Wer sind wir im Internet? Wir haben den Test gemacht – mit irritierendem Ergebnis

Wer sind wir im Internet? Wir haben den Test gemacht – mit irritierendem Ergebnis

Engagierte Narzisstin und peinlicher Nörgler. Welches Bild unsere Daten von uns zeichnen.

Sascha Britsko, Florian Schoop, Natalie Wenger, Anja Lemcke
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So langsam fragen wir uns, ob das eine gute Idee war. Vor einigen Monaten haben wir Natalie alle Informationen gegeben, die Unternehmen über uns im Internet gesammelt hatten. Natalie, eine Datenjournalistin, die wir noch nie gesehen haben.

Nun sitzen wir ihr in einem sterilen Sitzungszimmer gegenüber. Kennt sie nun unsere intimsten Details? Weiss sie auch vom Youtube-Video «How to Have a Six Pack Level 2»? Von unseren verunglückten Beziehungen? Natalie grinst uns an, mit einem Stapel von Papieren in der Hand. Uns graut vor ihren Entdeckungen.

Wir, das sind Sascha und Florian, eine Journalistin und ein Journalist, die herausfinden wollen, was das Internet wirklich über uns weiss. Wir sind die idealen Versuchspersonen: Mit unserem Online-Verhalten verkörpern wir zwei Prototypen von Menschen.

Immer wieder unterhalten wir uns über unsere Gewohnheiten beim Surfen. Lohnt es sich wirklich, ständig aufzupassen? Zeit zu verschwenden, um die Geschäftsbedingungen zu lesen oder beim Besuch jeder Website nur die essenziellen Cookies zu speichern? Wissen die Tech-Firmen nicht längst über uns Bescheid?

Wir machen den Test und fordern im Netz so viele Informationen über uns an wie möglich. Jedes Unternehmen, das im Internet Daten sammelt, muss diese auf Anfrage herausrücken. So verlangt es das Schweizer Datenschutzgesetz. Nicht nur die Grossen wie Google, Amazon, Apple oder Facebook müssen somit zeigen, was sie über uns wissen, sondern auch Migros und Coop. Oder Behörden wie der Schweizer Nachrichtendienst.

Wie man zu seinen Daten kommt

Manche verlangen einen eingeschriebenen Brief mit der Kopie des Personalausweises. Bei einigen braucht es nur ein paar Klicks. Wieder andere sind von unserer Anfrage überfordert.

Es ist also gar nicht so einfach, an seine Daten zu kommen. Wir treffen uns in der Cafeteria zum Gespräch.

Florian: Und? Hat’s geklappt?

Sascha: Ich fand’s ziemlich schwierig. Vor allem bei den hiesigen Firmen war es kompliziert.

Florian: Wo hattest du Schwierigkeiten?

Sascha: Bei Coop, zum Beispiel. Die haben mir zwar meine Daten gegeben – ausgedruckt und als Brief verschickt. Darauf standen aber nur Name, Adresse und wie viele Superpunkte ich habe. Nichts, was ich nicht selber wüsste. Ich habe auch mehrmals eine Warenkorbanalyse meines Kaufverhaltens bestellt. Es ist nie etwas zurückgekommen. Und wie war es bei dir?

Florian: Ich habe so ziemlich alles bestellt, was mir in den Sinn gekommen ist. Fake Account von Facebook, Fake Account von Google, echtes Amazon-Konto, echtes Apple-Konto. Nach ein paar Tagen oder Wochen konnte ich alles herunterladen. Bei den internationalen Konzernen war es ziemlich einfach. Hast du eigentlich mal was vom Nachrichtendienst des Bundes gehört?

Sascha: Ja. Bei mir stand aber nichts drin. Ich bin geheimdienstlich uninteressant.

Florian: Ich habe nichts gehört. Die Anfrage ist schon bald ein Jahr her. Ob die mich für einen Terroristen halten?

Trotz unterschiedlicher Ausbeute ist am Ende unseres Feldzugs durchs Internet einiges zusammengekommen: Viele Gigabytes an Daten stecken in unzähligen Ordnern auf unseren Computern. Wir versuchen, uns zurechtzufinden. Wir sortieren, dekomprimieren Dateien, doch alles, was wir sehen, sind willkürlich aneinandergereihte Zahlen und Buchstaben. Ein Tweet hier, eine private Nachricht da. Kaputte Tabellen, unlesbare Files. Wir verlieren den Überblick.

Wir brauchen Hilfe. Und machen uns auf die Suche nach einer Spezialistin. Nach einer, die uns lesen kann und uns sagt, wer wir sind.

Wir finden Natalie, die Datenjournalistin.

