Wollen wir diese Zukunft im Theater?

Die Bühnen in München, Berlin und Salzburg betreten mit Streaming-Angeboten künstlerisches Neuland. Wohin die Reise gehen soll, wird auch nach einem mehrstündigen Selbsttest indes nicht klar. Umso deutlicher zeichnen sich die Probleme des Formats ab.

Bernd Noack
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Nach fünf Stunden vor dem Bildschirm musste endlich Schluss sein. Über 300 Minuten Theater, das war doch früher gar nicht so schlimm! Bei Castorf hielten wir das lässig aus, auf Festivals eilten wir von einer Vorstellung zur nächsten und schafften es auch später noch, drei Stücke im Kopf zu ordnen und auseinanderzuhalten. Jetzt aber, am Schreibtisch und vor dem Display, das die Dimension einer Bühne kaum vermitteln kann, liess langsam die Konzentration nach. Beim «richtigen» Fernsehen hätten wir vielleicht ab und an umgeschaltet – hier, beim Theater-Streaming, blieben wir dran, verkniffen uns das Vorspulen, die Pause. Zumindest rauchen konnten wir, bei Bedarf, während der Vorstellung.

Unsere Wahl war auf Inszenierungen aus München, Berlin und Salzburg gefallen, weil sie ganz unterschiedliche Herangehensweisen an das Theater versprachen, das bekanntlich derzeit nicht leibhaftig, sondern nur durch elektronische Übertragung in die eigenen vier Wände zu erleben ist. Ob diese Art von Kunstvermittlung sinnvoll ist und ob man damit das Publikum wirklich bei der Stange halten kann – darüber sind sich Intendanten, Regisseure und Schauspieler alles andere als einig. Vielleicht deshalb wird am Anfang oder am Ende einer Aufzeichnung oft ein Dramaturg ins Bild gesetzt, der etwas sehnsüchtig und fordernd sagt: «Wir sehen uns demnächst hier im Haus!»

`Die Stimme als Raumduft

Der Konsument wiederum fragt sich, was er da eigentlich gerade tut: ein Schauspiel gucken, dem die Dimensionen fehlen; oder einen Film, der so tut, als würde er nur für einen selbst gezeigt, immerhin versüsst durch das heimische Ambiente und eine Atmosphäre ohne Fremdhüsteln oder in den freien Blick gereckte Köpfe in den vorderen Reihen.

Das Prozedere ist in der Regel gleich: schriftliche Anmeldung, Zuteilung eines Links inklusive Zugangscode, dann kann es losgehen. Die Münchner Kammerspiele hatten Neues von Clemens J. Setz im Angebot: «Flüstern in stehenden Zügen» in der Regie von Visar Morina, ausdrücklich angekündigt als «Theater-Live-Film».

Tatsächlich fand die Aufführung zur selben Zeit auf der Bühne statt, in einem leeren Raum. Doch gerade diese garstig-komische Geschichte um einen zutiefst Einsamen, der verzweifelt Kontakt aufnimmt mit anonymen Hotline- und Callcenter-Sprechern, lässt sich so sehr mit der schon fast vergessenen, experimentellen Ästhetik der kleinen Fernsehspiele vergleichen, dass einem das Theater unendlich fern vorkommt. Ein Kammer-Setting, in dem die Kamera selten die ganze Spielfläche (eine Art hermetische Gummizelle) zeigt und stattdessen bedrängend heranzoomt an die beiden Protagonisten. «Die Stimme als Raumduft» wünsche man sich, schreibt Setz, aber sie verpufft, und nur die angestrengte Vorstellung, dass Bekim Latifi und Leoni Schulz da just im selben Augenblick Hunderte Kilometer entfernt (durchaus gut und intensiv) agieren, macht noch kein Theater aus dem Film.

