Sie soll Menschen vor einer möglichen Corona-Infektion warnen, noch bevor sie erste Symptome spüren: die Corona-Warn-App. Die deutsche Anwendung gilt weltweit als Musterbeispiel für die Umsetzung einer Contact-Tracing-App. Auch, weil sie ohne die zentrale Speicherung sensibler Daten auskommt. Doch seitdem die App vor fast zwölf Wochen erschienen ist, hat sie sich kaum verändert. Manche, die besonders große Hoffnungen in sie gesetzt haben, fragen sich jetzt, weshalb die Zahl der Infizierten trotz der Corona-Warn-App wieder steigt. Ist die App in der jetzigen Form ausreichend?

Henning Tillmann ist Diplom-Informatiker, selbständiger Softwareentwickler und lebt in Berlin. Er ist Co-Vorsitzender des digitalpolitischen Thinktanks D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt. © Dominik Butzmann

Die App hat seit ihrer Einführung grundlegend funktioniert – trotz aller Fehlermeldungen. Allerdings kann sie noch besser werden. Denn es gibt viele neue Erkenntnisse, die im Frühjahr noch nicht vorlagen und die bei der Bekämpfung der Pandemie entscheidend sind. Wir wissen heute: Das Coronavirus ist stärker saisonal ansteckend, als noch vor Monaten vermutet. Insbesondere trockene Luft in Innenräumen erhöht die Infektionsgefahr. Im Herbst ist daher mit einer Zunahme der Fallzahlen zu rechnen, wenn wir das Pandemiegeschehen nicht stärker eindämmen können als heute.

Karl Lauterbach ist Professor für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie an der Universität zu Köln und Gesundheitsexperte der SPD im Deutschen Bundestag. © privat

Die neuen Erkenntnisse zu SARS-CoV-2 müssen sich in der App widerspiegeln: etwa, dass das Infektionsrisiko bei einem Superspreader-Event – also einer Veranstaltung, bei der ein Infizierter sehr viele Menschen ansteckt –, höher ist oder dass Coronaviren über Aerosole übertragen werden, also Schwebeteile in der Luft. Wichtig ist: Der sehr hohe Datenschutzstandard, die völlige Transparenz und uneingeschränkte Freiwilligkeit der Corona-Warn-App, die zu ihrer hohen Akzeptanz geführt haben, müssen erhalten bleiben. Alle Features, die mehr Daten erheben, müssen in der Nutzung optional sein. Sprich: Wer mag, kann auch nur die Funktionalität der klassischen Corona-Warn-App nutzen.

Im Folgenden machen wir vier Vorschläge für eine mögliche Weiterentwicklung der App auf Basis einer freiwilligen Ausweitung ihrer Funktionen. Manche Funktionen können von der Deutschen Telekom und SAP umgesetzt werden, die für die Corona-Warn-App verantwortlich sind. Andere müssen von Apple und Google implementiert werden, die das Grundgerüst für die Corona-Tracing-Apps zur Verfügung stellen.

1) Mehr Informationen, mehr Transparenz

Aktuell ist das größte Problem, dass im Falle eines Risikokontakts keine weitergehenden Informationen vorliegen: Die Nutzerinnen und Nutzer bekommen zwar einen Hinweis auf ihrem Smartphone, dass sie ein erhöhtes Erkrankungsrisiko haben. Damit werden sie aber alleingelassen. Weitere Informationen, etwa bei welcher Gelegenheit es zu diesem Risikokontakt gekommen ist, fehlen. Die App ist aus gutem Grund so konzipiert, damit keine Rückschlüsse auf die infizierte Person möglich sind.

Die App sollte Nutzerinnen und Nutzern aber die Möglichkeit geben, im Falle einer Infektion freiwillig mehr Informationen über die App weitergeben zu können – beispielsweise den Zeitpunkt des Kontakts. So ist es zum Beispiel technisch möglich, das Datum eines Risikokontakts anzuzeigen.

Das Mehr an Transparenz überwiegt die Nachteile zu Lasten des Datenschutzes deutlich, wenn es sich um eine freiwillige Funktion handelt. Durch den Datumshinweis kann die gewarnte App-Nutzerin auch Menschen informieren, die sie zwischen dem Risikokontakt und der Information darüber traf – auch solche, die die App nicht nutzen. Sie könnte Menschen warnen, die beispielsweise auf der gleichen Veranstaltung waren. Insbesondere bei größeren Ereignissen kann somit die Anzahl der informierten Personen exponentiell ansteigen, auch wenn die Mehrzahl die App selbst nicht benutzt.

