Quantencomputer sind der letzte Schrei an der Wall Street – zu Recht?

Lange waren sie eine Zukunftsvision von Nerds. Inzwischen geht es um die Frage, wer mit Quanten-Power das grosse Geld macht. Ganz vorne dabei ist die Finanzindustrie.

Helga Rietz
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Im IBM-Forschungszentrum in Yorktown Heights bei New York inspiziert ein Techniker den Behälter, in dem sich der Quantencomputer samt Kühlapparatur befindet.

Im IBM-Forschungszentrum in Yorktown Heights bei New York inspiziert ein Techniker den Behälter, in dem sich der Quantencomputer samt Kühlapparatur befindet.

Misha Friedman / Getty

An der Börse steigen und fallen die Kurse von Aktien, Derivaten und Optionen Tag für Tag, scheinbar unvorhersehbar. Aber es gibt mathematische Methoden, mit denen sich die Wahrscheinlichkeit bestimmter Marktentwicklungen quantifizieren lässt.

Weil an der Börse auch kleine Vorteile grosse Gewinne bedeuten können, ist der Finanzmarkt seit je schnell an Bord, wenn es gilt, neue Methoden zu nutzen. So war es beim Hochfrequenzhandel, ebenso bei der Anwendung maschinellen Lernens. Und nun ist der letzte Schrei an der Wall Street das Quantencomputing. So jedenfalls klingen derzeit manche Headlines in den Finanzressorts grosser Zeitungen.

Tatsächlich kommen neue Beiträge zum Quantencomputing seit geraumer Zeit nicht mehr zwingend aus den Elfenbeintürmen der Universitäten. Grossbanken wie JP Morgan Chase, Goldman Sachs, die Bank of America und Credit Suisse haben eigene Forschungsteams zusammengestellt, die die neuen Möglichkeiten im Sinne der Geldinstitute erkunden.

«Inzwischen hat fast jede Bank einen Head of Quantum Computing», sagt Antoine Jacquier, Finanzmathematiker am Imperial College London und am Turing Institute, das ebenfalls an der Themse liegt. Jacquier gilt als Experte für die Möglichkeiten, welche Quantencomputer für die Finanzindustrie eröffnen könnten. Diese Rechenmaschinen nutzen Objekte aus der Quantenwelt, etwa Ionen, Atome, Photonen oder supraleitende Schleifen, um damit Rechenoperationen durchzuführen.

Wie Quantencomputer rechnen

Die Qubits, die elementaren Recheneinheiten eines Quantencomputers, können genau wie die Bits eines klassischen Rechners null oder eins repräsentieren, aber, und das ist der Unterschied, auch eine Überlagerung von null und eins. Zwei Qubits können deshalb vier Zustände darstellen, drei Qubits acht, und zwanzig Qubits schon mehr als eine Million Zustände. In einige wenige Qubits passt also so viel mehr Information als in dieselbe Zahl klassischer Bits. Ausserdem, und das ist noch wichtiger, können die Qubits so miteinander verschränkt werden, dass sie sich «spüren». Wird ein Qubit verändert, dann reagieren alle mit ihm verschränkten Qubits darauf. Deswegen müssen Quantencomputer zwangsläufig ganz anders rechnen als klassische.

Teil eines grösseren Ökosystems

Um das Rechnen mit Quanten herum ist in den letzten Jahren ein privatwirtschaftliches Ökosystem gewachsen, das ganze Branchen erfasst. Die Finanzindustrie ist darin nur die Spitze eines Eisbergs. Mehr als 200 Firmen sind zurzeit im Bereich Quantencomputing tätig; entwickeln Hardware, vor allem aber Software und Services für potenzielle Anwender, und versuchen sich zeitig eine gute Position zu sichern. Unter ihnen sind Schwergewichte wie IBM und Google. Auch Alibaba, HP, Tencent, Baidu und Huawei haben eigene Forschungsabteilungen zum Quantencomputing aufgebaut.