Wie uns Natalie durchleuchtet

Für Natalie sind ZIP-Ordner und Dateien mit kryptischen Formaten ein gefundenes Fressen.

Für Natalie sind ZIP-Ordner und Dateien mit kryptischen Formaten ein gefundenes Fressen.

Für Natalie sind ZIP-Ordner und Dateien mit kryptischen Formaten so spannend wie für andere ein Krimi. Und Natalie hat einen weiteren Vorteil: Sie kennt uns nicht persönlich. Noch nicht. Ihre einzigen Informationen über uns stammen aus unseren Daten. Natalie kann uns unvoreingenommen porträtieren.

Natalie macht sich an die Arbeit. Eine Arbeit, die mit Unterbrüchen drei Monate dauern wird. In dieser Zeit wachsen bei uns die Zweifel. Eine fremde Person, die in unseren intimen Daten schnüffelt? Warum haben wir uns bloss darauf eingelassen?

Natalie nährt unsere Zweifel immer wieder. Etwa, wenn sie Florian schreibt: «Soso, du und deine Freundin haben einmal für die ‹Studierendenzeitung› geschrieben?» Oder: «Ich hoffe, du hast deine Sixpack-Übungen heute schon gemacht? Du warst ja mal bei Level 2. Mal sehen, ob du das Youtube-Video zu Ende geschaut hast.»

Zeit für einen zweiten Austausch in der Cafeteria.

Sascha: Hast du langsam Angst, Flo?

Florian: Schon, ja. Obwohl ich eigentlich das Gefühl habe, es gebe gar nicht so viel zu enthüllen.

Sascha: Vielleicht braucht es genau das: Vielleicht braucht jeder und jede eine Natalie. Eine, die uns ständig piesackt und sagt, welche Dinge sie über uns herausgefunden hat. Vielleicht könnte eine Natalie die Menschen für das Thema Datenschutz sensibilisieren.

Florian: Vielleicht eine Natalie-App, die dir sagt: Heute hast du wieder etwas ganz Heftiges preisgegeben. Du willst wissen, was? Dann swipe nach rechts.

Auch wir wollen langsam wissen, was Sache ist. Hat Natalie nur geblufft? Wir treffen uns im Sitzungszimmer. Natalie klopft einen Stapel von Papieren auf dem Tisch zurecht, doppelt bedruckt. Sie setzt sich auf den Stuhl, räuspert sich. Dann beginnt sie.


Florians Welt

Florian, warst du eigentlich wieder einmal in dieser Pizzeria in Herrliberg? Ich nehme an, nicht. Du hast mir ja zusammen mit Sascha alle Datensätze von Apple, Facebook, Whatsapp, Google, Migros und Coop geschickt. Und von deinem Amazon-Warenkorb. Ich konnte also nicht nur lesen, wem ihr welche Nachrichten geschrieben hattet, sondern auch, wo ihr wart und welche Filme ihr euch angeschaut habt. Ich kam mir vor wie eine Stalkerin.

Natürlich fand ich auch deine Google-Bewertung vom 5. September 2019, Florian. Über jene Pizzeria in Herrliberg. Du hast geschrieben: «Der Teig war vollkommen aufgeweicht, von der Pizza tropfte Flüssigkeit herunter. Die Tomatenschnitze auf dem Belag waren kalt.» Als du dich bei der Bedienung beschwertest, zeigte sich diese wenig einsichtig, war unfreundlich. «Der Kassenbeleg wurde mir regelrecht hingeworfen. Nie wieder.» Bist du ein kleinlicher Nörgler?

Ein erstes oberflächliches Bild von Florian war entstanden: ein junger Vater, Stadtmensch, nach seinen Büchervorlieben zu urteilen, wahrscheinlich ein Akademiker. Ein Pragmatiker, der heiratet, wenn das Baby kommt.

Nun wollte ich tiefer graben, doch Florians Social-Media-Kanäle lösten bei mir Verwirrung aus. Sein Profilbild auf Facebook zeigt den Ausserirdischen ALF aus der gleichnamigen Comedy-Serie. Das allein ist nicht aussergewöhnlich, viele Leute zeigen ihr Gesicht nicht im Internet, aber Florian gab darüber hinaus an, Blödelfilme zu mögen.

Dem widersprachen sein Youtube- und sein Apple-TV-Konsum: Von der derben Komödie «Hangover» etwa, die er laut Facebook so sehr mochte, fand sich keine Spur. Und dann gab es da noch andere seltsame Einträge: auf Facebook eine Kontaktliste mit lauter arabischen Namen, in der Agenda kryptische Einträge, auf Amazon vier verschiedene Adressen – gleichzeitig.

