"Mit der Argumentation könnte man Videospiele auch komplett verbieten" – Seite 1

Jeweils eine Stunde am Freitag-, Samstag- und Sonntagabend: Länger sollen Menschen unter 18 Jahren in China künftig nicht mehr Videospiele spielen dürfen. Den Anbietern von Onlinegames soll es verboten sein, ihre Dienste für Minderjährige außerhalb der vorgegebenen Zeitfenster zur Verfügung zu stellen. Das Ziel: Kinder und Jugendliche vor Computerspielsucht zu bewahren. Aber ist ein Verbot auch effektiv? Der Psychotherapeut Bert te Wildt behandelt als Chefarzt der Psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen Computerspielsüchtige und wünscht sich andere Lösungen.

ZEIT ONLINE: Herr te Wildt, wie sinnvoll ist eine Beschränkung des Videospielkonsums auf drei Stunden pro Woche, wie sie die chinesische Regierung plant?

Bert te Wildt: Je leichter der Zugang zu einem Suchtmittel ist und je früher und intensiver Kinder und Jugendliche damit in Kontakt kommen, desto größer ist die Gefahr, davon süchtig zu werden. Das kennen wir von süchtig machenden Stoffen wie Alkohol und Nikotin, aber auch von der Glücksspielsucht, dem großen Bruder der Computerspielsucht. Hier zeigt die Forschung, dass durch restriktive Maßnahmen, etwa eine Begrenzung der Spielzeit und des Spieleinsatzes, Suchtverhalten weniger häufig auftritt. Erkennt man nun die Computerspielsucht als Suchterkrankung an, wie es bei der WHO inzwischen der Fall ist, ist auch hier eine Beschränkung des Zugangs prinzipiell sinnvoll. Allerdings ist die chinesische Perspektive schon sehr speziell.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Bert te Wildt ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen am Ammersee.

te Wildt: Die Beschränkung auf drei Stunden pro Woche ist völlig willkürlich. Je geringer der Konsum ist, desto geringer ist zwar das Risiko, süchtig danach zu werden. Aber wenn man so argumentiert, könnte man Videospiele gleich komplett verbieten. Sinnvoller ist es zu schauen, wie viele Stunden Computerspielsüchtige typischerweise spielen und ab wann es beginnt, problematisch zu werden. Und da bewegen wir uns in ganz anderen Dimensionen. In eigenen Untersuchungen kamen wir bei den Onlinecomputerspielsüchtigen im Durchschnitt auf sieben Stunden pro Tag. In unserer Klinik sind regelmäßig Patienten, die zehn bis zwölf Stunden und mehr am Tag in Computerspielen verbringen. Vor diesem Hintergrund wirken die drei Stunden pro Woche in China wie ein starker Eingriff in die Freiheit von Eltern und Jugendlichen, der wissenschaftlich nicht zu begründen ist. Riskant wird es eher bei mehr als drei Stunden pro Tag.

ZEIT ONLINE: Ist es generell keine gute Idee, den Konsum von Games staatlich zu begrenzen?

te Wildt: Das Vorgehen in China zeigt zunächst einmal, wie viel Angst die Regierung vor dem Problem Computerspielsucht hat. Das ist ein starkes Signal, das Thema ernst zu nehmen. Doch was in China vielleicht funktioniert, ist in Deutschland politisch und gesellschaftlich nicht umsetzbar und auch nicht erstrebenswert. Ich sehe stattdessen vor allem die Eltern in der Pflicht. Wenn mein Kind computerspielsüchtig wird, muss ich mich zuerst selbst fragen, was da schiefgelaufen ist. Ich höre in Vorträgen an Schulen von Erziehungsberechtigten immer wieder, dass sie Kindern doch keine Grenzen setzen könnten oder die Kinder sowieso immer einen Weg fänden, um zu spielen. Das kommt für mich einem pädagogischen Armutszeugnis gleich. Eine haltgebende Erziehung braucht sowohl Grenzen als auch attraktive, analoge Alternativen zu Computerspielen. Und die müssen zuallererst die Eltern erbringen.

ZEIT ONLINE: Wenn schon keine Verbote, was könnte die Politik stattdessen tun?

te Wildt: Der Staat kann schauen, und dafür setzen wir uns im Rahmen des von mir mitgegründeten Fachverbandes Medienabhängigkeit ein, dass zum Beispiel Suchtkriterien bei der Alterseinstufung von Videospielen eine Rolle spielen. Bislang basieren die Einstufungen der USK, also der freiwilligen Selbstkontrolle der Gamesbranche, die Computerspiele auf ihre Tauglichkeit für Kinder und Jugendliche prüft, primär auf Aspekten wie Sex und Gewalt. Einen Ansatzpunkt bieten die Glücksspielelemente – Stichwort Lootboxen und In-Game-Käufe –, die in immer mehr Games untergebracht werden und mit denen Kinder spezielle Zugänge, virtuelle Waffen und Zauberkräfte erwerben können. Glücksspiele sind für Kinder und Jugendliche verboten, doch in Games gibt es dahingehend inzwischen eine komplette Verwässerung des Jugendschutzes seitens der staatlichen Organe. Als weitere Option könnte man die Industrie mit einbeziehen und etwa Sonderabgaben für Games einführen, die dann wieder in die Forschung, Prävention und Behandlung von Computerspielsucht gesteckt werden.

