Auch ein Herzschrittmacher kann Zeuge sein: Die Daten, die wir produzieren, sagen mehr, als uns lieb ist

Smartphones, Smart Meter, Smartwatches: Wir hinterlassen immer mehr Spuren im virtuellen Raum. Das weckt Begehrlichkeiten.

Adrian Lobe 3 Kommentare
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Wo wir stehen und gehen: Unser Smartphone weiss genau, wo wir wann gewesen sind. Und es vergisst es nie.

Wo wir stehen und gehen: Unser Smartphone weiss genau, wo wir wann gewesen sind. Und es vergisst es nie.

Andy Wong / AP

Am 29. März 2019 fuhr der Amerikaner Zachary McCoy mit seinem Rad durch die Stadt Gainesville im US-Bundesstaat Florida. Seine Route trackte er wie immer mit der App RunKeeper, die auf Standortdaten seines Smartphones zugreift. Knapp ein Jahr später, im Januar 2020, erhielt er eine E-Mail von Googles Rechtsabteilung. Diese unterrichtete ihn förmlich darüber, dass die Polizei Daten seines Google-Kontos angefragt habe. McCoy bekam es mit der Angst zu tun. Er besitzt zwar wie Millionen Amerikaner ein Android-Handy, das mit seinem Google-Account verknüpft ist, aber was wollte die Polizei von ihm?

In der E-Mail fand sich eine Fallnummer, mit der Kriminalfälle in den USA registriert werden. McCoy fand auf der Website des zuständigen Polizeireviers einen Ermittlungsbericht über einen Hauseinbruch bei einer älteren Dame, der sich etwa einen Kilometer von seinem Zuhause entfernt ereignet hatte. McCoy checkte den Routenverlauf seiner Tracking-App. Und tatsächlich: An jenem 29. März 2019, an dem das Verbrechen stattfand, fuhr er binnen einer Stunde dreimal am Haus des Opfers vorbei. Diese Schleife dreht er immer, wenn er mit dem Rad in der Nachbarschaft unterwegs ist. Doch das interessierte jetzt nicht.

Die Polizei hatte ein virtuelles Schleppnetz ausgeworfen, einen sogenannten «geofence warrant», der Google zur Herausgabe aller Standortdaten im Umkreis des Tatorts verpflichtete: GPS-Daten, Bluetooth, Handy-Verbindungen. Und bei dieser Rasterfahndung ging der Mann den Ermittlern ins Netz – obwohl er mit der Tat überhaupt nichts zu tun hatte. McCoy hatte das Pech, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein. «Ich habe nicht realisiert, dass bei aktivierten Standortdiensten Google ein Logbuch darüber führt, wo ich hingehe», sagte er dem Sender NBC, der den Fall recherchiert hat. Nachdem McCoy einen Anwalt eingeschaltet hatte, wurden die Ermittlungen schliesslich eingestellt.

Was nicht einmal der Partner weiss

Es ist kein Einzelfall. Strafverfolgungsbehörden fragen immer häufiger Nutzerdaten von Google an. Laut Googles Transparenzbericht hat sich die Zahl behördlicher Ersuchen von 25 342 im Zeitraum Januar bis Juni 2011 auf 235 449 im Zeitraum Januar bis Juni 2020 fast verzehnfacht. Allein in Deutschland waren es im ersten Halbjahr 2020 über 12 000. In 75 Prozent der Auskunftsersuchen wurden Nutzerdaten offengelegt.

Dazu gehören E-Mail-Inhalte, Anruflisten von Google Voice oder Inhalte privater Nachrichten auf Youtube. In sogenannten «Notfällen» leitet Google auch proaktiv Daten an Behörden weiter, zum Beispiel bei Bombendrohungen, Schulschiessereien oder Entführungen. Doch nicht nur Google-Daten sind für Ermittler eine Fundgrube. IT-Forensiker haben in der Vergangenheit auf alle möglichen Geräte zugegriffen, um Verbrechen aufzuklären: Smartphones, Smart Speaker, Smart Meter, Fitnesstracker, Unfalldatenspeicher, sogar smarte Herzschrittmacher wurden schon ausgewertet.

