Die Corona-Warn-App war und ist ein wichtiger Bestandteil der Pandemiebekämpfung. Sagt jedenfalls das Robert-Koch-Institut. Mehr als 100.000 Infektionen habe sie Hochrechnungen zufolge aufgedeckt und so Infektionsketten unterbrochen, so wurde berichtet. "Das ist halb so viel wie ALLE Gesundheitsämter zusammen", twitterte SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach.

Andererseits sagen viele Deutsche: "Ich glaube nicht, dass die App etwas nützt." In einer aktuellen Untersuchung der privaten Hochschule Hertie School und des Marktforschungsunternehmens respondi, die ZEIT ONLINE vorab vorliegt, stimmt die Hälfte der Menschen, die die Corona-Warn-App nicht nutzen, dieser Aussage zu.

Ja, was denn nun?

Ein Jahr nachdem die App der Öffentlichkeit vorgestellt wurde, ist seltsam ungeklärt, ob sie nun ein durchschlagender Erfolg war oder ein Flop, ein "zahnloser Tiger", wie Markus Söder sie einst nannte.

Zum Teil liegt das an der Architektur der App. Weil die Daten nur zwischen den einzelnen Smartphones ausgetauscht wurden, gibt es keine zentrale Erfassung, wie viele Menschen vor riskanten Kontakten gewarnt wurden. Die App konnte also nicht beweisen, wie viel sie brachte. Wie groß ihre epidemiologische Wirksamkeit war, wird gerade erst erforscht. Erste Tendenzen zeigen, dass es zumindest eine Wirkung gab: Hochrechnungen des Robert Koch-Instituts zufolge sollen etwa fünf Prozent aller Neuinfektionen in Deutschland dank der App entdeckt worden sein – weitere, so argumentieren ihre Befürworter, seien verhindert worden, weil die App Menschen, die ein erhöhtes Risiko für eine Infektion hatten, zur Isolation aufforderte, noch bevor ihre Erkrankung bestätigt wurde. Andere ziehen Hochrechnungen des RKI zum Erfolg der App schon wieder in Zweifel.

Die Frage, ob die Corona-Warn-App unter dem Strich ein erfolgreiches Projekt war, ist auch deshalb so schwer zu beantworten, weil es darauf ankommt, worauf man schaut. Schafft es der Staat, eine datenschutzfreundliche App programmieren zu lassen, die innerhalb weniger Wochen viele Millionen Menschen herunterladen? Ja. Kann der Staat diese App so erklären, dass alle verstehen, wie sie funktioniert? Offenbar nicht.

Zukünftige Regierungen können sich für ihre Digitalisierungsprojekte von der Corona-Warn-App einiges abschauen und von ihren Fehlern lernen. Sechs Lehren, die man aus dem Prozess ziehen könnte – im Guten wie im Schlechten.

1. Nicht zu viel versprechen

Als im Frühjahr 2020 die Idee für eine App aufkam, mit der man Kontakte digital verfolgen könnte, waren die Erwartungen groß: "Eine App bietet uns die Chance, unsere gewohnten Freiheiten schneller wieder ausleben zu können", sagte etwa der Chef der Jungen Union, Tilman Kuban, damals. Und auch wenn sich Politikerinnen und Politiker danach immer wieder bemühten, die Erwartungen einzudämmen, die App nur als einen Baustein in der Pandemiebekämpfung bezeichneten, so blieb doch bei vielen Menschen hängen: Cool, ich lade mir eine App herunter und alles wird wieder normal.

Dabei war klar, dass die App diese Erwartungen nicht würde halten können. "Die App wird uns nicht retten", sagte der Wissenschaftler Dirk Brockmann bereits im Mai 2020. Logisch eigentlich bei einer Anwendung, die bestenfalls im Nachhinein anzeigen kann, dass man Infizierten gefährlich nah gekommen ist. Was wiederum bedeutet: Abstand halten, Hygienemaßnahmen, Lüften, das Maskentragen, Tests und nun vor allem Impfungen konnte die App nicht ersetzen. Natürlich nicht.

Auch wenn es die Euphorie vielleicht erst einmal etwas gedämpft hätte: Will man ein Problem mithilfe von Technologie eindämmen, muss man von Anfang an klarmachen, was diese Lösung vermag und was nicht. Egal wie stolz man auf sich war, die App schnell auf den Weg gebracht zu haben: Ministerien und Politiker hätten von Beginn an noch deutlicher machen müssen, dass diese App allein nicht der Weg aus dem Lockdown ist. Vielleicht kann sie helfen – aber sie ist eben auch ein Experiment.

