Digitaler Tourismus:Sightseeing auf dem Sofa

Digitaler Tourismus: Der Münchner Stadtführer Tobias Röckl streamt seine Touren seit Corona live in die weite Welt des Internets.

Der Münchner Stadtführer Tobias Röckl streamt seine Touren seit Corona live in die weite Welt des Internets.

(Foto: Stephan Rumpf)

Mit virtuellen Touren retten sich manche Stadtführer durch die Corona-Krise. Jetzt dürfen die Gäste wieder kommen - aber die digitalen Angebote sollen bleiben. Warum?

Von Eva Dignös

Dunkel ist es im Turm, aber da sind sie, die sieben Glocken, das klingende Herz des Alten Peter mitten in der Münchner Altstadt. Die älteste, die "Zwölferin", sorgt seit mehr als 600 Jahren für das Mittagsläuten, die größte, die Jubiläumsglocke, ist fast zwei Meter hoch und klingt so tief wie sonst keine Glocke in der Stadt, berichtet Stadtführer Tobias Röckl seinen Zuhörern.

Er tut das, was Städtereisende von ihrem Guide erwarten: Er führt dorthin, wo man ohne ihn nicht hinkäme. Und genau genommen kommt man auch mit ihm normalerweise nicht in den Glockenstuhl der ältesten Pfarrkirche in München. Die Turmbesteigung findet virtuell statt, nur Röckl selbst steht im Glockenstuhl und muss sich nun beeilen, wieder ins Freie zu kommen, denn die Zeiger der Uhr rücken unaufhaltsam in Richtung des nächsten Glockenschlags. Seine Zuhörerinnen und Zuhörer sitzen vor dem Bildschirm: Die Tour war ursprünglich ein Livestream, nun ist sie abrufbar auf Youtube und Facebook.

Geplant waren die digitalen Touren nicht, als Röckl und seine Kollegin Synthia Demetriou im Frühjahr 2020 mit ihrem Unternehmen "Ludwig & Lola Stadtführungen" starteten. Doch dann kam Corona. Die Hotels geschlossen, die Grenzen dicht, keine Städtetouristen, keine Reisegruppen, weder aus dem Ausland, noch aus dem Inland.

Von einem Tag auf den anderen ging nichts mehr für die mehreren Tausend Städteguides in Deutschland, keine Touren, keine Einnahmen und kaum finanzielle Unterstützung, berichtet Maren Richter, die Vorsitzende des Bundesverbandes der Gästeführer in Deutschland (bvgd). Rund 7500 Guides sind dort organisiert, insgesamt gibt es in Deutschland rund doppelt so viele, schätzt Richter. Die Touren leben von ihrem Wissen, von den Geschichten, die in keinem Reiseführer stehen, aber auch von der Darbietung, manchmal sogar im historischen Kostüm, von der Möglichkeit, Fragen zu stellen und hinter Kulissen zu blicken. Manche Stadtführer sind begnadete Entertainer, andere haben einen besonderen Draht zu Kindern, wieder andere berichten berührend aus persönlichem Erleben.

Lässt sich das auf digitalen Plattformen umsetzen, ohne dass man die Stadt dreidimensional sieht, sie hört, riecht, anfasst? Ohne dass die Zuhörerinnen und Zuhörer, ohnehin ermattet von den Videokonferenzen des Arbeitstags, wegdämmern wie einst bei Opas Diashow vom letzten Urlaub? Dass sie es versuchen würden, war Synthia Demetriou und Tobias Röckl schnell klar, allein schon, um etwas zu tun zu haben in der lange Zeit des Lockdowns, "für unsere eigene geistige Gesundheit", sagt Röckl. Und so entstanden im Home-Office virtuelle Live-Stadtführungen: Gut gelaunt spielen sich die beiden Stadtführer als Moderatoren die Bälle zu, dank Greenscreen-Technik ist das, worüber sie reden, immer im Hintergrund im Blick, die Zuhörerinnen und Zuhörer können Fragen stellen, kommentieren, mitmachen.

Zugute kam ihnen das technische Know-how, das Röckl aus der Medienbranche mitbrachte, "die Lernkurve war dennoch riesig", sagt er. Mittlerweile gehört unter anderem eine 360-Grad-Kamera zur Ausrüstung, auch ein Gebärdendolmetscher kann eingeblendet werden. Und die beiden Stadtführer haben gelernt, "dass der Unterhaltungswert digital immer noch einen Tick größer sein muss".

Viele Firmen buchten, um ihren Mitarbeitern zumindest virtuell etwas Abwechslung zu bieten: "Wir haben Weihnachtslieder gesungen und digitale Bierproben organisiert", sagt Demetriou. Konkurrenz mit ähnlichen Angeboten habe es "erstaunlich wenig" gegeben, Anregungen fanden sie vor allem in den USA.

