Wer sind nur diese Risiko-Begegnungen? – Seite 1

Wer regelmäßig in die Corona-Warn-App schaut, der wird sich vielleicht schon häufiger gefragt haben: Woher kommen meine Risikobegegnungen? Zwar registriert die App, wenn man sich kürzlich in der Nähe einer Person befunden hat, der später eine Infektion mit dem Coronavirus diagnostiziert wird, als auch wie riskant die Begegnung gewesen sein könnte. Aber wann man den Kontakt genau hatte oder wo, das ist nicht vermerkt.  

Hatte Bundeskanzleramtsminister Helge Braun die App bei der Vorstellung noch als "die beste" bezeichnet, ist die anfängliche Begeisterung mittlerweile der Ernüchterung gewichen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bezeichnete die App kürzlich gegenüber der Funke Mediengruppe als "zahnlose[n] Tiger", sie habe kaum eine warnende Wirkung und brauche ein Update (wobei er konkrete Vorschläge vermied). Angestellte von Gesundheitsämtern haben schon vor Monaten gesagt, sie wünschten sich mehr Daten von der App. IT-Forscherinnen und -Forscher bezweifeln gar die Wirksamkeit der App insgesamt.

Eigentlich soll die App dabei helfen, Infektionsketten zu brechen, indem sie Menschen vor einer möglichen Infektion warnt, noch bevor sie erste Symptome oder überhaupt Symptome bemerken. Begegnen sich zwei Menschen mit ihren Smartphones und auf beiden ist die App installiert, tauschen sie ständig wechselnde Schlüssel aus, die auf dem Smartphone gespeichert werden. Stellt sich später heraus, dass einer von ihnen sich mit dem Coronavirus infiziert hat, kann er seine Schlüssel auf einen Server hochladen. Auf dem Smartphone der anderen Person werden die Schlüssel dann abgeglichen und ihr Infektionsrisiko ermittelt. Ist das Risiko hoch, sollte sie sich testen lassen, noch bevor sie versehentlich weitere Menschen ansteckt.

Datenschutz first, Details second

Die App ermittelt das Risiko einer Ansteckung, indem sie berechnet, was für einen Abstand die Smartphones mutmaßlich zueinander hatten und wie lange der Kontakt war. War man mehr als acht Meter voneinander entfernt und das weniger als zehn Minuten lang, dürfte das Ansteckungsrisiko in der App als gering erachtet werden, dennoch können auch solche Zufallsbegegnungen als Kontakte mit niedrigem Risiko angezeigt werden. Trotzdem ist das nur ein Richtwert. Fand die Begegnung beispielsweise in einem nicht belüfteten Raum ohne Masken statt, kann das Risiko höher sein als in der App angegeben. Nur können Nutzerinnen und Nutzer das selbst nicht einschätzen, weil sie nicht wissen, wann und wo der Kontakt stattgefunden hat. Gestern im Park? Beim Wochenendeinkauf im Supermarkt? Beim Plausch mit der besten Freundin im überfüllten Café?

Dass solche Daten nicht übermittelt werden, hat einen guten Grund: Die Corona-Warn-App wurde so konzipiert, dass sie keinen Rückschluss auf Bewegungsmuster zulassen soll. Denn allein durch den Zeitpunkt und den Ort von Treffen ließe sich möglicherweise zurückverfolgen, wer diese Kontakte hatte – und somit auf die infizierte Person selbst. Zugleich könnte das Wissen darüber, bei wem man sich potenziell angesteckt hat, auch zu Diskriminierung oder Vorwürfen gegenüber dieser Person führen – selbst wenn gar nicht eindeutig geklärt werden kann, ob der Risikokontakt im Café der Bekannte war, den man dort getroffen hat, oder die Frau am Nachbartisch.

Freiwillige vor

Trotzdem können mehr Informationen über den Risikokontakt den Gewarnten dabei helfen, die Situation besser einzuschätzen – weil sie zum Beispiel nachvollziehen können, ob der Kontakt draußen oder drinnen zustande kam, wen sie am Tag darauf getroffen haben und auch warnen sollten oder wenn sie mit mehreren Menschen unterwegs waren, die die App nicht installiert haben, aber trotzdem gewarnt werden sollten. Schon Anfang September haben der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach und der Informatiker und D64-Co-Vorsitzende Henning Tillmann in einem Gastbeitrag auf ZEIT ONLINE ein entsprechendes Upgrade für die Corona-Warn-App gefordert. So wünschten sie sich eine freiwillige Funktion, durch die Menschen mehr Informationen, etwa über den Zeitpunkt des Kontakts, freigeben könnten. Auch schlugen sie ein Kontakttagebuch in der App vor, in dem jede Nutzerin ihre Kontakte aufschreiben könnte.