Diese Rolle der Corona-Warn-App, die eben auch sehr stark auf die Eigenverantwortung und das Mitwirken aller Nutzerinnen und Nutzer setzt, hätte man viel aktiver betonen müssen. Denn die Anwendung funktioniert nur so gut, wie alle Nutzerinnen und Nutzer sie bedienen. Wer positiv getestet ist, das seinen Kontakten über die App aber nicht mitteilt, der ist nicht Teil der Lösung. Tatsächlich entscheiden sich nur etwas mehr als 60 Prozent aller Nutzerinnen und Nutzer, Kontakte über die App zu warnen. Auch wer zwar eine rote Warnung auf sein Smartphone geschickt bekommt, aber trotzdem in der Kita oder Arbeitsstätte auftaucht, hilft nicht dabei, Infektionsketten zu brechen.

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2. Klare Ziele formulieren

Die Corona-Warn-App liefere nicht die Daten, die man wirklich brauche. So äußerte sich im Juli 2020 ein Amtsarzt. Das mag eine berechtigte Kritik sein aus Perspektive der Gesundheitsämter, die sich mehr Daten erhofften, um die Kontaktpersonen von Corona-Infizierten schneller identifizieren zu können. Der Fehler liegt hier aber vor allem darin, die App als Entlastung für Gesundheitsämter zu verkaufen. Modellierer hätten mit genaueren Aufzeichnungen aus der Corona-Warn-App möglicherweise bessere epidemiologische Modelle erstellen oder die Wirksamkeit von Kontaktbeschränkungen besser einschätzen können. Nur war die App von Beginn an nicht dazu konzipiert.

Zumal die zusätzlichen Angaben möglicherweise Infizierter die Gesundheitsämter vermutlich geflutet hätten und diese gar nicht die Kapazitäten gehabt hätten, sie zu verarbeiten. Das zeigt auch einmal mehr die Luca-App.  Die Corona-Warn-App sollte auch nicht Modelliererinnen bei der Arbeit helfen: Wesentlich invasivere Ideen, bei denen zum Beispiel das Tracken von Standortdaten zur Corona-Bekämpfung zum Einsatz kommen sollten, waren schnell wieder verworfen worden.

Das eigentliche Ziel der fertigen Corona-Warn-App war und ist nun das Brechen von Infektionsketten über Eigenverantwortlichkeit: Die Anwendung sollte Menschen über mögliche Kontakte mit Infizierten informieren, die sie sonst vielleicht nie registriert und das Virus damit unbewusst weitergetragen hätten. Weil man das aber nicht klar genug betonte, verfing die Erzählung, die Corona-Warn-App sei wirkungslos, weil sie gar nicht die richtigen Daten liefere.

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3. Reden, reden, reden

Die Kommunikation um die Corona-Warn-App war teilweise katastrophal. Jedenfalls sind nach wie vor große Missverständnisse darüber verbreitet, was die App kann und wie sie funktioniert.

Seit Herbst vergangenen Jahres trat sich zunehmend die Erzählung fest, die App sei wahlweise gescheitert, wirkungslos oder habe sich an ihrem eigenen Datenschutz verschluckt. Diese Wahrnehmung hält sich offenbar bei vielen hartnäckig: 50 Prozent aller Menschen, die die Corona-Warn-App nicht auf ihrem Smartphone im Einsatz hatten, gaben in der jüngsten Umfrage der Hertie School als Grund dafür an, dass sie nicht glauben, dass die App etwas nütze.

Teils war die App unverständlich designt. Denn: Was genau bedeutet eigentlich ein niedriges Risiko in der App? Warum werde ich zeitweilig ständig von der App gewarnt und dann plötzlich gar nicht mehr? Warum kann man sich nicht wieder gesund melden? Warum wird mir nicht einfach angezeigt, wann genau dieser Risikokontakt denn stattgefunden hat? Und warum kann ich mein Testergebnis nicht über die App abrufen? Zwar gab und gibt es einen ausführlichen Frage-Antwort-Katalog der Corona-Warn-App, der auch immer wieder aktualisiert wurde.