Diese Funktion ist insbesondere zur Bekämpfung von Clustern und Superspreader-Infektionsketten hilfreich. Denn so könnten sich viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer frühzeitig in Quarantäne begeben und möglicherweise Infektionsketten brechen – nicht nur die per App gewarnte Person.

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2) Clustererkennung in der Gegenwart

Obwohl die Gesundheitsämter seit Monaten beeindruckende Leistungen erbringen, ist bei ihrer personellen Ausstattung und der zu erwartenden Zunahme der Fälle im Herbst die derzeitige Strategie der Kontaktverfolgung kaum durchzuhalten. Sie führt dazu, dass sehr viele Kontakte von Infizierten erst zu einem Zeitpunkt gewarnt werden, an dem sie bereits selbst infiziert sind und auch häufig die Infektion schon weitergegeben haben. Dazu hat Christian Drosten ausführlich Stellung genommen. Er hat vorgeschlagen, die Kontaktverfolgung von Infizierten durch die Gesundheitsämter auf sogenannte Superspreader und Clusterereignisse zu konzentrieren. Diesem Vorschlag schließen wir uns uneingeschränkt an. Die Contact-Tracing-App kann dazu aus unserer Sicht einen wichtigen Beitrag leisten.

Die Corona-Warn-App – beziehungsweise das Framework von Apple und Google, auf dem die App basiert – sendet im Hintergrund kontinuierlich Signale aus, die von anderen Geräten aufgefangen werden können. Diese sogenannten Kurzschlüssel werden von anderen Smartphones, die ebenfalls die Corona-Warn-App verwenden, eingesammelt und intern gespeichert. Wenn ein Smartphone gleichzeitig viele unterschiedliche Signale empfängt, ist es sehr leicht möglich, dass sich die Nutzerin beziehungsweise der Nutzer in einer Clustersituation befinden. Etwa in einer Menschenansammlung, die zu einem Superspreading-Event führen könnte.

Zwar ändern sich die Kurzschlüssel ungefähr alle 15 Minuten, wenn jedoch die Anzahl der Kurzschlüssel ausreichend hoch bleibt, könnte nach einer gewissen Zeit eine Warnung erscheinen. Die App könnte die Nutzerin beziehungsweise den Nutzer sensibilisieren, bei Menschenansammlungen vorsichtig zu sein oder bei Treffen in geschlossenen Räumen, wie sie im Herbst und Winter vornehmlich stattfinden werden, zu lüften. Diese Umsetzung wäre eine Ergänzung zu den aktuell diskutierten und sehr empfehlenswerten CO2-Messgeräten, die ans Lüften erinnern sollen. Die Software-Umsetzung sollte intelligent sein, das heißt, dass sie beispielsweise einen Arbeitskontext werktags von 9 bis 17 Uhr erlernt und dann nicht permanent warnt oder den Nutzer beziehungsweise die Nutzerin fragt, wie mit diesen Situationen umzugehen sei.

Es ist theoretisch auch möglich, nicht nur die Anzahl der Kurzschlüssel der Corona-Warn-App zu zählen, sondern auch die ausgesendeten Bluetooth- und WLAN-Suchsignale generell. Dadurch können deutlich mehr Geräte in der Umgebung erfasst werden. Dies ist datenschutzrechtlich aber zumindest diskutabel und es müssten sehr hohe Anforderungen an die Umsetzung gestellt werden, sodass keine Identifier, vereinfacht ausgedrückt die Identitätsmerkmale eines Geräts, gespeichert, sondern nur die Anzahl der Geräte verarbeitet werden. Diese Information müssten außerdem nach kurzer Zeit gelöscht werden und dürften das Gerät nicht verlassen. Eine Speicherung wäre also auch hier dezentral. Wir möchten diesen Gedanken erst einmal zur Diskussion stellen. Auch bei der ausschließlichen Betrachtung der Kurzschlüssel, ohne sonstige Bluetooth- oder WLAN-Signale, wäre dieses Feature bereits ein Fortschritt zur Sensibilisierung bei Clustersituationen. Apple und Google wären gefragt, dies in ihren Betriebssystemen beziehungsweise in ihrem Exposure-Notification-Framework zu implementieren.

