"Wir brauchen dringend mehr Menschen, die sich engagieren" – Seite 1

Wo entspringt noch mal der Nil? Wie heißt Angela Merkel gleich mit Geburtsnamen? Was war der Watergate-Skandal? Seit 20 Jahren beantwortet solche Fragen in Deutschland die Wikipedia. Der Jurist Lukas Mezger ist einer der 20.000 Ehrenamtlichen im deutschsprachigen Raum, die an der Onlineenzyklopädie mitarbeiten.

ZEIT ONLINE: Herr Mezger, Sie sind seit 2018 ehrenamtlich Vorsitzender des Vereins Wikimedia Deutschland, der die Onlineenzyklopädie Wikipedia maßgeblich unterstützt. Und schon seit 2005 schreiben Sie Artikel auf Wikipedia unter Ihrem Pseudonym Gnom. Was macht so viel Spaß an einer Arbeit, für die es kein Geld gibt?

Lukas Mezger: Einen Artikel auf Wikipedia zu veröffentlichen, fühlt sich an, als würde man im Garten ein neues Beet anlegen: Yippie-yeah! Mit einem Unterschied: Was ich auf Wikipedia erschaffe, ist nicht nur für mich da, sondern auch für andere. Und das gibt mir persönlich viel, auch weil ich fest daran glaube: Je mehr Wissen frei verfügbar ist, umso besser für die Welt.

ZEIT ONLINE: Ein Beet so anzulegen, dass es auch Früchte trägt, ist nicht ganz ohne – und es braucht Geduld, bis da was wächst. Viele Menschen schreckt das ab, es zu versuchen. Ist das bei Wikipedia anders?

Mezger: Wikipedia konkurriert in der Tat mit anderen Freizeitbeschäftigungen, die leichter von der Hand gehen: Mit dem Hund an die frische Luft, Candy Crush spielen oder Fotos auf Instagram hochladen und liken. Und ja, viele Menschen denken: "Ich bin doch gar nicht schlau genug, um an einer Enzyklopädie mitzuarbeiten." Aber das ist ein Irrtum. Ich bin Jurist, habe aber auch schon über Musiktheorie geschrieben, weil ich selbst gern Musik mache. Oder über den Seeleuteausweis, den Matrosen aus Übersee bei uns im Hamburger Hafen nutzen, um unkompliziert an Land gehen zu können. Und ich habe schon in unzähligen Artikeln Kleinigkeiten ergänzt oder korrigiert. Das Gute an Wikipedia ist: Jeder kann sich beteiligen und erst einmal nur ein bisschen jäten oder gießen, bevor er ein ganz neues Beet anlegt.

ZEIT ONLINE: Wenn ich zum ersten Mal ein Beet anlege, würde ich vermutlich eine Nachbarin oder einen Freund um Rat fragen, die das schon mal gemacht haben. Wer hilft mir bei Wikipedia?

Mezger: Die Wikipedia-Community vermittelt Neulingen gern Mentorinnen und Mentoren. Sie erleichtern die Arbeit am Anfang wirklich, wenn es darum geht, welche Quellen ein guter Artikel braucht oder wie man ihn strukturiert. Ein Beispiel: Mein Vater hat den Artikel über Nukleosid-modifizierte mRNA verfasst, da geht es um die Wirkweise des Corona-Impfstoffs. Ich habe ihm geholfen, den Artikel anzulegen und die Quellen richtig zu verlinken. Und dann ist der Artikel immer weitergewachsen, andere haben ihn ergänzt und in diverse Sprachen übersetzt. Zu sehen, wie sich der eigene Input vermehrt, ist total faszinierend.

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ZEIT ONLINE: Klingt toll, aber passiert das denn so schnell? In der deutschsprachigen Wikipedia gibt es rund 2,5 Millionen Artikel, die zu pflegen doch unglaublich viel Zeit kostet.

