benjamin Bedorf, stellvertretender Schulleiter

Der Bedarf an digitalen Tools dürfte auch nach dem Abklingen der Corona-Pandemie bestehen. Solche Tools könnten beispielsweise auch für andere Zwecke wie Elterngespräche genutzt werden. In manchen Dingen bieten sie sogar Vorteile gegenüber dem normalen Unterricht. "Was ich am meisten vermissen werde, ist das Stummschalten", sagt Bedorf scherzhaft. "Wenn es das im realen Leben geben würde, wäre es ein Traum."

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