Corona-Kontaktverfolgung: Wie die "Pingdemie" die Briten verwirrt

Bei der Delta-Welle sollte das digitale "Test and Trace" der Gesundheitsbehörde NHS endlich Nutzen bringen. Wie sich nun zeigt, stimmt das nur bedingt.

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(Bild: Annie Spratt / Unsplash)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Chris Stokel-Walker
  • Lindsay Muscato
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Oscar Maung-Haley, 24, arbeitete gerade in seinem Teilzeitjob in einer Bar in Manchester, als auf seinem Smartphone eine Nachricht aufploppte. Das kurze "Ping" kam von der sogenannten Test-and-Trace-App der staatlichen Gesundheitsbehörde NHS. Das Programm teilte ihm mit, dass er möglicherweise mit COVID-19 infiziert sei und sich nun eigenständig in Quarantäne begeben müsse. Die Nachricht sorgte für Moung-Haley sofort für Ärger. "Ich musste quer durch die Menschenmenge in der Bar laufen, um meinem Manager zu zeigen, dass ich jetzt gehen muss", sagt er.

Die Benachrichtigung war nur eine von Hunderttausenden, die derzeit jede Woche in Großbritannien verschickt werden, während das Land in der Delta-Welle steckt. Das bedeutet, dass immer mehr Menschen vor den gleichen logistischen, emotionalen und finanziellen Herausforderungen stehen. Schätzungsweise jeder fünfte Nutzer hat sich bereits dazu entschlossen, die App wieder zu löschen - schließlich kann man keine Benachrichtigung erhalten, wenn man sie nicht auf seinem Telefon hat. Das aktuelle Phänomen wird in den sozialen Medien als "Pingdemic", also Pingdemie, bezeichnet – und derzeit für alles Mögliche verantwortlich gemacht, von der Benzinknappheit bis zu leeren Supermarktregalen, die in immer mehr Landesteilen zu erleben sind.

Die Benachrichtigungsflut spiegelt das Zusammenspiel mehrerer Entwicklungen wider. Die Delta-Variante, die sich viel leichter zu verbreiten scheint als andere COVID-19-Stämme, ist über Großbritannien hinweggefegt – aufgrund der guten Kontakte nach Indien, wo sie zuerst auftauchte. Gleichzeitig haben sehr viele Briten die NHS-App heruntergeladen. Unterdessen hat das Vereinigte Königreich viele seiner Regeln zur Eindämmung von Kontakten fallen gelassen, sodass sich wieder mehr Menschen treffen als zuvor. Mehr Infektionen, mehr Nutzer, mehr Kontakte: mehr Pings.

Aber genau so sollte es ja eigentlich funktionieren, sagt Imogen Parker, Policy Director für das Ada Lovelace Institute, das sich mit KI und Datenpolitik beschäftigt. Und selbst bei so vielen Benachrichtigungen würden immer noch viele Infektionen nicht von dem System erfasst.

"Mehr als 600.000 Menschen wurden in der Woche vom 8. Juli in England und Wales von der NHS-COVID-19-App aufgefordert, sich zu isolieren", sagt sie, "aber das sind nur etwas mehr als doppelt so viele wie die Anzahl der neuen positiven Fälle im gleichen Zeitraum." Die Kritik an der Pingdemie sei fehl am Platz: "Die App funktioniert im Wesentlichen so, wie sie immer funktioniert hat."

Christophe Fraser, Epidemiologe am Big-Data-Institut der Universität Oxford, hat Studien zur Effektivität der App durchgeführt und sagt, dass das Programm zwar wie vorgesehen funktioniert, es aber ein ganz anderes Problem gibt: der Gesellschaftsvertrag breche zusammen. "Die Leute sehen im Fernsehen, dass es wieder Raves und offene Nachtclubs gibt. Warum wird mir dann gesagt, ich soll zu Hause bleiben? Das ist ehrlich gesagt ein guter Einwand", sagt er.

Es mangele an klaren, fairen Regeln, was zu weitverbreiteter Frustration führe, wenn die Leute aufgefordert würden, sich selbst zu isolieren. Wie man während der Pandemie gesehen habe, hingen Nutzen und Akzeptanz der Gesundheitstechnologie davon ab, wie sie vermarktet wird, wie die Medien über sie berichteten. Und auch wie Ärzte sie beurteilen und wie aktiv der Gesetzgeber ist (oder auch nicht). "Die Menschen wollen das Richtige tun", so Fraser. "Aber man muss ihnen auf halbem Weg entgegenkommen."

Während der Pandemie führte das öffentliche Gesundheitswesen in Großbritannien – wie in vielen anderen Regionen auch – Apps zur Benachrichtigung über eine mögliche COVID-19-Infektion ein. Viele kritisierten, sie seien nicht ausreichend genutzt worden. Dutzende von Ländern haben solche Apps entwickelt, um Nutzer vor einer Corona-Infektion zu warnen.

Privatsphärenfreundliche Zufallskennungen werden ausgetauscht auf der Basis des von Google und Apple gemeinsam entwickelten Benachrichtigungssystems. Während die einen noch über Datenschutz diskutierten und technische Pannen kritisierten, wurde auf der anderen Seite der Vorwurf laut, die Apps seien zu spät in der Pandemie eingesetzt worden. Zu diesem Zeitpunkt waren die Fallzahlen zu hoch, als dass die Technik das Blatt noch hätte wenden können.