Mezger: Viele dieser Artikel sind zum Glück nicht so schnell veraltet. Ich bin Amateurklarinettist und habe den Artikel über die Altklarinette geschrieben, da muss man wahrscheinlich nur alle paar Jahre mal vorbeischauen. Aber ich habe auch ein kleines Backlog aus Artikeln, die ich längst mal überarbeiten müsste, zum Beispiel über eine Persönlichkeit aus der Geschichte des Schattentheaters, auf die ich gestoßen bin und für die ich mich interessiere. Außerdem koordiniere ich ein Projekt, in dem wir Artikel über die Auswirkungen des Klimawandels in andere Sprachen übersetzen. Da gibt es auch viel zu tun, aber leider haben wir ja nicht unbegrenzt Zeit. Und natürlich gibt es auch Inhalte, die sich schnell verändern, und jeden Tag kommen neue dazu. Deswegen: Wir brauchen dringend mehr Menschen, die sich als Autorinnen und Autoren engagieren.

ZEIT ONLINE: Warum fällt es Wikipedia so schwer, jüngere Autorinnen und Autoren anzulocken?

Mezger: Es stimmt schon, dass die meisten Wikipedianer ältere, weiße Männer sind – und das meine ich nicht negativ, das sind ja leidenschaftlich engagierte Menschen. Auch mein Vater ist erst eingestiegen, als er in Rente gegangen ist – das ist sozusagen der klassische Fall. Aber die Gruppe der Jung-Wikipedianer setzt sich gezielt dafür ein, mehr jüngere Menschen für die Wikipedia zu begeistern – auch wenn die ihre Zeit vielleicht lieber in anderen sozialen Netzwerken verbringen. Wir sind froh, dass es bei uns nicht um schnelle Likes geht; aber wir müssen auch überlegen, was Wikipedia zum Beispiel von Instagram lernen kann.

"Wikipedia ist auch Spiegel einer misogynen Gesellschaft"

ZEIT ONLINE: Ein anderes Problem ist, dass es viel weniger Wikipedianerinnen gibt als Wikipedianer. Nimmt Wikipedia eine zu männliche Sicht auf die Welt ein?

Mezger: Das Ungleichgewicht ist ein ernstes Thema. Und der bekannte Fall von Donna Strickland zeigt, dass es sich auf die Inhalte auswirkt. Die Physikerin wurde zuerst für zu irrelevant für die englischsprachige Ausgabe der Wikipedia befunden und der Eintrag über sie gelöscht – bis sie den Nobelpreis gewonnen hat. Das war natürlich ein Skandal. Aber es gab auch eine weitere Erklärung dafür: Die englischsprachige Wikipedia setzt voraus, dass eine Persönlichkeit auch in den Medien rezipiert wird, damit sie einen Eintrag erhalten kann. Und die Medien berichten mehr über Männer als Frauen, was sich wiederum auf die Inhalte von Wikipedia auswirkt. Wikipedia ist also auch Spiegel einer misogynen Gesellschaft.

ZEIT ONLINE: Kann Wikipedia denn zum gesellschaftlichen Wandel beitragen?

Mezger: Ob sie das könnte und ob sie das überhaupt sollte, das sind Fragen, über die die Meinungen stark auseinandergehen. Manche finden: Wenn die Welt frauenfeindlich ist, sollte Wikipedia als Enzyklopädie das auch nicht beschönigen. Andere finden: Nein, Wikipedia sollte gezielt darauf achten, weibliche Persönlichkeiten mehr zu würdigen, als das in vielen Teilen der Welt der Fall ist, und auch attraktiver werden für Frauen, die sich eine Mitarbeit vorstellen können.

Wir brauchen in Wikipedia Regeln, die eine möglichst bunte und diverse Community ermöglichen, damit wir unser Ziel erreichen können, das gesamte Wissen der Welt abzubilden.
Lukas Mezger, Vorsitzender Wikimedia Deutschland

ZEIT ONLINE: Wie kann das gelingen?