Tatsächlich ist die App über die vergangenen Monate stets weiterentwickelt worden, Fehler wurden behoben und Informationen ergänzt. Schon vor zwei Wochen hatte das Robert Koch-Institut ZEIT ONLINE gegenüber angekündigt, dass infizierte Nutzerinnen und Nutzer künftig freiwillig angeben könnten, welche Symptome sie seit wann haben. Seit Anfang der Woche ist die Funktion nun in der App verfügbar. In einem in der App integrierten Kalender kann man notieren, ab wann welche Symptome aufgetreten sind.

"Die Infektiösität ist nicht statisch, sondern ändert sich über die Zeit", heißt es vom Robert Koch-Institut (RKI) auf Nachfrage. "Die Berechnung des Übertragungsrisikos verbessert sich." Dies ermögliche eine noch genauere Einschätzung dazu, wie hoch das Infektionsrisiko zum Zeitpunkt der Begegnung mit einer anderen Nutzerin oder einem anderen Nutzer gewesen sei. Durch diese Informationen könne man Begegnungen, bei denen ein höheres Infektionsrisiko bestand, stärker gewichten. Bedeutet vermutlich: Wenn jemand beispielsweise einen Tag vor Beginn der Symptome Kontakt mit der Infizierten hatte, war das Ansteckungsrisiko möglicherweise größer, als wenn der Kontakt schon zehn Tage zuvor war, weil man aktuell von einer durchschnittlichen Inkubationszeit von fünf bis sechs Tagen ausgeht.

Nach Angaben des Spiegels gibt es Überlegungen dazu, ob man Statistiken zur Verbreitung des Coronavirus in die App einbettet. Die Einführung eines Kontakttagebuchs in der App wird aktuell ebenfalls geprüft. Auf Nachfrage bestätigte das RKI die Prüfung "für ein nächstes Release". Man befürworte grundsätzlich, dass tägliche Kontaktnotizen als Erinnerungsstütze im Falle einer späteren positiven Testung erstellt würden, schreibt das RKI. Angesichts des Ziels der Corona-Warn-App, datensparsam zu sein, sei die Integration eines Kontakttagebuchs in der Corona-Warn-App allerdings "herausfordernd". 

"Die Leute können nicht sagen, wo sie sich angesteckt haben"

Klar, auch ein Kontakttagebuch beantwortet nicht die Frage, wer denn nun der Risikokontakt in der App war. Allerdings wird der natürlich ohnehin nur jenen angezeigt, die die Corona-Warn-App regelmäßig nutzen. Und ein Kontakttagebuch, ob analog oder digital, kann ein zusätzliches Mittel sein, um Infektionsketten aufzuspüren: Man kann Freundinnen und Bekannte warnen, wenn man selbst ein positives Testergebnis erhält und vorher mit ihnen in Kontakt stand. Und diese frühzeitige Benachrichtigung ist ja letztlich auch das Ziel der App.

Das könnte auch Gesundheitsämter entlasten. Immer wieder berichten Menschen davon, dass sie erst spät von den Behörden kontaktiert werden, was schlicht daran liegt, dass die in vielen Regionen überlastet sind mit der Kontaktverfolgung. Zudem sind die Erinnerungen von Infizierten oft lückenhaft. "Die Leute können nicht sagen, wo sie sich angesteckt haben", sagte der Virologe Christian Drosten kürzlich im NDR-Podcast.

In einem Kontakttagebuch könnte man nicht nur Begegnungen mit Menschen, die man kennt, festhalten, sondern auch Situationen, in denen man sich unwohl gefühlt hat – zum Beispiel in einem Raum, in dem man trotz Maske zu eng beieinanderstand oder bei einem Restaurantbesuch –, die man sonst aber vielleicht vergessen hätte. "Wenn man in ein Restaurant geht und man hatte eigentlich vor, draußen zu sitzen, aber jetzt ist es doch kalt geworden und der reservierte Tisch ist drinnen – okay, man geht rein und macht das eben mal. Würde ich mich in zehn Tagen daran erinnern?", fragte Drosten.

Corona-Maßnahmen - Die zweite Welle Auch frühere Pandemien flammten überraschend wieder auf. Warum eine zweite Infektionswelle oft die gefährlichere war, erklärt der Medizinhistoriker Philipp Osten.

Durch ein Kontakttagebuch könnten Drosten zufolge nach zwei Effekte eintreten: Mehr Menschen könnten sich möglicherweise daran erinnern, wo sie sich wahrscheinlich infiziert haben. Die Gesundheitsämter könnten dann vielleicht besser Quellcluster erkennen, also Menschenansammlungen wie Familienfeiern, bei denen sich möglicherweise mehrere Personen mit dem Coronavirus angesteckt, aber es nicht unbedingt bemerkt haben. Diese Menschen könnten sich dann ebenfalls frühzeitig in Quarantäne begeben. Der zweite Effekt sei, "dass sich alle Leute in der Gesellschaft im Alltag mehr klarmachen würden, dass sie immer mal in solche Situationen reingeraten und dass sie diese Situation in Zukunft vermeiden, weil sie dafür empfindlicher und sensibler werden".