Die meisten der Unternehmen in der Branche sind indes junge, relativ kleine Startups. Jahr um Jahr gelingt es ihnen, mehr Risikokapital einzuwerben: Laut einer Analyse von Pitchbook, einem Anbieter von Marktdaten und -analysen, ist allein in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres über eine Milliarde Dollar an Risikokapital in private Quantencomputing-Firmen geflossen – mehr als in den drei Jahren davor zusammengenommen.

Man kann sich fragen, ob sich die Investoren mit allzu grossem Optimismus auf eine neue Technologie stürzen, die zwar viel verspricht, bis zur Reife aber gut und gerne noch Jahrzehnte brauchen könnte. Rein technisch betrachtet ist das Rechnen mit Quanten noch immer unreif, wie auch Jacquier betont. Dessen ungeachtet scheint es derzeit wenig Zweifel daran zu geben, dass das Quantencomputing in absehbarer Zeit nützliche Resultate liefern wird – und sehr viel Geld.

Davon sind auch die Unternehmensberater der Boston Consulting Group überzeugt. So schrieben sie im Juli 2021 in einer Einschätzung, dass Quantencomputing-Anwendungen bis 2050 in verschiedensten Industriezweigen zwischen 450 und 850 Milliarden Dollar einspielten, von denen 70 bis 135 auf den Sektor Finanzen, Banken und Versicherungen entfielen.

Ein Quantencomputer besteht vor allem aus Kühlelementen, die den Chip mit den supraleitenden Quantenbits schrittweise auf die erforderliche Temperatur abkühlen.

Ein Quantencomputer besteht vor allem aus Kühlelementen, die den Chip mit den supraleitenden Quantenbits schrittweise auf die erforderliche Temperatur abkühlen.

Graham Carlow

Simulieren, optimieren, lernen

Die Finanzbranche dürfte gleich an mehreren kritischen Punkten von der Rechenpower der Quantencomputer profitieren. Einer davon betrifft die Modellierung und Risikoanalyse von Finanzmärkten. Laut Stefan Wörner, der bei IBM Research die Abteilung Quantum Applications Research & Software leitet, werden solche Marktsimulationen herangezogen, um die Preise von Derivaten und Optionen festzulegen und das implizite Risiko abzuschätzen – möglichst so, dass das Investment sich auszahle.

Zweitens haben Fondsmanager eine Menge Optimierungsprobleme zu lösen. Hierbei geht es um die Frage, wie ein Portfolio bei gleichbleibendem Risiko noch mehr Rendite erwirtschaften oder bei gleicher Rendite mit einem geringeren Anlagerisiko einhergehen kann. Und drittens können aus den Datenbergen, die der Handel tagtäglich generiert, mittels maschinellen Lernens neue Erkenntnisse abgeleitet werden. Heute schon wird Machine-Learning verwendet, um Geldwäschern auf die Spur zu kommen oder Transaktionen automatisch durchzuführen. Und auf allen drei Feldern versprechen sich die «Quants» vom Quantencomputing einen weiteren Sprung nach vorn.

Aus «ob» wurde «wann»

Wie viel davon ist Hype, und worauf gründet sich der enorme Zukunftsoptimismus der Branche?

Bis etwa 2010 waren Quantencomputer vor allem Laborkuriositäten. Maschinen, mit denen in vielen, vielen Jahren einmal etwas Nützliches angestellt werden könnte. Vielleicht. Unter der Voraussetzung, dass zuvor etliche technische Probleme gelöst würden. Und so ziemlich alles, was über Quantencomputer geschrieben wurde, folgte diesem einen Narrativ: «Wenn es irgendwann einen voll funktionsfähigen Quantencomputer gibt, dann wird man damit tolle Dinge tun können.»

Heute, nur zehn Jahre später, kann jedermann selbst einen Quantencomputer bedienen. Die hochkomplizierte, notorisch empfindliche Hardware steht zwar bei IBM, Amazon Braket oder Google, aber als Cloud-Service kann jeder, der das will und über ein gewisses Spezialwissen verfügt, Rechnungen auf den Maschinen ausführen lassen.