Sollte also nicht gerade jetzt in Großbritannien – nachdem die technischen Pannen ausgebügelt sind, die Akzeptanz hoch ist und eine neue Welle anrollt – die App wirklich etwas bewirken können? Nicht, solange die Menschen die Anweisungen zur Isolierung ignorieren, sagt Jenny Wanger, die bei der Linux Foundation Public Health die technischen Initiativen zu COVID-19 leitet.

Achtzehn Monate nach Beginn der Pandemie ist "die Technik normalerweise keine Hürde", sagt sie. "Auch die Wissenschaft ist nicht das Problem: Wir wissen jetzt, wie die Coronavirus-Übertragung funktioniert. Das Problem liegt im Verhalten. Am schwierigsten an dem ganzen System ist es, die Leute zu überzeugen, etwas ganz Bestimmtes zu tun – auf Basis bewährter Methoden."

Oxford-Experte Fraser denkt über Anreize nach. Für viele Menschen, sagt er, ergäben die Regeln der Kontaktverfolgung – ob digital oder analog – nicht immer einen Sinn. Wenn die Nutzung der App bedeute, dass man am Ende in Quarantäne muss, aber der Nachbar, der die App nicht installiert hat, nicht, fühle sich das ungerecht an.

Um die Sache noch komplizierter zu machen, hat Großbritannien angekündigt, seine Regeln ändern zu wollen. Ab Mitte August müssen sich vollständig geimpfte Menschen nicht mehr isolieren, wenn sie mit dem Virus in Kontakt gekommen sind, sondern nur noch bei einem positiven Test. Etwa die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung des Landes hat beide Impfdosen erhalten. Hier könnten Anreize hilfreich sein. "Vielleicht sollte man den Leuten Tests anbieten, damit sie weiter zur Arbeit gehen und ihr Leben weiterführen können, anstatt für ein paar Tage isoliert zu sein", sagt er. Inzwischen haben bereits einige Unternehmensführer – zum Beispiel der Chef einer Billigfluglinie – ihre Angestellten aufgefordert, die App zu löschen, um die Pings zu vermeiden. Sogar die beiden mächtigsten Politiker des Landes, Premierminister Boris Johnson und Schatzkanzler Rishi Sunak, versuchten, die Anforderung, sich zu isolieren zu umgehen, nachdem sie selbst Pingdemie-Opfer geworden waren. Ihre Begründung: Sie nähmen an einem "Test alternativer Maßnahmen" teil. Erst ein öffentlicher Aufschrei zwang sie in die Quarantäne.

Die Unsicherheit wird durch die Art und Weise, wie die App funktioniert, noch verstärkt – obwohl das dem Datenschutz dient. Die Benutzer erfahren nicht, wer von ihren Kontakten sie infiziert haben könnte und wo eine Interaktion stattgefunden hat. Und zwar absichtlich nicht: Denn die Apps wurden so entwickelt, um die Privatsphäre der Menschen zu schützen.

"In der Epidemiologie gilt Überwachung als gut und richtig", sagt Fraser. "In der Digitaltechnik aber hat sie ihre Schattenseiten." Seiner Ansicht nach habe das Verfahren jedoch den richtigen Mittelweg gefunden. "Wissenschaftler und Epidemiologen müssen die Menschen informieren und gleichzeitig die Privatsphäre wahren."

Blöd nur, wenn das nicht wirklich funktioniert. Alistair Scott, 38, lebt mit seiner Verlobten im Norden Londons. Das Paar hat während des Lockdowns alles gemeinsam erledigt – doch vor Kurzem erhielt Scott eine Benachrichtigung, dass er sich isolieren müsse. Seine Partnerin bekam hingegen keinen Ping. Natürlich ging es sofort um die Frage "Warum wurde ich informiert und sie nicht?", sagt er.

Laut der Experten gibt es mehrere Möglichkeiten. Eine könnte sein, den Algorithmus zu optimieren: Die App könnte etwa neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die notwendige Dauer einer COVID-19-Exposition einbeziehen, sodass verständlicher würde, dass eine Benachrichtigung trotz Impfung womöglich gerechtfertigt sei. "Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass eine vollständige Impfung das Risiko, dass jemand das Virus überträgt, um etwa die Hälfte senken sollte", sagt Parker vom Ada Lovelace Institute. "Eingebaut in das Modell könnte das einen beträchtlichen Einfluss auf die Warnmeldungen haben." Das heißt: Ein Alarm für geimpfte Menschen könnten seltener werden.

Wanger von der Linux Foundation Public Health hingegen sagt, dass die NHS-Chefs die Einstellungen sogar so anpassen sollten, dass sie empfindlicher reagieren – um damit das erhöhte Übertragungsrisiko von Varianten wie Delta zu reflektieren. Bislang aber scheinen solche Änderungen noch nicht vorgenommen worden zu sein. So oder so, sagt sie, wichtig sei, dass die App weiterhin ihren Job macht.

"Es ist schwierig, wenn sie als Gesundheitsbehörde einen dramatischen Anstieg der Fälle in Ihrem Land beobachten und gleichzeitig versuchen, wirtschaftliche Ziele zu verfolgen, indem Sie Regeln lockern", sagt Wanger. "Sie wollen die Menschen zu Verhaltensänderungen bewegen, aber dabei spielen diese ganzen psychologischen Aspekte mit rein." Ergo: Wenn die Leute der Benachrichtigungen überdrüssig werden, ändern sie ihr Verhalten nicht. Währenddessen werden die Menschen immer noch angepingt, sind verwirrt – und hören die unterschiedlichsten Aussagen aus Politik und Wirtschaft. (bsc)