Doch weil weitere Erklärungen fehlten, setzten sich bei vielen Menschen Mythen und frei assoziierte Interpretationen dazu durch, wie und warum die App das anzeigt, was sie anzeigt. Oder anders gesagt: Warum man auf diese Warnungen wahrscheinlich auch einfach pfeifen kann. Statt die App zu erklären, pflasterte man halbe Städte mit einer Plakatkampagne zu, die für ihre Verwendung warb. Eine klare Kommunikation seitens der offiziellen Stellen, was die App eigentlich tut und was nicht, fehlte.

Missverständnisse haben wohl auch damit zu tun, dass viele Menschen die Details der Corona-Warn-App nicht verstanden haben. In der Hertie-School-Untersuchung stimmten 55 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass die durch die Corona-Warn-App erhobenen Daten von den Gesundheitsämtern ausgewertet würden. Dass sie das gerade nicht tun, ist Kern des privatsphärezentrierten Ansatzes der App. "Dass bei vielen Menschen eine so falsche Wahrnehmung darüber besteht, wie die App funktioniert, zeigt, wie viel mehr Aufklärung nötig gewesen wäre", sagt Simon Munzert, Assistant Professor für Data Science and Public Policy an der Hertie School. "Möglicherweise hätten noch mehr Menschen die App genutzt, wenn sie besser informiert gewesen wären."

Zum negativen Blick auf die Erfolgschancen der App beigetragen haben dürfte wohl auch eine verkürzt zitierte Studie. Lange geisterte durch die Medien, laut der Universität Oxford könne die Verbreitung des Coronavirus nur gestoppt werden, wenn 60 Prozent der Bevölkerung die App nutzten. Oder noch weitergedreht: Dass die App halt nichts taugt, wenn nicht mindestens so viele Menschen sie verwenden. Widerspruch dagegen gab es zunächst kaum. Bis beteiligte Wissenschaftlerinnen korrigierten: Die App beginne schon zu wirken, sobald 15 Prozent der Bevölkerung mitmachen

Ein Digitalprojekt braucht Menschen, die sich immer wieder unermüdlich hinstellen und es erklären. Dazu zählt auch, der Erzählung entschiedener entgegenzutreten, der Datenschutz sei schuld daran, dass die App nichts bringe – eine Aussage, die doppelt nicht stimmt, die aber so häufig wiederholt wurde, dass sie sich im kollektiven Bewusstsein festgesetzt hat. 

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4. Weitermachen

Schon früh haben Expertinnen und Experten darauf hingewiesen, dass die Corona-Warn-App neue Funktionen brauche. Spätestens, als auch der Virologe Christian Drosten ein Kontakttagebuch empfahl, hätte man das auch in die Corona-Warn-App einbauen können. Das ließ aber wochenlang auf sich warten.

Auch die datenschutzfreundlichen Funktionen, in Restaurants oder andere Orte einzuchecken, wurden erst im Februar implementiert, obwohl seit Herbst ein entsprechendes Framework zur Verfügung stand. Und als diese Funktion dann endlich da war, wurde nicht breit kommuniziert, dass es sie gibt – weil parallel viele Politikerinnen und Politiker auf Landesebene längst die Luca-App als die Anwendung feierten und kauften, die den Weg zurück in den Biergarten freimache. Entsprechend bieten zum Beispiel manche Gaststätten keinen Check-in über die Corona-Warn-App an, sondern nötigen ihren Gästen die Luca-Nutzung auf.

Hier zeigt sich: Mit der Veröffentlichung einer App ist es nicht getan. Gerade Digitalprojekte brauchen immer wieder Updates, sollten immer wieder um Funktionen erweitert werden, wenn man möchte, dass Menschen sie weiter nutzen. Das wurde bei der Corona-Warn-App versäumt.  

Und noch ein weiteres Problem wurde deutlich: Die Warn-App selbst war zwar binnen weniger Wochen entwickelt – als sehr viel komplizierter stellte sich aber heraus, alle Labore und Praxen IT-mäßig so anzubinden, dass Testergebnisse direkt in die App ausgespielt werden konnten. Noch im November waren zehn Prozent der niedergelassenen Testkapazitäten nicht an die Warn-App angeschlossen. Sie konnten Testergebnisse also nicht schnell digital übermitteln. Positiv Getestete zügig zu informieren, gilt aber als wichtig, um weitere Ansteckungen zu vermeiden.

Auch solche Probleme bei der Echtweltanbindung müssen mitgedacht werden, wenn schnell umgesetzte Anwendungen drängende Probleme lösen sollen. Je weiter Digitalisierung im Alltag fortschreitet, desto häufiger zeigt sich diese Herausforderung – aktuell zum Beispiel im Zusammenhang mit dem digitalen Impfnachweis, den möglichst schnell alle Arztpraxen, Apotheken und Impfzentren ausstellen können sollen.