Der momentan leistungsfähigste Quantenrechner verfügt gerade einmal über 100 Qubits. Deshalb können bis anhin nur recht überschaubare, wenig komplexe Rechnungen durchgeführt werden. Das grosse Interesse und Engagement verschiedenster Industriezweige gründet sich also offensichtlich auf die Erwartung, dass auch die Entwicklung der Quantencomputer dem Mooreschen Gesetz folgen wird.

«Wir sehen ein exponentielles Wachstum», sagt Michael Biercuk, Gründer und CEO von Q-CTRL, einem Startup in Sydney, «und zwar auf mehreren Ebenen: Die Anzahl Qubits in funktionierenden Maschinen wächst exponentiell, aber auch die Anzahl veröffentlichter Arbeiten und angemeldeter Patente. Die Entwicklungen kommen schneller voran, als wir vor wenigen Jahren noch erwartet haben.»

Was Quantencomputer besonders gut können

Wie die Arbeit zahlreicher Mathematiker und Physiker gezeigt hat, bieten Quantenalgorithmen ausgerechnet bei jenen Problemen Vorteile, die für klassische Rechner besonders harte Nüsse sind. Dazu gehört das grosse Feld der Simulationen, bei dem, grob gesagt, die Weiterentwicklung von komplizierten Zusammenhängen prognostiziert wird. Klassisch löst man die Aufgabe mit roher Rechengewalt, egal, ob es um Windströme in der Atmosphäre geht oder die Schwingungen eines Moleküls.

Im Quantencomputer indes laufen diese Simulationen in einer Umgebung ab, die selbst den Gesetzen der Quantentheorie genügt. Damit ist ein Quantencomputer vielen natürlichen Systemen viel ähnlicher als ein klassischer Computer. Und selbst Probleme, die auf den ersten Blick nichts mit Quanten zu tun haben, lassen sich oft so umformulieren, dass sie der Arbeitsweise eines Quantencomputers entgegenkommen. Das Klima zum Beispiel. Oder eben die Wertentwicklung eines Portfolios und die erwartete Rendite von Derivaten und Optionen.

Die Quantenalgorithmen zur Lösung all dieser Fragestellungen sind schon vergleichsweise alt. Der Shor-Algorithmus, der grosse Zahlen in Primfaktoren zerlegt und deshalb die Verschlüsselungstechnik von heute obsolet machen könnte, stammt aus dem Jahr 1994; jener von Lov Grover, der das effiziente Durchsuchen grosser Datenbanken mit dem Quantencomputer möglich macht, wurde 1996 publiziert.

Seither sind die Methoden kontinuierlich erweitert und verfeinert worden – unter anderem in den Forschungsabteilungen von Grossbanken wie JP Morgan Chase, Goldman Sachs, der Bank of America und der Credit Suisse.

Mit Fehlern ist zu rechnen

Bis diese Algorithmen wirklich vertrackte Probleme lösen können, bleibt indes noch viel zu tun. Erstens sind grosse, weitgehend fehlerfrei arbeitende Quantencomputer noch immer ausser Reichweite. Diejenigen Systeme, die IBM, Google und Amazon über ihre Cloud-Services anbieten, sind sogenannte «noisy intermediate-scale quantum systems», kurz NISQ, die weit hinter dem Ideal eines grossen, universellen Quantencomputers zurückbleiben, wie Hannah Venzl erläutert, die das Kompetenznetzwerk Quantum-Computing der deutschen Fraunhofer-Gesellschaft leitet.

Zweitens hängt die Implementierung der Algorithmen von der verwendeten Hardware ab. Nicht nur unterscheiden sich die heute zur Verfügung stehenden Quantenrechner stark voneinander, auch innerhalb der Systeme sind nicht alle Qubits gleich (so wie es im Idealfall sein sollte), sondern unterschiedlich stark von Störungen beeinträchtigt.

Drittens ist es schwierig, Daten zur Bearbeitung an einen Quantencomputer zu übergeben. Man muss dazu die Qubits in einen bestimmten Ausgangszustand versetzen und die Resultate am Schluss wieder zurück in ein klassisches Datenformat übersetzen. Dies effizient zu tun, ist nach Einschätzung von Antoine Jacquier die grösste Herausforderung für die Anwendung von Quantenrechnern.

