Echt jetzt? – Seite 1

Lesen Sie schnell! Jede Minute, die Sie mit diesem Text verbringen, zählt zu Ihrer Bildschirmzeit! Und Bildschirmzeit ist schlecht! Das ist jedenfalls die aktuelle Inkarnation einer Debatte, die offenbar einfach nicht weggehen will: Sind digitale Erfahrungen per se schlechter als analoge?

Die Antwort ist: natürlich nicht. Was wir in der digitalen Welt erleben, ist real und wertvoll. Deshalb ist die Information, dass während der Pandemie die durchschnittliche Bildschirmzeit Erwachsener laut einer Studie auf mehr als zehn Stunden pro Tag gestiegen ist, wenig aufschlussreich. Mindestens, solange man nicht weiß, was in diesen Stunden passiert.

Viele sehen das anders. Mein Kollege Jens Jessen etwa: "Das kann, auch wenn es den schulischen beziehungsweise beruflichen Computergebrauch einschließt, nicht gesund sein", schreibt er in einem Beitrag in der aktuellen ZEIT. Während der Corona-Pandemie hätten wir in digitalen Ersatzwelten gelebt. Auch äußert Jessen Sorge wegen möglicher psychologischer Schäden, die dadurch entstanden sein könnten – und fragt, ob uns die analoge Welt überhaupt noch verführen kann.

Hinter dieser Schlussfolgerungen steht die Haltung, dass digitale Erfahrungen per Definition flacher, schlechter, ja, gar nicht wirklich real seien. Nur eine Simulation von Leben. 

Wir simulieren nicht

Die virtuelle Welt einer von ihr völlig getrennten "realen Welt" gegenüberzustellen, ist ein beliebter Formulierungsfehler (und damit natürlich auch ein Denkfehler). Auch ich habe diesen Fehler schon begangen. Mit dieser Trennung entwertet man aber die Erfahrungen, die wir mit Bildschirmen machen. Man sagt damit nämlich im Prinzip: Wenn nicht real ist, was da auf dem Bildschirm passiert, dann kann es auch nichts wert sein. Dabei hat doch gerade die Pandemie mit Macht gezeigt, wie real, wie intim und wichtig virtuelle Begegnungen sein können.

Manche Menschen wussten das schon vor Corona. Solche, die sich nur online kennen, die sich jeden Tag bei Twitter austauschen oder im Discord, die zusammen – OMG! – Videospiele spielen. "Klar ist es schade, dass ich im Internet meine Freunde nicht umarmen kann, aber ohne Internet wären sie heute teilweise eben auch nicht meine Freunde", schrieb der YouTuber Rezo in einer Kolumne über digitale Nähe.

Nun haben auch sehr viele Menschen, die keine Zockerinnen oder Redditors sind, die Erfahrung gemacht, dass digitale Nähe möglich ist. Ich jedenfalls habe während der Pandemie neue Kolleginnen und Kollegen in einem neuen Job kennengelernt. Ich habe mit einer Hebamme darüber gesprochen, wie sie unserem zweiten Kind auf die Welt helfen wird, ich habe gemeinsam mit anderen mehrere Partys organisiert und dort neue Leute kennengelernt, ich war auf einer Hochzeit, ich habe mich mit alten Studienfreunden über Corona-Maßnahmen gestritten, ich habe mit meinem Bruder Schach gespielt (außerdem Stronghold Crusader, Borderlands und Nidhogg 2, aber weil die Computerspiele-sind-böse-Debatte tief sitzt, klingt Schach irgendwie immer noch besser).  Das habe ich alles getan, während ich vor einem Bildschirm saß.

War das alles nur eine Simulation? Nein, es waren echte Erfahrungen mit echten Menschen, die echte Gefühle auslösen. Ich rede mich im Videochat genauso in Rage wie beim Kneipenabend, ich bin vor der Slack-Nachricht an den unbekannten Kollegen genauso nervös, wie ich es wäre, wenn ich quer durchs Großraumbüro zu seinem Tisch laufen würde. 

Vernetzung macht manche realen Erfahrungen erst möglich

Kritiker entgegnen, es fehle etwas: die Berührung, der Augenkontakt. Gerade Kinder hätten während der Pandemie Unaufholbares verpasst, zum Beispiel Besuche bei den Großeltern. Das stimmt. Viele Kinder können aber dank Videotelefonie jeden Tag von ihren Großeltern eine Geschichte vorgelesen bekommen können – auch das ist neu. Die Vernetzung, das Virtuelle macht diese realen Erfahrungen erst möglich.

Der Mensch, schreibt Jessen, werde vor dem Computer zu einem "reinen Geistwesen". Wird meiner Tochter von Geistern vorgelesen? Habe ich mit Geistern gestritten, mit Geistern getanzt, gegen Geister gespielt, Geistern beim Heiraten zugeschaut? Vielleicht. Aber das Geistsein hat so seine Vorteile. Man kann zum Beispiel überall gleichzeitig sein. Man kann einer Veranstaltung in San Francisco beiwohnen und gleichzeitig in Köln die Wäsche zusammenlegen. Es ist geradezu schauderhaft praktisch.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Natürlich verlieren manche der beschriebenen Bildschirmerfahrungen etwas von ihrer Intensität, verglichen mit analogen Entsprechungen. Ich möchte auch, dass meine Tochter ihre Großeltern besuchen kann, sie berühren, mit ihnen kuscheln. Und ich möchte natürlich endlich wieder in Kneipen gehen, mit anderen verschwitzten Menschen in engen Kellern tanzen, einen analogen Volleyball pritschen.

Wenn digitale Erfahrungen reine Ersatzhandlungen für analoge Erlebnisse sind, dann müssen sie sich flach anfühlen. In der Corona-Pandemie mussten Dinge digital ersetzt werden, die besser wieder analog werden, das ist klar. Der Kniffel-Abend mit den Freundinnen ist eben doch etwas komplizierter, wenn man noch die Kamera auf die Würfel lenken muss. Doch sehr viele Menschen machten und machen digitale Erfahrungen, die ebenso große Wucht entfalten. Wer bei Fortnite mit Kumpels aus Kanada unter die letzten zehn im Battle-Royale-Modus kommt, hat ein Erfolgserlebnis, das nicht weniger wert ist als eins beim Fußballturnier. Die Begegnungen beim Remote Rave waren großartig – selbst, wenn ich die Typen nie "in echt" treffen werde. Die Gutenachtgeschichte von den Großeltern bei FaceTime kann auch nach Corona ein tägliches Ritual bleiben. Zumal es Menschen gibt, die es sich auch unabhängig von Corona nicht leisten können, ständig zu den Großeltern zu reisen.

Es gibt keinen Grund, diese Erfahrungen zu entwerten oder sie gegeneinander auszuspielen. Man braucht eigentlich keinen langen Text, um zu einer einfachen Einsicht zu kommen: Ich kann vormittags auf dem Fußballplatz von einem Menschen aus Fleisch und Blut ausgedribbelt werden und am Nachmittag einer Freundin (ebenfalls aus Fleisch und Blut) im Videochat davon erzählen, am Abend in einer Bar flirten und den darauf folgenden verkaterten Vormittag auf Fortnite-Inseln herumtoben. Das ist nicht alles gleich, aber gleich gut. Und vor allem: Es ist alles echt.