"Die Pandemie hat den problematischen Konsum zunächst maskiert"

ZEIT ONLINE: Kann man sagen, welche Art von Spielen das Suchtverhalten fördern?

te Wildt: Es sind vor allem Onlinespiele, wobei inzwischen ohnehin fast alle Spiele eine Onlinefunktion haben, weshalb die Unterscheidung zwischen Online- und Offlinespielen überholt ist. Letztlich sind es vor allem die komplexen Games, die süchtig machen, darunter drei Genres: Rollenspiele, Strategiespiele und Shooter. Casual Games etwa auf Smartphones spielen eine geringere Rolle. Generell lässt sich sagen, dass erst seit die Spiele onlinefähig sind, eine weltweit anerkannte Suchtgefahr entstanden ist. Seit diese Entgrenzung stattfindet und man immer neue Mitspieler findet und neue Updates zu noch weiteren Spielwelten erhält.

ZEIT ONLINE: Auch in China stehen vor allem Onlinespiele in der Kritik.

te Wildt: Wenn nun die chinesische Regierung die Kinder- und Jugendlichen zurück in die Offlinecomputerspiele treibt, kann man sich aber nicht sicher sein, dass die Gefahr gebannt ist. Diese funktionieren auch als Einstiegsdroge. Wenn man dann mit 18 Jahren frei online spielen kann, dann ist vielfach mit einem Backlash zu rechnen, was wir auch manchmal bei Patientinnen und Patienten sehen, bei denen das Elternhaus allzu restriktiv gewesen ist. Computerspielsucht ist ja keine Kinderkrankheit, wir sehen es immer mehr in allen Altersgruppen.

ZEIT ONLINE: In Deutschland spielen Umfragen zufolge Jugendliche durchschnittlich zwischen ein und zwei Stunden am Tag, bei 16 Prozent sind es, auch durch die Pandemie bedingt, sogar mehr als vier Stunden. Behandeln Sie inzwischen mehr computerspielsüchtige Kinder?

te Wildt: Ja, seit etwa einem Jahr steigen die Zahlen der Anmeldungen bei uns in der Klinik. Wir hatten Anfang der Pandemie eine Flaute, vermutlich, weil ohnehin alle Menschen vor ihren Rechnern saßen und die Eltern ihren Kindern mehr erlaubt haben. Die Pandemie hat den problematischen Konsum zunächst maskiert. Erst jetzt, da sich die Wogen etwas glätten, wird deutlich, wie viele in einer Computerspielsucht versunken sind.

ZEIT ONLINE: Woran erkenne ich, dass meine Sprösslinge ein ungesundes Verhältnis zu Videospielen haben?

te Wildt: Die tatsächlichen Suchtsymptome sind für Eltern nicht immer leicht zu erkennen, weshalb die Spielzeit nicht als alleiniger Gradmesser dienen sollte. Stattdessen sollte man auf negativen Folgen in drei Bereichen achten: Der erste betrifft den Umgang mit dem eigenen Körper, also wenn die Kinder sich physisch selbst vernachlässigen, zu- oder abnehmen oder schlecht schlafen. Der zweite Bereich sind die sozialen Beziehungen: wenn Kinder nicht mehr in den Sportverein gehen, sich von Freunden zurückziehen und permanent mit den Eltern streiten. Und der dritte Bereich betrifft die Leistungen: wenn die Noten in der Schule leiden oder das Studium geschmissen wird. Bei vielen unserer Patientinnen und Patienten kommt das alles zusammen. Umgekehrt kann man aber auch sagen: Selbst wenn ein Kind vergleichsweise viel spielt, aber gute Leistungen erbringt, gesund ist und ein aktives Sozialleben hat, dann ist es vermutlich nicht suchtkrank.

ZEIT ONLINE: An wen wende ich mich, wenn ich mehrere negative Folgen beobachte?

te Wildt: Die ersten Ansprechpartner können Kinderärzte sein, die sind inzwischen immer häufiger auf problematische Mediennutzung geschult. Ansonsten gibt es Kinder- und Jugendpsychiater sowie spezialisierte Suchtberatungsstellen. Unter den Namen Ompris gibt es außerdem inzwischen eine von uns mitbetriebene Onlineberatungsstelle, die die Betroffenen in der digitalen Welt abholt.