Aufgrund dieser Einschränkungen verwendet man, viertens, die Quantencomputer nie allein, sondern nur in hybriden Systemen, in denen klassische Computer nur einige für sie besonders schwierige Teilaufgaben an Quantenrechner übergeben. Dadurch entstehen zusätzliche Schnittstellen, die erst einmal bewältigt werden wollen.

Schlüsselrolle an den Schnittstellen

Viele der kleineren Startups im Quantencomputing haben genau diese Schnittstellen als Geschäftsfeld für sich entdeckt, darunter Michael Biercuks Firma Q-CTRL in Sydney. Er und andere reduzieren, so das Versprechen, den Zusatzaufwand, der die Verwendung von Quantencomputern heute noch so kompliziert macht.

Q-CTRL sagt von sich selbst, sie entwickle Firmware für Quantenhardware. Das Ziel sei, sagt Biercuk, dass Anwender nicht irgendwann, sondern schon in wenigen Jahren Codes für Quantencomputer schrieben und dabei genauso wenig über Hardware nachdenken würden, wie das heute beim klassischen Programmieren der Fall sei.

Dabei kommt eine weitere Schwierigkeit ins Spiel, die der Quantenhardware innewohnt: Qubits sind, egal auf welche Weise sie realisiert werden, notorisch instabil und reagieren selbst auf winzige Störungen von aussen empfindlich. Um aufwendige Rechnungen durchführen zu können, müssen sie deshalb stabilisiert werden – oder man korrigiert laufend die Fehler, die sich zwangsläufig einschleichen.

Dieses Korrigieren ist möglich, aber aufwendig: Um die fehleranfälligen Qubits zu bändigen, braucht es einfach noch mehr zusätzliche Qubits. Viel mehr: Derzeit ist die Rede von rund 1000 Qubits, um nur eines stabil nutzen zu können. Michael Biercuk ist jedoch optimistisch, dass sich das Verhältnis zwischen nutzbaren und zur Fehlerkorrektur «verbrauchten» Qubits auf etwa 1:10 oder 1:20 drücken lassen wird.

«Wir brauchen keine vollständig fehlertoleranten Rechner, um nützliche Dinge zu tun», sagt Biercuk, «sie müssen nur hinreichend fehlertolerant sein.» Auch müssten Quantenrechner nicht universal sein, nur gross genug für ganz bestimmte Problemlösungen. «Wenn wir uns auf dieses Ziel konzentrieren, dann können wir schon in einigen wenigen Jahren viel erreichen», so Biercuk.

Wird zu viel versprochen?

Sind die hohen Erwartungen, die Investoren und verschiedenste Industrien in das Quantencomputing setzen, gerechtfertigt? Doug Finke, Herausgeber des «Quantum Computing Report» und langjähriger Beobachter der Szene, äussert sich für gewöhnlich zurückhaltend. Es bestehe durchaus die Gefahr, dass die derzeit enorm hohen Erwartungen nicht erfüllt werden könnten, jedenfalls nicht in kurzer Zeit, sagte er unlängst gegenüber dem Wissenschaftsmagazin «Nature». Die Folge davon könnte ein empfindlicher Dämpfer für die ganze Branche sein – dann nämlich, wenn sich Investoren infolge enttäuschter Erwartungen zurückziehen würden. Dies geschah in den 1990er Jahren im Hinblick auf die Anwendungen künstlicher Intelligenz.

Sicherlich sind unter den vielen Quantum-Computing-Startups auch einige, die zu viel in zu kurzer Zeit versprechen. Zugleich aber dürfte die pessimistische Perspektive, dass auf dem Weg zu nutzen- und letztlich gewinnbringenden Quantencomputern noch Dekaden der Entwicklung notwendig sind, zu negativ sein. Das haben die letzten Jahre eindrücklich gezeigt: Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass wir heute so weit sein würden, wie wir es sind?

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