Digitaler Tourismus: Mittlerweile kann Synthia Demetriou auch wieder Gruppen durch die Stadt führen. Aber die digitalen Angebote sollen bleiben.

Mittlerweile kann Synthia Demetriou auch wieder Gruppen durch die Stadt führen. Aber die digitalen Angebote sollen bleiben.

(Foto: Stephan Rumpf)

Und weil sie selbst so viel Spaß daran hatten, in die Welt zu senden, raus aus der Enge des Lockdowns, entstanden zusätzlich die kostenlosen Livestreams, aus dem Nymphenburger Schlosspark, vom Viktualienmarkt, aus dem Alten Peter, aber auch, zum Jahrestag der Befreiung, aus der KZ-Gedenkstätte in Dachau. Dass sich ein solches Thema ebenfalls digital in angemessener Weise umsetzen lässt, ist Tobias Röckl wichtig, das ist zu spüren, wenn der für Führungen durch die Gedenkstätte zertifizierte Guide davon erzählt.

Digitales Erzählen als Möglichkeit, diejenigen zu Wort kommen zu lassen, die sonst unsichtbar bleiben - auch beim Berliner Verein "Querstadtein" hat man versucht, aus der Corona-Not eine Tugend zu machen. Die gemeinnützige Organisation veranstaltet Stadtrundgänge zu den Themen Obdachlosigkeit sowie Flucht und Migration. Geführt werden die Touren von Menschen, die wissen, wovon sie sprechen, weil sie selbst ohne Wohnung waren oder ihre Heimat verlassen mussten. 770 Touren gab es 2019, mit Besuchergruppen aus aller Welt, mit Schulklassen oder jungen Frauen und Männern, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvierten.

"2020 wollten wir das Angebot eigentlich noch ausbauen", erzählt Geschäftsführerin Selina Byfield. Doch stattdessen stellte sich mit dem ersten Lockdown die Frage, ob es überhaupt weitergehen würde. Man rettete sich durch Crowdfunding und Fördergelder - und durch zwei digitale Projekte. So nimmt eine App mit auf das "Leben auf der Straße", nicht nur in Berlin, sondern überall dort, wo die User die App öffnen. Videoberichte der "Querstadtein"-Stadtführer werden dafür verbunden mit interaktiven Elementen, "zum Beispiel der Aufgabe: fotografiere einen Ort, an dem du schlafen könntest", erläutert Byfield: "Es geht darum, die eigene Umgebung aus der Perspektive von Menschen zu sehen, die auf der Straße leben."

Die Idee fand viel Zuspruch, zum Beispiel in virtuellen Seminaren zur politischen Bildung für junge Menschen. Die App wird man deshalb ebenso wie einen Audiowalk mit "Stimmen vom Bahnhof Zoo" weiterhin anbieten, zusätzlich zu den "echten" Rundgängen, die seit dem Frühsommer wieder möglich sind.

Ohnehin läuft das Geschäft nur langsam wieder an, berichtet Maren Richter vom Gästeführerverband. Vor allem in den großen Städten, "vor zwei Jahren noch enorm nachgefragt", sei das Interesse weiterhin sehr gering, es fehlen die Busreisen und die internationalen Gruppen. Besser sieht es in kleinen Städten und ländlichen Gebieten aus. Vor allem offene Führungen seien gefragt, erfährt Richter von Kolleginnen und Kollegen, teilweise gehe die Tendenz "in Richtung Vor-Corona-Niveau", auch dank des Trends zum Deutschlandtourismus und der gewachsenen Lust auf Heimattouren.

Ein Hygienekonzept hatte man schon zum Ende des ersten Lockdowns erarbeitet: Startpunkte an weniger belebten Plätzen, kleinere Gruppen, bargeldlose Zahlungsmöglichkeiten. Außerdem können sich die Mitglieder nun auf der Plattform die-gaestefuehrer.de mit ihren Touren und Themenschwerpunkten präsentieren - auch das ist Digitalisierung, die bleiben wird.

Synthia Demetriou und Tobias Röckl, die beiden Münchner Stadtführer, sind ebenfalls ganz analog wieder auf den Straßen und Plätzen ihrer Stadt unterwegs. Doch die digitalen Angebote sollen fester Bestandteil des Portfolios von "Ludwig & Lola" werden: Die virtuelle Wiesn-Tour ist schon konzipiert.

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Foto IPP/Fabio Cimaglia Roma 29/05/2021 Il ritorno dei turisti nel centro storico della città . Nella foto: Fontana di T

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