In der EU hätte Donald Trump künftig klar definierte Rechte gegenüber Twitter

Der Sturm aufs Capitol löst auch Fragen zur Regulierung von Technologiekonzernen aus. In Brüssel glauben einige, die Antwort darauf bereits gefunden zu haben.

Christoph G. Schmutz, Brüssel, Daniel Steinvorth, Brüssel
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Sturm auf das serbische Parlament in Belgrad am 10. Juli. Auch Europa ist nicht gefeit gegen Angriffe auf die Institutionen der Demokratie.

Sturm auf das serbische Parlament in Belgrad am 10. Juli. Auch Europa ist nicht gefeit gegen Angriffe auf die Institutionen der Demokratie.

Darko Vojinovic / AP

Man müsse den Sturm aufs Capitol in Washington als «Weckruf» begreifen, sagte am Wochenende der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell. Dabei sind wütende Aktivisten, die in Parlamente eindringen, kein unbekanntes Phänomen für Europa.

Erst im August stürmten Anhänger der sogenannten Querdenker-Bewegung die Stufen des Reichstages in Berlin. Im Monat zuvor waren nationalistische Demonstranten in das Parlamentsgebäude in Belgrad eingefallen. In beiden Fällen war es der aufgebrachten Menge, anders als in den USA, nicht gelungen, Abgeordnetenbüros zu verwüsten. Auch kamen keine Menschen ums Leben. Doch gefeit sind die europäischen Demokratien gegen solche Szenen keineswegs.

Schon lange rätselt man in Brüssel, wie Hetze und Desinformationskampagnen über soziale Netzwerke unterbunden werden können, ohne das Recht auf freie Meinungsäusserung zu beschneiden. Den Unruhen in Washington waren aufstachelnde Tweets und Falschnachrichten Donald Trumps vorausgegangen. Facebook und Twitter entschieden daher in einem beispiellosen Schritt, die entsprechenden Internetkonten des amerikanischen Präsidenten zu sperren. Das sorgte bei der EU-Kommission allerdings für Stirnrunzeln.

«Ein 9/11 für die sozialen Netzwerke»

EU-Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton sagte am Montag, er sei «perplex» darüber, dass die Online-Plattformen Trump den Stecker gezogen hatten. Sollte eine solche Entscheidung wirklich in den Händen von Technologiefirmen ohne demokratische Legitimität liegen? Immerhin, so schreibt Breton in einem Gastkommentar für das Nachrichtenportal «Politico», hätten die Konzerne nun endlich ihre «Verantwortung gegenüber der Gesellschaft» anerkannt.

Sie müssten sich aber die Frage gefallen lassen, warum sie es nicht geschafft hätten, die «Fake-News und Hassreden, die zu dem Angriff führten», von vornherein zu verhindern. Man könne von einem Wendepunkt bei der Regulierung von Online-Netzwerken sprechen, meint Breton: «So wie der 11. September einen Paradigmenwechsel bei der weltweiten Sicherheitspolitik hervorgerufen hat, werden wir 20 Jahre später Zeuge eines Vorher-Nachher bei der Rolle von digitalen Plattformen in unserer Demokratie.»

Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht die Sperrung der Accounts von Trump kritisch. Ihr Sprecher Steffen Seibert bezeichnete die Meinungsfreiheit am Montag als ein «Grundrecht von elementarer Bedeutung», in das nur innerhalb des Rahmens eingegriffen werden könne, den der Gesetzgeber definiere – nicht die Unternehmensführung von Social-Media-Konzernen. Ähnlich argumentiert der französische Finanzminister Bruno Le Maire, der in der «digitalen Oligarchie» gar eine «Bedrohung für die Staaten und die Demokratie» sieht. Die Regulierung der Online-Netzwerke sei allein Aufgabe des Staates und der Justiz. In Brüssel verweist man deswegen auf die jüngsten Vorschläge der Kommission zur Digitalpolitik.

EU plant Suspendierungspflicht für Plattformen

Tatsächlich sieht das im Dezember vorgestellte Gesetz über digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) ähnliche Massnahmen vor, wie sie Twitter und Facebook nach dem Sturm auf das Capitol in Eigenregie getroffen haben. Wäre die europäische DSA in Kraft und würden sich vergleichbare Ereignisse in der EU zutragen, müsste Twitter unter Umständen von Gesetzes wegen das Konto eines Nutzers wie Donald Trump deaktivieren. Aber dieser hätte auch klar definierte Rechte, um dagegen vorzugehen.

Die DSA legt fest, wer für Inhalte im Internet haftet. Grundsätzlich gilt weiter – und wie in den USA –, dass die Plattformen nicht für die Posts ihrer Nutzer zur Verantwortung gezogen werden können. Das ändert sich, sobald Twitter und Co. von Nutzern auf mögliche illegale Inhalte aufmerksam gemacht werden. Dafür müssen die Konzerne ein Meldesystem einrichten.

Dann haben die Firmen «schnell» («expeditiously») zu handeln und Posts gegebenenfalls zu entfernen. Ob es sich tatsächlich um einen Gesetzesverstoss handelt, müssen aber die Unternehmen in der Regel offensichtlich selbst beurteilen. Das ist nicht unproblematisch.

Künftig sollen ferner die «zuständigen nationalen Justiz- oder Verwaltungsbehörden» in der EU den Plattformen einen förmlichen «Befehl zum Handeln» geben können. Dann nämlich, wenn sie Inhalte identifiziert haben, die gegen EU- oder nationale Gesetze verstossen und damit illegal sind.

Facebook und Co. entfernen Inhalte und sperren Konten aber auch, wenn ihre eigenen Nutzungsbedingungen verletzt werden. Auf dieser Grundlage gingen die Firmen gegen Trump vor. Die DSA macht solche Geschäftsbedingungen verpflichtend, schreibt aber deren objektive und verhältnismässige Anwendung unter Einhaltung der Grundrechte vor. Darüber ist jährlich Bericht zu erstatten.

Artikel 20 der DSA schreibt zudem vor, dass ein Unternehmen wie Twitter einen Account unter gewissen Bedingungen «suspendieren» muss, wenn der Nutzer «häufig offensichtlich illegale Inhalte bereitstellt». Und gemäss Artikel 21 haben Online-Plattformen die Strafverfolgungs- oder Justizbehörden zu verständigen, wenn sie Verdacht auf eine «schwere Straftat» schöpfen, die «das Leben oder die Sicherheit von Personen gefährdet».

Beschwerdemöglichkeit für die Nutzer

Unter der DSA können Nutzer aber auch gegen Plattformen vorgehen, wenn sie wie Trump von einem Bannstrahl getroffen werden. Zunächst einmal muss die Firma begründen, wieso sie etwas löscht oder jemanden sperrt. Sodann haben Twitter und Co. ein Beschwerdesystem einzurichten. Der dabei von den Konzernen getroffene Entscheid kann an eine unabhängige, aussergerichtliche Rekurs-Instanz weitergezogen werden.

Neben der DSA, einer Art Grundgerüst der Regulierung für Online-Dienste, sind in anderen Gesetzen Präzisierungen für einzelne Sachverhalte vorgesehen. Eine neue Verordnung soll Internetplattformen dazu verpflichten, terroristische Inhalte künftig in weniger als einer Stunde nach einer entsprechenden Anordnung durch die Behörden zu löschen.

Die Reaktion der amerikanischen Konzerne nach dem Sturm auf das Capitol verleiht einer Diskussion neue Dringlichkeit, die in der EU längst begonnen hat.