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3) Clustererkennung in der Vergangenheit

Das oben genannte Verfahren der Clustererkennung in Echtzeit kann auch für die Warnfunktion der App selbst genutzt werden. Es macht einen Unterschied, ob der Risikokontakt in einer Einzelbegegnung oder Clustersituation stattgefunden hat. In einer Clustersituation ist nicht nur das Risiko größer, dass sich auch andere Menschen infiziert haben. Auch das eigene Risiko könnte erhöht sein, da Menschenansammlungen in der Regel mit einer höheren Aerosolkonzentration einhergehen, also mit mehr Partikeln in der Luft. Dies gilt vor allem für Begegnungen im Innenraum oder wenn Menschen lange zusammenstehen. Daher könnte die Clusterauswertung der Corona-Warn-App helfen, das Risiko der Kontakte präziser einzuschätzen. Aktuell unterscheidet die App bei der Risikobewertung einer potenziellen Infektion durch Nutzer X nur zwischen drei Kategorien, wobei die erste für die Nutzerinnen und Nutzer gar nicht sichtbar ist:

  • Das Gerät von X war viele Meter entfernt und wird von der Corona-Warn-App gar nicht für die Risikobewertung betrachtet. Der Nutzer beziehungsweise die Nutzerin erfährt überhaupt nichts von diesem Kontakt.
  • Niedriges Risiko (die Anzeige in der App bleibt grün): Das Gerät von X war nur wenige Minuten sehr nah oder über längere Zeit circa acht Meter entfernt.
  • Erhöhtes Risiko (es wird aktiv über die App gewarnt): Über ein kompliziertes Berechnungssystem wird festgelegt, wer direkt gewarnt wird. Dies betrifft vor allem die Personen, die längere Zeit näheren Kontakt zu dem Gerät von X hatten.

Wenn die App Clustersituationen gut erkennen kann, wäre es auch denkbar, dass Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Clusters per Push-Nachricht gewarnt werden, die keinen direkten Kontakt zum Infizierten gehabt haben. Gerade eine solche Funktion wäre sehr wertvoll. Es hat sich herausgestellt, dass in Clustersituationen die Entfernung von Infizierten zu einem bestimmten Zeitpunkt, in dem das Smartphone die Messung vornimmt, oft nicht entscheidend ist, sondern die Menge der Coronaviren in der Luft, die durch Aerosole eingeatmet werden können. Über die neue Funktion könnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Clusterveranstaltung mit einem Infizierten auch dann gewarnt werden, wenn sie über die klassischen Warnkomponenten der Corona-App nicht informiert worden wären. Zum Beispiel, weil der Abstand zum Infizierten für eine klassische, direkte Übertragung über Tröpfchen zu groß gewesen wäre.

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4) Kontakttagebuch

Ursprünglich war die Corona-Tracing-App auch als eine Art automatisiertes Kontakttagebuch gedacht: Eine Person, deren Name ein Infizierter nicht kennt, die aber trotzdem einem Infektionsrisiko ausgesetzt war, soll durch die App von ihrem Risiko erfahren können. Doch dies funktioniert nur, wenn alle Menschen in Deutschland – oder zumindest ein Großteil – die App verwenden. Das ist leider noch nicht der Fall. Ein zusätzliches manuelles Vermerken von Kontakten oder Menschenansammlungen ist daher notwendig.

Die Corona-Warn-App 2.0 könnte durch das Erstellen einer kurzen Notiz für jeden Tag helfen: Man kann in der App notieren, mit wem man sich getroffen hat. Denkbar wäre, dass die Corona-Warn-App auf freiwilliger Basis zu einem eingestellten Zeitpunkt eine Push-Notification anzeigt. Innerhalb der App gäbe es eine kleine Notizfunktion, um für den Tag zu vermerken, mit wem man Kontakt hatte oder ob man an größeren Ereignissen teilgenommen hat. Selbstverständlich wäre die Verwendung auch dieser Funktion freiwillig, die Daten würden nur lokal gespeichert, niemals übertragen und nach 14 Tagen gelöscht.

Sie würde das Gedächtnis der Nutzerinnen und Nutzer im Falle einer Infektion stützen und so möglicherweise auch Kontakte beinhalten, die sonst in Vergessenheit geraten würden. Die Push-Notification hätte noch einen weiteren psychologischen Effekt: Sie erinnert die Nutzerin beziehungsweise den Nutzer an die Anwendung. Durch das dann häufigere Öffnen der App könnte auch das lästige Problem mit der teils fehlerhaften Hintergrundaktualisierung umgangen werden.

Der kommende Herbst und Winter werden mit Bezug zur Pandemie noch einmal anstrengend. Erst im Frühling 2021 ist eine Entspannung der Situation zu erwarten, wenn mit einer Impfung, besseren Behandlungsmöglichkeiten und Schnelltests zu rechnen ist. Daher ist es jetzt notwendig, sich optimal auf die kommenden Monate einzustellen. Die vorgestellten vier Punkte zur Erweiterung der Corona-Warn-App können dabei einen erheblichen Beitrag leisten.

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