Nutzer teilen mit privaten Konzernen Geheimnisse, die sie nicht einmal ihrer Ehefrau oder ihrem Ehemann anvertrauen. Milliarden Menschen laufen mit Smartphones herum, digitalen Detektiven, die mit Kamera, Mikrofon und Sensoren ausgestattet sind und den Träger auf Schritt und Tritt verfolgen. Beschleunigungssensoren erkennen, ob man gerade zu Fuss oder mit dem Auto unterwegs ist; Bewegungssensoren erfassen, wie viele Schritte und Stufen man am Tag zurückgelegt hat. Wohnort, Arbeit, Affären – das Smartphone weiss alles. Dass diese Selbstverdatung Begehrlichkeiten bei der Polizei weckt, liegt auf der Hand.

Die digitale Wohnung ist tabu

Doch die Frage ist, was es für den Rechtsstaat bedeutet, wenn Konzerne eine so hochauflösende Sicht auf den Gesellschaftskörper haben und im Zweifel mehr wissen als der Staat. Wird der Staat abhängig von privaten Detekteien? Dürfen Tech-Konzerne wie Google oder Apple (Vor-)Ermittlungen durchführen und Nutzer im Verdachtsfall verpfeifen? Darf der Staat auf Daten zugreifen, die dem Kernbereich der Persönlichkeit zuzurechnen sind?

Das Smartphone ist ja nicht nur ein Mobilfunkgerät, sondern eine digitale Wohnung, in der man Tagebücher, Familienalben, Notizen, Musik, Bücher und vieles mehr aufbewahrt. Und für Wohnungen gilt in einem Rechtsstaat ein besonderer Schutz. Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung trägt seinen Namen nicht umsonst.

Der Rechtsstaat schränkt die Erhebung und Verwertung von Beweisen ein. So dürfen etwa Tagebucheinträge (bis zu einer gewissen Schwere des Delikts) oder Selbstgespräche nicht im Strafprozess verwendet werden. Auch für Berufsgeheimnisträger wie Ärzte oder Pfarrer gelten Verschwiegenheitspflichten. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat 2011 in einem bemerkenswerten Urteil entschieden, dass «das nichtöffentlich geführte Selbstgespräch» einem «Beweisverwertungsverbot von Verfassungs wegen» unterliege: «Die Gedanken sind grundsätzlich frei, weil Denken für Menschen eine Existenzbedingung darstellt.»

Was darf als Geständnis gelten?

In dem Fall hatten die Ermittler das Fahrzeug eines Mannes verwanzt, der im Verdacht stand, seine Mutter ermordet zu haben. In einem aufgezeichneten Selbstgespräch brabbelte der Angeklagte in seinem Auto Worte wie «die L. ist schon lange tot» oder «oho I kill her» vor sich her. Das Landgericht hatte dies als geständnisgleiches Indiz für die Tötung gewertet. Ein Selbstgespräch, das eine Tatbeteiligung offenbart, verliere den Charakter des Höchstpersönlichen, so die Richter. Der BGH widersprach dieser Rechtsauffassung: Der Mensch müsse sich «in einem letzten Rückzugsraum mit dem eigenen Ich befassen (zu) können», ohne Angst vor Überwachung zu haben.

Müsste man analog dazu nicht auch eine Google-Suche als Selbstgespräch qualifizieren, weil hier eine Form des «inneren Sprechens» stattfindet, bei dem man versucht, unfertige Gedanken maschinell zu sortieren? Ist ein Wortwechsel mit Amazon Alexa nicht auch ein innerer Monolog, eine Art «lautes Denken», das zwar dialogisch und quasi öffentlich ist, weil die Audio-Dateien in der Cloud landen und zum Teil manuell von Menschen transkribiert werden, aber doch die Qualität einer Selbstkommunikation hat, weil der Algorithmus das Selbst stabilisiert? Wie weit darf der Rechtsstaat in die Privatsphäre vordringen, ohne seine eigene Prämisse der individuellen Selbstbestimmung zu unterlaufen?

Das Institut des Beweisverwertungsverbots ist epistemologisch insofern interessant, als hier wissentlich (Täter-)Wissen ignoriert wird. Die Rechtsgemeinschaft weiss, dass der Angeklagte mit grosser Wahrscheinlichkeit der Täter ist, aber nicht verurteilt werden kann. Um die rechtswidrig abgehörte Selbstkommunikation zu heilen und die Fiktion der Gedankenfreiheit aufrechtzuerhalten, tut man praktisch so, als hätte man nichts gehört.

