"Die Bundesregierung muss das digitale Analphabetentum abschaffen" – Seite 1

Der Chaos Computer Club und die bisherige Bundesregierung waren, freundlich formuliert, nicht immer auf einer Wellenlänge. Während sich die IT-Experten verschlüsselte Kommunikation, bessere IT-Sicherheit oder überall besseres Internet wünschten, wollten CDU, CSU und SPD lieber in WhatsApp mitlesen können, Sicherheitslücken offen lassen und sie trieben den Breitbandausbau auch eher gemächlich voran. Die Ampel-Koalition will nun alles anders machen – und hat viele Punkte in ihrem Koalitionsvertrag aufgegriffen , die der CCC zuvor empfohlen hatte. Ist das jetzt die Wende in der Digitalpolitik? Haben wir bald überall schnelles und sicheres Internet? ZEIT ONLINE hat CCC-Sprecher Dirk Engling gefragt.

ZEIT ONLINE: Herr Engling, wie ist es eigentlich, wenn die designierte Bundesregierung bei einem abschreibt?

Dirk Engling: Es ist schon schön zu sehen, dass sie anerkennt, dass es brauchbare Lösungen in der Digitalpolitik benötigt und dass sie sich dabei an einigen unserer Formulierungen orientiert hat.

ZEIT ONLINE: Der Chaos Computer Club hat zu den Koalitionsverhandlungen eine Formulierungshilfe für Digitales im neuen Regierungsprogramm veröffentlicht, viele Punkte finden sich nun tatsächlich in dem Papier von SPD, Grünen und FDP wieder. Sie sind zufrieden, oder?

Engling: Es gibt zumindest erfreulich viele Punkte, die offensichtlich zu Denkanstößen und auch zu klaren Bekenntnissen geführt haben, etwa die Digitalisierung der Verwaltung und das Angehen von Problemen beim Breitbandausbau.

ZEIT ONLINE: Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass Sie nicht die Ersten sind, die diese Punkte eingefordert haben. Selbst in der CDU gab es mit Thomas Heilmann und Nadine Schön Menschen, die etwa die Verwaltung digitalisieren wollten. 

Engling: Es stimmt: Vieles von dem, was wir formuliert haben, sind Binsenweisheiten oder hätten schon längst Binsenweisheiten sein sollen. Der große Skandal ist ja, dass diese Felder jahrelang trotzdem unbeachtet blieben. 

ZEIT ONLINE: Ist der Koalitionsvertrag jetzt der große Aufbruch in der Digitalpolitik?

Engling: Ob das der große Aufbruch ist, muss sich zeigen. Es wird Widerstände geben, die schlicht damit zu tun haben, dass in Behörden auch heute noch technikferne Menschen sitzen, die diesem Fortschritt natürlich skeptisch gegenüberstehen. Es wird Lobbyorganisationen geben, die sich den Koalitionsvertrag mit der Lupe durchlesen werden auf die Frage hin, ob sie irgendwo noch einen Euro verdienen können. Und dann muss der Koalitionsvertrag in ein Gesetzesvorhaben gegossen werden, das dann Bundestag und Bundesrat passieren muss. Ob in diesem ganzen Prozess der Wesenskern des Koalitionsvertrags erhalten bleibt, das macht uns schon noch Bauchschmerzen.

ZEIT ONLINE: Lassen Sie uns konkret darüber sprechen, was sich verändern soll. Sie wollen mehr Open Source, also mehr quelloffene, für Dritte einsehbare Softwarelösungen; dieses Versprechen ist nun teils auch im Koalitionsvertrag gelandet. Wozu braucht man das?

Engling: Der Staat nimmt viel Geld in die Hand, um Softwarelösungen zu kaufen. Die bleiben dann aber oft hinter verschlossenen Behördentüren, sprich: Niemand kann kritisch überprüfen, wie sicher die sind. Konzipieren wir staatliche Projekte künftig quelloffen, dann kann theoretisch jeder frustrierte Bürger einen Bug, also einen Fehler in der Software, finden und melden oder sogar selbst beheben. Das würde auch verhindern, dass der Staat irgendwann noch die unsichere, verschlossene Software eines schon gar nicht mehr existenten Unternehmens verwendet, die gar nicht mehr upgedatet wird.

ZEIT ONLINE: Sprich: Es würde mehr Projekte wie die Corona-Warn-App geben, weniger Aufträge an Firmen wie die hinter der Luca-App

Engling: In der Tat.

"Wir nehmen das hin wie einen Herbststurm, dabei ist es ein Unding"

ZEIT ONLINE: Die neue Bundesregierung will auch Hersteller für Schäden haftbar machen, die fahrlässig durch IT-Sicherheitslücken in ihrem Produkt verursacht werden. Warum braucht es diese Verpflichtung? 

Engling: Wenn ein Auto einem auf der Autobahn auseinanderfällt und dabei Schäden an Personen und anderen Autos anrichtet, würde man sich diese Frage überhaupt nicht stellen. Im Digitalen kann ein Hersteller seine Software nicht nach Stand der Technik schreiben oder nach Bekanntwerden von Problemen einfach keine kostenlosen Sicherheitspatches vorlegen – und er hat dennoch nichts zu befürchten. Es ist gang und gäbe geworden, möglichst billige Produkte mit geradeso tauglicher Software auf den Markt zu werfen, die aber eigentlich schon, wenn die Geräte in den Regalen der Discounter liegen, nicht mehr gepflegt wird. Wir nehmen das hin wie einen Herbststurm, dabei ist es eigentlich ein Unding. 