Mezger: Sicher nicht mit einer Quote in der Autorenschaft. Da sind wir wie ein Schachclub: Wenn Frauen eher kein Schach spielen wollen, dann kann sie ja niemand dazu zwingen. Umgekehrt kann man den Männern nicht vorwerfen, dass sie mit großer Begeisterung Schach spielen. Worauf wir aber unbedingt achten müssen, ist, dass die Männer jene Frauen nicht verdrängen, die mitmachen wollen. Zum Beispiel, indem wir bessere Regeln für den Umgang untereinander festlegen. Indem wir darauf achten, dass diskriminierende Kommunikation konsequent sanktioniert wird. Oder indem wir genau hinsehen, ob auf Wikipedia über Frauen systematisch anders geschrieben wird als über Männer. Und wenn das der Fall ist, dann müssen wir überlegen, wie wir das ändern können. Wir brauchen in Wikipedia Regeln, die eine möglichst bunte und diverse Community ermöglichen, damit wir unser Ziel erreichen können, das gesamte Wissen der Welt abzubilden.

ZEIT ONLINE: Es gab schon öfter Berichte darüber, dass PR-Agenturen an Wikipedia mitschreiben und einzelnen Artikeln ihren Spin verpassen. Wie anfällig ist die Enzyklopädie für sogenanntes paid editing?

Mezger: Grundsätzlich freuen wir uns, wenn ein Unternehmen die Angaben über sich in Wikipedia pflegt – etwa seine Geschäftszahlen aktualisiert oder historische Fotos zur Verfügung stellt. Solange diese Ergänzungen die Relevanzkriterien erfüllen und sie mit Quellen belegt sowie in enzyklopädischem Stil verfasst sind: Super, Haken dran! Dazu gehört aber auch, die eigenen Interessen offenzulegen – etwa wenn man für die Anpassungen bezahlt wird. Und was gar nicht geht: wenn jemand versucht, heimlich Werbung unterzubringen oder unschöne Teile der Unternehmensgeschichte streicht. Allerdings ist die Community so aktiv, dass das in der Regel sofort auffällt – und dann ist der Imageschaden für das Unternehmen umso größer.

ZEIT ONLINE: Wikimedia selbst lebt von Spenden. Was machen Sie damit?

Mezger: Wikimedia, die gemeinnützige Organisation hinter Wikipedia, ist so was wie ein Fanclub für einen Fußballverein. Wir fördern zum Beispiel Projekte von Autoren, finanzieren die Software hinter Wikipedia oder setzen uns bei der Politik dafür ein, dass der Zugang zu Wissen frei zugänglich bleibt. Und wir sind im Moment finanziell solide aufgestellt; es reicht, um den Betrieb aufrechtzuerhalten. Im Vergleich zu anderen großen Onlineplattformen kommen wir aber auch mit wenig Geld aus. Wikipedia hat sich gegen kommerzielle Alternativen behauptet und sich trotz vieler Zweifler bewährt. Und das liegt daran, dass so viele Menschen so viel Zeit und Liebe investieren – das kann auch Google nicht ersetzen.

ZEIT ONLINE: Wenn ich auf Google nach einer Persönlichkeit suche, dann saugt sich die Suchmaschine die wichtigsten Daten von Wikipedia, ich brauche die Seite selbst gar nicht mehr zu besuchen. Trocknet das Wikipedia nicht am Ende aus?

Mezger: Google will natürlich, dass die Menschen mehr Zeit mit seinen Diensten verbringen und weniger auf anderen Seiten im Netz. Wir wiederum wollen, dass das Wissen der Welt frei verfügbar ist. Wenn Google also unsere Informationen abbildet, hilft das Googles Zielen – und unseren. Aber das hat auch eine Kehrseite, das stimmt: Wenn die Nutzer sich mit den Informationen zufriedengeben, die sie bei Google finden, gewinnen wir sie nicht so leicht als Autoren und erreichen sie nicht mit unserem Spendenaufruf. Das ist also ein zweischneidiges Schwert.