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5. Auf Expertinnen und Experten hören

Als die Corona-Warn-App im Juni 2020 veröffentlicht wurde, verbreitete sich in den sozialen Netzwerken ein kurzer Clip aus der ARD. Darin zu sehen: CCC-Sprecher Linus Neumann, wie er über die soeben veröffentlichte Corona-Warn-App redet. "Es ist für uns auch nicht eine alltägliche Erfahrung, dass wir vor Risiken warnen und auch vonseiten der Bundesregierung auf uns gehört wird", sagt er darin. Und bei aller Kritik an der Kommunikation rund um die Corona-Warn-App muss man eines festhalten: Ausnahmsweise hat sich die Bundesregierung tatsächlich mal an das gehalten, was Zivilgesellschaft und Expertinnen empfohlen haben.

Im Frühjahr 2020 sah das zunächst anders aus: Die Bundesregierung wollte eigentlich eine App bauen, die zwar auch über Bluetooth-Daten funktioniert, die aber Daten an einen zentralen Server gesandt hätte. Dadurch, so die Befürchtung von Experten, wäre eine "beispiellose Überwachung" möglich geworden. Die Bundesregierung schwenkte erst um, als Google und Apple eine Grundlage für ihre Betriebssysteme vorstellten, die diese zentrale Lösung unmöglich gemacht hätte.

Auch wenn unklar bleibt, wie viel Einfluss die Zivilgesellschaft und wie viel Einfluss die Entscheidung der beiden Techunternehmen auf die Entscheidung hatte: Dass die Corona-Warn-App schnell mehrere Millionen Downloads zählte, dürfte auch an dieser vertrauenswürdigen Architektur gelegen haben.

Für die Zukunft wäre wünschenswert, dass die Bundesregierung häufiger die Zivilgesellschaft sowie Expertinnen und Experten nicht nur mit in die Diskussion einbindet, sondern sie auch ernst nimmt. Denn nur so kann man auch das Vertrauen der Menschen erwerben. Dazu gehört übrigens auch, Expertinnen und Experten nicht nur 24 Stunden zum Lesen eines Hunderte Seiten umfassenden Gesetzesentwurfs zu geben.

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6. Don’t be evil

Seit Jahren bringt die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf nach dem anderen durch, der die Befugnisse von Strafbehörden, Nachrichtendiensten und anderen Akteuren im Internet ausweitet. Und Befugnisse mag harmlos klingen, aber meistens geht es dabei um nichts anderes als mehr Überwachung im Netz.

Nun gibt es eine staatliche App, die so konstruiert ist, dass man damit im Prinzip niemanden überwachen kann, selbst wenn man wollte – und die Leute sind trotzdem skeptisch. In der Befragung der Hertie School geben jeweils rund ein Viertel der Nicht-Nutzenden an, dass sie sich "um den Datenschutz sorgen" beziehungsweise nicht möchten, "dass der Staat mich überwacht".

Das darf nicht verwundern. Es ist eben ein bisschen viel verlangt, dass Leute plötzlich auf ein Digitalprojekt einer Bundesregierung vertrauen sollen, die sonst vor allem dafür bekannt ist, immer weitere Ausspähmaßnahmen zu beschließen.

Möglicherweise hatte es deshalb auch die Luca-App leichter. Obwohl der Datenschutz und die Datensicherheit der App immer wieder von Experten kritisiert wurden und es Probleme nachgewiesen wurden, luden sie viele Menschen herunter. Die Hertie-School-Untersuchung zeigt zwar, dass die Berichterstattung der vergangenen Monate geringe Effekte auf die öffentliche Meinung hat, doch im Endeffekt bewerten die Befragten den Datenschutz der Corona-Warn-App und der Luca-App immer noch gleich. Obwohl die Datensicherheit der Luca-App mehr als einmal infrage gestellt wurde. Möglicherweise liegt das auch daran, dass es manchen Menschen leichter fällt, einem privaten Unternehmen zu vertrauen, das mit einem bekannten Rapper wirbt.

Insofern ist es als Erfolg zu werten, dass heute Millionen Menschen die Corona-Warn-App nutzen, obwohl darunter auch viele Nutzerinnen sein dürften, die früher für nichts und niemanden Bluetooth aktiviert hätten – geschweige denn dauerhaft!

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