Ich bekam das Gefühl, an der Nase herumgeführt zu werden. Ist Florian leicht paranoid? Hofft er, die Datensammler der grossen Konzerne mit Falscheinträgen zu verwirren?

Um einen besseren Überblick zu gewinnen, beschloss ich, eine Timeline aller Informationen zu erstellen und nur jene Daten als korrekt einzustufen, die sich mehrfach bestätigen liessen. Oder die Florian unabsichtlich preisgegeben hatte: Facebook-Likes, Google-Suchen, Adressen, Bestellungen.

Obwohl Florian nirgends seinen Beruf oder seine Studienrichtung angibt, liefern seine Leselisten, Amazon-Bestellungen und E-Mail-Kontakte wichtige Hinweise. Die Diskussionen in der Whatsapp-Gruppe «Arische Sprachfreunde» erhärten den Verdacht: Florian könnte Germanistik studiert haben. Ich hoffe, dass «arisch» hier ein schlechter Studentenwitz ist. Zudem besuchte er wohl Kurse in Philosophie, wo er an mehreren Sprechstunden teilnahm, und Geschichte, was eine Seminararbeit zum Thema Mittelalter verrät.

Aus Florians Kalender geht hervor, dass er seit 2013 – mit einigen Unterbrüchen – für das Zürich-Ressort der NZZ arbeitet.

Gemäss seinen Amazon-Bestellungen wohnte Florian in einem grossen Wohnblock am Stadtrand, später ist er wohl umgezogen. Es gibt jedenfalls plötzlich eine Whatsapp-Gruppe, die nach einer neuen Zürcher Adresse benannt ist. 2014 lieferte Amazon Florians Bestellungen für einige Monate in den Leipziger Stadtteil Neuschönefeld. Wahrscheinlich verbrachte er dort ein Auslandsemester.

Aus gespeicherten Orten, Agenda-Einträgen und Wi-Fi-Standorten geht hervor, dass Florian nach Südafrika reiste, die Niederlande, Portugal und Paris besuchte und 2017 mit Lea nach Alaska flog.

Lea ist seit über acht Jahren Teil seines Lebens. Die beiden lernten sich wahrscheinlich an der Uni kennen, wo sie für die «Studierendenzeitung» schrieben. Die Heilpädagogin machte 2016 ihren Masterabschluss und arbeitet heute mit autistischen Kindern. Florian deklariert nirgends, in welcher Beziehung er zu Lea steht. Aber die Häufigkeit, mit der ihr Name auftaucht, lässt vermuten, dass die beiden ein Paar sind.

Im Sommer 2018 nahmen auf Amazon die Suchen nach Babyprodukten zu und die Suchen nach Gadgets und Kleidern ab. Ein Kind schien unterwegs zu sein. Auch dass die Sportaktivitäten im Kalender seltener werden, deutete darauf hin. Und später die Google-Suchen nach Barbie und Pingu.

Wie sich Florian im Internet verhält, ist schwer nachzuzeichnen. Er hat seine Einstellungen bewusst so ausgewählt, dass Google nicht aufzeichnet, welche Websites er besucht. Bei Youtube hingegen wurden die Daten hin und wieder erfasst. Zu Florians meistgesuchten Begriffen zählen Datenschutz, Polizei oder Cybersecurity.

Das passt zu seinem Surf-Verhalten. Florian weiss offenbar nicht nur, dass seine Daten überall landen können, er verhält sich auch entsprechend. Die öffentliche Google-Bewertung der Pizzeria in Herrliberg scheint ein einmaliger Ausrutscher gewesen zu sein. Der Kontrollverlust am Keyboard war wohl dem Ärger über den miesen Service geschuldet.


Saschas Welt

Während es bei Florian schwierig war, überhaupt Informationen zu finden, werde ich von Saschas Datenflut beinahe erschlagen. Sie hat mir zusätzlich zu den Gigabytes von Apple, Facebook, Whatsapp, Google, Migros und Coop zahlreiche Ordner ihres Twitter- und Instagram-Kontos zukommen lassen. Allein das Herunterladen der Daten dauerte über eine Stunde. Ich bin etwas überfordert, als ich durch die Dateien klicke.

Oleksandra – wie Sascha mit vollem Namen heisst – teilt freiwillig jede Menge Informationen über sich in den sozialen Netzwerken: 618 Tweets, 110 Instagram-Bilder und über 500 Facebook-Posts geben Einblick in ihr Leben. Im Gegensatz zu Florian findet sich Saschas Geburtsdatum in ihren Social-Media-Profilen: Sie wurde am 20. Juni 1995 geboren. In jenem Jahr also, in dem viele Menschen in der Schweiz zum ersten Mal vom Internet hörten. Als 2007 das erste iPhone auf den Markt kam, war sie 12.