ZEIT ONLINE: Es ist wichtig, die Hersteller in die Pflicht zu nehmen. Aber Nutzerinnen und Nutzer müssen ein Update auch auf ihr Gerät spielen. Und das machen viele nicht.

Engling: Man kann die Verantwortung nicht dem Einzelnen zuschieben. Wir würden ja auch niemanden zumuten, dass er sich erst einmal in Foren erkundigen muss, um herauszufinden, bei welchem Fleischer man nicht giftiges Essen bekommt. Was aber stimmt: Es mangelt an einer digitalen Grundbildung in Deutschland. Wo sich eine Bundeskanzlerin hinstellt und damit kokettiert, dass Digitalisierung eh Neuland sei und nicht so schlimm, wenn man sich nicht auskenne, ist man nicht vorbereitet auf die Zukunft. Wir sehen das auch immer wieder in Gesprächen mit Lehrern, Richterinnen, Beamten, Mitarbeitern in Behörden: Die Grundsätze des Digitalen werden oft nicht verstanden. Schon das Auseinanderhalten einer legitimen E-Mail versus einer Spam-E-Mail ist da ein großes Problem. 

ZEIT ONLINE: Sie fordern daher digitale Bildung auch an Schulen, das ist einleuchtend. Aber es gibt ja viele Menschen, die nicht mit dem Internet aufgewachsen sind, die keine Bildungseinrichtungen mehr besuchen. Wie erreicht man die? 

Engling: Es muss inakzeptabel werden, mit Technikunkenntnis zu kokettieren. Es braucht Vorbilder, Politiker, die sich hinstellen und sagen, dass wir zwar anderen Ländern bei der Digitalisierung hinterherhängen, dass wir das aber ändern können. Klar, Bildung ist Ländersache. Aber an manchen Stellen kann die Bundesregierung Mittel zur Verfügung stellen, Angebote schaffen. Diesen Hebel sollte sie nutzen, um das digitale Analphabetentum abzuschaffen.

ZEIT ONLINE: Wie kann das aussehen?

Engling: Wenn eine Behördenmitarbeiterin ganz souverän mit Technik umgeht, erklären kann, welche Software wo eingesetzt wird und wie sich der Bürger damit einen Behördengang sparen kann, dann färbt das natürlich auf den Rest der Gesellschaft ab. Wenn wir dann auch im Breitbandausbau vorankommen, sind wir als Gesellschaft auch endlich so weit, dass wir auf Augenhöhe über Dinge wie Blockchains und künstliche Intelligenz und, keine Ahnung, vielleicht auch Flugtaxis reden können. 

ZEIT ONLINE: Hätte nicht auch ein Digitalminister oder eine Digitalministerin ein solches Vorbild sein können?

Engling: Nein, ein Digitalministerium wäre eine Senke für kompetentes Personal gewesen. Da würden die guten Leute auf Positionen sitzen, auf denen sie nichts bewegen können, und trotzdem die Schuld für das Versagen anderer in der Digitalisierung abbekommen. Digitalisierung ist ein Thema, das in allen Ministerien ganz dringend selbstverständlich angegangen werden sollte. Genauso wie es in jeder Behörde einen Brandschutzbeauftragten gibt oder einen Datenschutzbeauftragten sollte es auch in jeder Behörde einen IT-Fortbildungsbeauftragten geben.

Die letzte Regierung hat die Latte so niedrig gelegt, dass es für die neue Regierung hoffentlich gar kein Problem darstellen sollte, über diese Hürde zu springen.
CCC-Sprecher Dirk Engling

ZEIT ONLINE: Die bisherige Bundesregierung hat nicht so häufig auf den Rat des Chaos Computer Clubs gehört, die Ampel hat nun viele Ihrer Vorschläge aufgegriffen. Woher kommt dieser Wandel? Die SPD, die wesentlich an der bisherigen Regierung beteiligt war, ist ja nun auch wesentlicher Teil der neuen.

Engling: Die komplett digital native-Generation ist langsam in dem Alter, in dem sie auch an der Regierung beteiligt ist. Viele von den beteiligten Verhandlungsführern bei der FDP und den Grünen stammen aus dem Umfeld der Netzpolitik. Die kennen wir auch schon seit Jahren und es ist als CCC erfrischend, dass die für diese Bereiche Zuständigen nicht erst das Wort Digitalisierung im Lexikon nachschlagen müssen, sondern damit aufgewachsen sind. Was die SPD angeht: Die muss jetzt beweisen, dass in der bisherigen Koalition wirklich die CDU und nicht sie selbst der Bremser war.

ZEIT ONLINE: Insgesamt klingt es so, als seien Sie ob der Digitalpläne der neuen Bundesregierung recht optimistisch.

Engling: Die letzte Regierung hat die Latte so niedrig gelegt, dass es für die neue Regierung hoffentlich gar kein Problem darstellen sollte, über diese Hürde zu springen. Wenn sie die reißt, dann haben wir es als Gesellschaft einfach nicht besser verdient.