Die Taubheit des Rechtsstaats

Diese Taubheit des Rechtsstaats ist für das Gerechtigkeitsgefühl in hohem Masse verstörend, nachgerade unerträglich, weil das Wissen in der Welt ist und man, um der Menschenwürde willen, den Mantel des Schweigens um ein Kapitalverbrechen hüllen muss, ja kollektiv einen Täter decken muss. Doch das Strafrecht erlaubt eben keine Wahrheit um jeden Preis. Daher unterliegen auch durch Folter erpresste Aussagen einem strengen Beweisverwertungsverbot.

Mit Böckenförde gesprochen lebt der Rechtsstaat auch unter der Voraussetzung eines Nichtwissendürfens, vielleicht sogar einem Relativismus, schon allein deshalb, weil die vom Strafprozessrecht eingeforderte Wahrheitsfindung nie absolut verstanden werden darf – es gibt ja auch vor Gericht Falschaussagen, und jeder Angeklagte hat das Recht zu schweigen. Niemand darf in einem Rechtsstaat gezwungen werden, sich selbst zu belasten. Doch der «Nemo tenetur»-Grundsatz –dass niemand gezwungen werden darf, sich selber zu belasten – gerät durch die Datifizierung zunehmend unter Druck.

Die Ermittler wollen, frei nach Latour, Daten zum Sprechen bringen – smarte Lautsprecher oder Smartphones sind nicht bloss Objekte, sondern «Aktanten». Die Netzwerke konstituieren die Identität, bringen sie aber auch gleichsam zu Fall, weil sie eben für und gegen ihre Besitzer Zeugnis ablegen können. Die GPS-Daten in der Nähe eines Tatorts sprechen erst einmal gegen die Person. Daten besitzen für ihre Produzenten die ungünstige Eigenschaft, dass sie nicht schweigen können, sondern dem Wortsinn gegeben sind – als Tatsachen. Sie sprechen für sich selbst. Und je mehr wir Daten befragen, desto weniger haben Individuen zu sagen.

Adrian Lobe ist Politikwissenschafter und Publizist und lebt in Heidelberg. 2019 ist bei C. H. Beck sein Buch «Speichern und Strafen. Die Gesellschaft im Datengefängnis» erschienen.

3 Kommentare
Werner Moser

Stimmt. Die Sorglosigkeit, mit welcher wir Menschen uns, im Umgang mit der digitalen Datenerfassung, bereit sind zuzugestehen, spottet alle Bemühungen, wenn es um den verfassungsmässigen Schutz unserer eigenen Privatsphäre geht. Es scheint, dass dem analogen Mensch im virtuellen Raum jegliche Sorge um die eigenen Daten verloren geht. Im Sog der Smartphones, Smart Meter, Smartwatches hängen wir alle an diesen "Smarties!", als wären wir wie Fliegen im Spinnennetz. Und das zusätzlich selbst verschuldet. Eigentlich deprimierend erschreckend!

Prof. Dr. Key Pousttchi

Adrian Lobe hat sich ein schönes Thema für seinen Beitrag (und sein Buch) ausgesucht. Er ist Politikwissenschaftler und interessiert sich für Technik, ich bin Wirtschaftsinformatiker und interessiere mich für die Gesellschaft. Und als solcher konstatiere ich drei Gründe, warum uns keiner die Wahrheit über die Digitalisierung sagt: Erstens kennt sich kaum jemand wirklich in die Tiefe damit aus - insbesondere was die Interdependenzen zwischen Technik, Wirtschaft und Gesellschaft angeht. Zweitens gibt es viele Leute, die sich besser stehen, wenn Fakten nicht so viel öffentliche Aufmerksamkeit bekommen. Und drittens wollen wir, das Volk, sie gar nicht wirklich wissen. Ohne drittens würde das Spiel nicht funktionieren. Und die Folgen werden im wirtschaftlichen Bereich eher noch gravierender sein. Denn auch wenn es so aussehen mag: Apple, Google, Facebook und Amazon betreiben die Datensammlung nicht zum Selbstzweck. Und durch Regulierung allein werden wir das Problem der Datenökonomie nicht lösen.