Bitte genau hinschauen beim Datenschutz

Kontakttagebücher kann man auf Papier führen, aber wie für alles gibt es natürlich auch dafür mittlerweile Apps. Wer lieber digitale Dienste nutzen will, sollte allerdings darauf achten, was die jeweiligen Apps tatsächlich leisten. Denn auch bei Kontakttagebüchern geht es, wie bei der Corona-Warn-App, um sensible Daten: Dort sollten Namen, eventuell Adressen und Kontaktdaten von Personen notiert werden, sofern man sie kennt, und Datum und Ort des Kontakts. Und die Informationen sollten nicht nur nach zwei Wochen gelöscht werden, sondern auch möglichst nicht an andere Menschen gelangen oder für andere Zwecke genutzt werden können.

Dafür lohnt es sich, die Hinweise auf der Website und in den Apps genau zu lesen. Zur App Coronika, deren erste Version bereits Mitte März veröffentlicht wurde, schreiben Verantwortliche schon auf der Website klar: "Deine Daten gehören dir." Die Einträge würden lokal auf dem Gerät bleiben, im Falle einer Erkrankung hülfen die Einträge den Gesundheitsämtern, die Kontakte zu informieren. Alexander Braden, Geschäftsführer des Düsseldorfer Designstudios Kreativzirkel, das hinter der App steht, schreibt auf Nachfrage: "Wir erfassen keinerlei persönliche Daten, keine Information wird von der App an einen Service oder Ähnliches übertragen. Alle Informationen bleiben ausschließlich auf dem Gerät der Anwender*in und sind durch uns zu keiner Zeit einsehbar."

Die Einträge werden seinen Angaben zufolge lokal für 21 Tage auf dem Gerät gespeichert und dann automatisch gelöscht. Die App ist bisher nur für Android-Geräte verfügbar, auf eine Zulassung für Apples App Store warte man noch, schreibt Braden: "Da wir keine Gesundheitsorganisation sind, ist es uns gemäß der Apple-Store-Richtlinien nicht erlaubt, die App selbst zu veröffentlichen." Kreativzirkel hat die App komplett aus eigenen Mitteln finanziert und will sie auch in Zukunft nicht für kommerzielle Zwecke nutzen. Einem Kontakttagebuch in der Corona-Warn-App steht Braden offen gegenüber: "Das wäre wunderbar, denn dann hätten wir erreicht, dass möglichst viele Menschen Zugang zu einem Kontakttagebuch haben und dies nutzen können."

Auch die App DoctorBox bietet ein solches Kontakttagebuch an, allerdings zusätzlich über Beacons. Das sind kleine Sender, die ein Signal an das Smartphone schicken. Ist darauf die App installiert, wird automatisch Ort und Zeitpunkt des Aufenthalts dort gespeichert. Bisher sei man mit der Ausstattung von mehr als 50.000 Geschäften beschäftigt, heißt es auf Nachfrage. Die Daten können Nutzerinnen und Nutzer demnach lokal speichern, aber auch in der Cloud von DoctorBox. Daten sammle man nicht: "Die Beacons funktionieren wie ein Leuchtturm, der zwar Schiffen den Weg aufzeigt, aber auch nicht weiß, mit wem er es zu tun hat", schreibt Gründer Stefan Heilmann auf Nachfrage. Auch manuell kann man Begegnungen eintragen. Weil verschiedene Apps den Umgang mit Daten aber unterschiedlich handhaben, lohnt sich bei jedem Anbieter ein genaues Hinschauen, ob Daten gesammelt werden, wo sie gespeichert sind und wann sie gelöscht werden.

Um das mal klar festzuhalten: Gäbe es die App nicht, hätten wir alle weitergemacht wie vor dem Testergebnis.
Johnny Haeusler

Ein Kontakttagebuch kann die Corona-Warn-App also gut ergänzen, doch es ersetzt sie nicht. Denn es hilft erst, wenn man schon von einem Risikokontakt weiß und dann positiv getestet wurde. Die App hingegen kann konkret vor Risikokontakten warnen, von denen man gar nicht weiß, dass man sie hatte. Der Blogger und re:publica-Mitbegründer Johnny Haeusler brachte das kürzlich in einem Beitrag in seinem Spreeblick-Blog gut auf den Punkt. Sein Sohn war über die App vor einem Risikokontakt gewarnt worden und hatte sich testen lassen. Das Ergebnis: positiv. "Hätte er also vor einer Woche nicht erfahren, dass er Risikokontakte hatte, hätte er sich nicht testen lassen", schreibt Haeusler. "Denn da er keine Symptome hatte und hat, wäre er gar nicht auf die Idee gekommen, vielleicht erkrankt zu sein. Er wäre also unwissend positiv gewesen und hätte das Virus bei aller Vorsicht weiter verbreitet. Und wir dann auch."  

Haeuslers Fazit: "Um das mal klar festzuhalten: Gäbe es die App nicht, hätten wir alle weitergemacht wie vor dem Testergebnis."