Wetten, wir leben noch? – Seite 1

Treffen sich ein Optimist und ein Pessimist. Fragt der Optimist: Was glaubst du, wie lange es noch dauert, bis unsere Gesellschaft zusammenbricht? Sagt der Pessimist: Puh, schwer zu sagen, vielleicht 25 Jahre? Sagt der Optimist: Ich wette 1.000 Dollar, dass es nicht ansatzweise so weit kommt. Antwortet der Pessimist: Okay, Deal, wir sprechen uns in 25 Jahren wieder – wenn wir dann noch leben.

So ungefähr lief das Gespräch ab, das Kevin Kelly und Kirkpatrick Sale im Jahr 1995 führten. Kelly war zu diesem Zeitpunkt leitender Redakteur des noch jungen Technikmagazins Wired und gilt bis heute als Techno-Utopist: Für Kelly ist Technologie ein "lebender Organismus", der Antworten auf die meisten Probleme der Welt hat. Kirkpatrick Sale ist das Gegenteil: 1995 hatte er gerade ein provokantes Buch über die Ludditen des 19. Jahrhunderts geschrieben. Ausgehend von der Geschichte der englischen Arbeiter, die gegen die Technologie der Industrialisierung protestierten, leitete er eine moderne Revolution gegen das Computerzeitalter ab. Computer beschrieb Sale als "Werk des Teufels", das Ungleichheit und Umweltprobleme verursacht.

Ein Technikoptimist und ein Neo-Luddit also. Gute Voraussetzungen für ein hitziges Interview, das im März 1995 in New York stattfand und zu der erwähnten Wette führte. Nachdem Sale argumentiert hatte, dass die Gesellschaft, nicht zuletzt aufgrund der technischen Entwicklungen, kurz vor einem Kollaps stünde, brachte Kelly die Wette ins Spiel: "Ich wette, dass wir im Jahr 2020 nicht ansatzweise das Desaster erleben, das Sie prophezeien", sagte Kelly. Sale willigte ein – was hatte er schon zu verlieren, wenn seine Einschätzung wahr werden würde? 1.000 US-Dollar wären nach dem totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch ohnehin nicht mehr viel wert.

Zahltag nach 25 Jahren

Nun sind 25 Jahre vergangen und das bedeutet: Zahltag! Aber welcher der beiden Männer hatte recht? Hat Technik die Gesellschaft in dem Maße zerstört, wie es Kirkpatrick Sale vorhergesagt hatte? Oder hat uns das Computerzeitalter im vergangenen Vierteljahrhundert ungeahnten Wohlstand beschert, wie es Kevin Kelly erwartete? Die Entscheidung – und die Schecks – übertrugen beide Männer ihrem gemeinsamen Verleger William Patrick. Wie es in einem aktuellen Artikel in Wired heißt, fiel sie ihm gar nicht so leicht, wie man denken könnte. Schon gar nicht nach dem Krisenjahr 2020.

Keine Frage, unsere Gesellschaft und Zivilisation (wie auch immer man sie definieren mag) existieren noch. Und allein die Tatsache, dass Sie diesen Text gerade über das Internet auf ihrem Computer oder Smartphone lesen, beweist, dass das Computerzeitalter nicht zusammengebrochen ist. Mehr noch, die bis dato wohl herausragendste Entwicklung des 21. Jahrhunderts, nämlich die schnelle Entwicklung eines Corona-Impfstoffs, wäre ohne moderne Technologie, ohne Computer, Gentechnik und künstliche Intelligenz, schlicht nicht möglich gewesen. Nimmt man den totalen Kollaps als Maßstab, wäre der Optimist Kevin Kelly also der klare Gewinner.

Tatsächlich war die Wette aber an drei Konditionen gebunden, die von beiden Männern abgesprochen worden waren und erfüllt werden mussten. Bevor William Patrick seine finale Entscheidung zum Ende des vergangenen Jahres bekannt gab, konnten sowohl Kelly als auch Sale dem Juror noch einmal ihre Argumente vorlegen.

Die erste Kondition war der ökonomische Kollaps: Kirkpatrick Sale prophezeite, dass führende Währungen wie der Dollar im Jahr 2020 wertlos seien. Das hat sich definitiv nicht bestätigt. Der Dollar ist immer noch vergleichsweise stabil, ebenso der Yen und der Euro (den es 1995 natürlich noch nicht gab). Und dass sich die globale Wirtschaft selbst nach der Finanzkrise und weltweiten Rezession 2008 so schnell erholt hat, zeugt von Widerstandsfähigkeit. Die Runde ging deshalb an Kevin Kelly.