Erinnerung an bessere Zeiten

Einen Hybrid der beiden Kunstformen liefert dagegen Claudia Bauer in der Berliner Volksbühne mit ihrer kühnen Bearbeitung und fremdtextlichen Überfrachtung von Ovids «Metamorphosen». Zu Beginn schon ein «work in progress», pendelt die Aufführung zwischen Garderoben- und Bühnenschauplatz und manifestiert sich im Verlauf dann als etwas redundantes Geschehen auf den Brettern und auf einer Leinwand hoch oben. Das erinnert ein bisschen an das alte Volksbühnen-Chaos, selbst die Souffleuse als «bessere Ordnung» darf nicht fehlen.

Alles etwas unübersichtlich in der Volksbühne: «Metamorphosen [overcoming mankind]» nach Ovid & Kompliz*innen in der Regie von Claudia Bauer.

Alles etwas unübersichtlich in der Volksbühne: «Metamorphosen [overcoming mankind]» nach Ovid & Kompliz*innen in der Regie von Claudia Bauer.

Julian Röder

Bauer hat Fragmente aus dem antiken Text zusammengepuzzelt, um von den Ruinen des Anthropozäns, von Schöpfung und Vergehen zu erzählen – also von den Verwandlungen des Menschen, der es bis heute nicht geschafft hat, seine Identität zu finden. Sintflut und Kapitalismuskritik, Mythos und Katastrophen, Covid und surreale Traumwelten, Slapstick und klassische Helden in kurzen Hosen, eine Diana unter der Dusche – alles wird mit wenig Sinn für einen Zusammenhang und -klang vermischt und im Türenklapp-Kabinett von hampelnden Wesen mit steifen Familie-Flöz-Masken tanzend und stürzend zelebriert wie ein Abgesang auf Vernunft und Verstand.

Die Musiker und Erzähler flimmern über die Leinwand und sind nur Stichwortgeber für die Karikaturen in dieser Nummernrevue des moralischen Ausverkaufs, in der das Theater zur Spielwiese für Crossover-Verliebte wird. Aber das war es ja hier in Berlin schon immer, und so konnte Bauer nicht mehr als eine abgefilmte Erinnerung an bessere Zeiten liefern.

Alles echtes Theater

Aber ob man es dann lieber doch so konventionell mag wie in Salzburg? Am dortigen Landestheater wird Thomas Bernhards einstiges Skandalstück «Heldenplatz» meist in der Totalen gegeben, will sagen: Wir sitzen vor dem Computer und sehen da vorne nur ganz klein die Spieler im grossen Guckkasten – ganz wie im richtigen Abonnentenleben.

Selten gibt es eine intensivere Charakterstudie in Nahaufnahme. Von dem famosen August Zirner als Robert etwa, der seinem verstorbenen Bruder mit angeekeltem Ausdruck die Verachtung für die Nazi-Österreicher ins Selbstmördergrab nachruft. Regisseurin Alexandra Liedtke motzt ihr solides und braves Bühnenhandwerk nicht mit filmischen Kapriolen auf. Sie vertraut ganz auf den Text um die verstörte und verunsicherte Trauergesellschaft im Wartesaal der Ausgestossenen mit ihrer Angst vor erneuten nationalsozialistischen Ausbrüchen. Das hat, erstaunlich, immer noch sprachliche Wucht und gar eine beängstigende Aktualität, auch wenn es ein wenig altbacken in Szene gesetzt ist. Im Abspann zeigt Liedtke die Bühnenarbeiter, wie sie in lustigem Kintopp-Tempo die Dekoration abbauen. Es war eben alles echtes Theater, was wir da aus der digitalen Ferne sahen.

Aber bei Thomas Bernhard heisst es auch: «Kein Mensch will die Zukunft.» Und wenn diese drei sehr unterschiedlichen Aufführungen ein Ausblick auf das sein sollten, was uns die Schauspielhäuser – heute notgedrungen, morgen aus ungebändigtem Spass am Möglichen – immer mehr bieten werden: nämlich die Vermischung der zur Verfügung stehenden Medien, den Verzicht auf die analoge Kunst zugunsten technischer Spielereien, die Inkaufnahme des abwesenden Zuschauers, dann kann man dem alten Bernhard eigentlich nur recht geben.

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