Die weltweite Umweltkatastrophe ist schon da

Die zweite Kondition war eine weltweite Umweltkatastrophe. Wovor 1995 nur wenige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen warnten, ist 25 Jahre später Realität in Form des Klimawandels. Auch wenn man noch nicht von einem "Klimakollaps" sprechen kann, sind die Entwicklungen bedenklich: Die Erderwärmung schreitet schneller voran denn je, Waldbrände werden häufiger, Millionen Pflanzen und Tiere sind vom Aussterben bedroht. Technologie hat ihren Teil dazu beigetragen, wie es Kirkpatrick Sale beschrieben hat: Mehr Industrie führt zu mehr Emissionen, Klimaanlagen und Rechenzentren benötigen Strom, Computer Rohstoffe, die mit teils zerstörerischen Maßnahmen gefördert werden. Gleichzeitig ist Technologie natürlich, man denke an erneuerbare Energien und Elektroautos, ein Weg, um die vereinbarten Klimaziele doch noch erfüllen zu können. Dennoch, so erklärt William Patrick, befänden wir uns jetzt schon in einer globalen Katastrophe. Punkt für Sale.

Die dritte Kondition war der Konflikt zwischen den Armen und Reichen. Für Sale öffnet Technologie die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter, bis es schließlich zum Klassenkampf kommt. Für Kevin Kelly dagegen hat sie überhaupt erst dazu geführt, dass heute mehr Menschen denn je in Wohlstand leben. Wer hat recht? Die Antwort liegt aus Sicht von William Patrick dazwischen: Einerseits profitierten gerade Länder wie Indien oder China von der Globalisierung und neuen technischen Entwicklungen. Andererseits sehe man aber auch an Entwicklungen wie der gesellschaftlichen Spaltung in den USA und den Spannungen innerhalb der EU, dass das soziale Geflecht in vielen Gesellschaften Risse bekommen hat und die soziale Ungleichheit auch in den Industrienationen steigt. Ein Patt also.

Würde man die einzelnen Argumente nun zusammenführen, stünde es unentschieden. Allerdings hatte der Technikpessimist Sale in der ursprünglichen Wette darauf bestanden, dass alle drei Konditionen erfüllt sein müssten, um die Wette zu gewinnen. Weil das nicht der Fall ist, entschied sich Patrick letztlich, Kelly zum Gewinner zu ernennen. Der Optimist hat somit gewonnen: Hurra, wir leben noch!

Ein schlechter Verlierer

Die Wette hat am Ende natürlich weder wissenschaftlichen Mehrwert noch führt sie zu neuen Erkenntnissen. Doch wie Wired schreibt, zeigt sie, wie sich selbst extreme Positionen hinsichtlich neuer Technologien über einen längeren Zeitraum von einem Vierteljahrhundert annähern können.

Als Kevin Kelly seinen ideologischen Widersacher 1995 konfrontierte, war der Journalist überzeugt von den positiven Verheißungen des World Wide Web. Tatsächlich hat das Internet in den folgenden 25 Jahren zu mehr Vernetzung, neuen Geschäftsmodellen, Geräten und nahezu unendlicher Informationsvielfalt geführt. Gleichzeitig dominiert heute eine Handvoll Firmen die digitale Kommunikation, dazu spalten Phänomene wie Fake-News und Hatespeech die Gesellschaft auf neue Art und Weise. Und was Kelly ebenfalls vergaß: Von technologischem Fortschritt profitieren immer zunächst vor allem jene Menschen, die sich ihn auch leisten können.

In dieser Hinsicht nahm Sale mit seinen computerfeindlichen Thesen gewissermaßen den digital divide vorweg, also die gesellschaftliche Spaltung zwischen den Vernetzten und den Abgehängten. Doch wie Wired schreibt, habe Sale nicht "den menschlichen Einfallsreichtum berücksichtigt", der uns bislang davor bewahrt hat, wieder in Höhlen zu leben und mit Brieftauben zu kommunizieren. Wie die maschinenzerstörenden Ludditen 150 Jahre vor ihm, war auch Sale zu kurzsichtig oder schlicht ignorant, um die Vorzüge des technischen Fortschritts zu sehen.

Apropos Ignoranz: Seinen Wetteinsatz will Sale nicht begleichen, beziehungsweise an den Tierschutz spenden, wie es Kevin Kelly gefordert hat. Er sieht sich nämlich nicht als Verlierer: "So wie sich die Katastrophen entwickeln, zeigt das eindeutig, dass die Welt eher meinen Prognosen folgt." Pessimisten sind offenbar schlechte Verlierer.