Die Eckdaten von Saschas Leben lassen sich einfach nachzeichnen. Schwieriger ist es, aus der Unmenge von Informationen diejenigen herauszufiltern, die mehr zeigen als den Menschen, den sie in den sozialen Netzwerken zu sein vorgibt.

Mit den Informationen, die Sascha freiwillig mit der Öffentlichkeit teilt, lässt sich ihr Leben bereits detailliert nachzeichnen. Der zusätzliche Datenberg, den sie mir schickte, ist so reich, dass er sich sogar statistisch auswerten lässt. So weiss ich dank ihrem Google-Verlauf, dass sie zu Beginn der Woche mehr recherchiert als gegen Ende und dass sie gegen 11 Uhr online am aktivsten ist. Anders als bei Florian lässt sich viel deutlicher erkennen, wie sie sich im Laufe der Zeit verändert hat.

2010 taucht ihr Bild auf dem Mode-Blog Lookbook.nu auf. «I was a good girl, Santa», schreibt sie zu einem Foto, auf dem sie ein beiges Baumwollkleid und einen schwarzen Hut trägt. Seither hat sich Saschas Modestil verändert. Ihrem anfangs eher mädchenhaften Stil mit vielen kurzen Kleidern folgte eine Punk-Phase mit Band-Shirts und schwarz umrandeten Augen. Heute kauft sie vermehrt auf Flohmärkten oder über die Secondhand-Shopping-App Depop ein. Sie shoppt mit Vorliebe edle Slippers, Stoffhosen oder schwarze Lederjacken.

Aus den zahlreichen Fotos, auf denen sie sich im Bikini zeigt, sich vor dem Spiegel schminkt oder sich keck in Pose wirft, schliesse ich, dass Sascha viel Wert auf ihr Aussehen legt. Ihre wechselnde Haarfarbe ist gut dokumentiert: 2013 war sie Rot, 2016 Blond, heute ist sie Braun. Sascha lässt sich die Haare lasern, besucht eine Kosmetikerin. Ein Tattoo schmückt ihren Oberkörper. Sascha ist offenbar ein mitteilungsfreudiger Millennial mit dem typischen Hang zur Selbstdarstellung.

Das meistgesehene Video auf Youtube ist eine Yoga-Morgenroutine, die den perfekten Start in den Tag verspricht. Ihr Youtube-Verlauf zeigt, dass sie am Anfang der Pandemie – wie andere auch – besonders viele Work-outs absolvierte.

Obwohl auch Sascha vieles nicht direkt zugänglich macht, kann ich durch die Kombination der Daten der einzelnen Plattformen nicht nur nachzeichnen, wo sie wann wohnte und wohin sie in den Ferien verreiste, sondern auch, welche Produkte sie besonders interessant findet. Und mit wem sie eine Liebschaft eingeht.

Sascha scheint ein zielstrebiger Mensch zu sein. Ihr beruflicher Werdegang lässt sich auf Twitter verfolgen. Es zeichnet sich schon früh ab, dass sie Journalistin werden wird. Mit 20 absolviert sie Praktika bei den «Schaffhauser Nachrichten» und bei «Vice», wo sie etwa über das harte Leben männlicher Balletttänzer schreibt. Sie studiert an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Journalismus und Kommunikation, schreibt für den «Beobachter» und die «Schaffhauser AZ», ehe sie 2019 als Volontärin bei der NZZ eintritt. Seit Januar 2021 ist sie Redaktorin beim Zürich-Ressort des «Tages-Anzeigers».

Aus einer alten Twitter-Unterhaltung in Russisch geht hervor, dass Sascha ursprünglich aus der Ukraine stammt.

Sascha liest im Vergleich zu Florian wenig. Dafür schaut sie gerne Serien. Netflix gehört zu ihren meistbesuchten Websites. Besonders angetan haben es ihr Comedy- und Dramaserien wie «New Girl» und «Gilmore Girls». Doch auch die Krimiserie «The Mentalist» steht auf der Wiedergabeliste. Als Teenager hat sie für den Schauspieler Ashton Kutcher geschwärmt. Ich vermute, dass sie eine heimliche Romantikerin ist.

Obwohl Sascha einer Facebook-Seite für nicht heterosexuelle Frauen folgt, dokumentieren ihre Daten bis jetzt nur Beziehungen zu Männern. Mit knapp 15 Jahren, Anfang 2010, kommt sie mit Lorenz (Name geändert) zusammen. Im August 2010 bekennt sie sich noch öffentlich zur Beziehung, nur einen Monat danach postet sie «wäää buebe» und fragt, warum sie so schlecht behandelt werde. Später ist sie in einer Beziehung mit Sebastian (Name geändert), mit dem sie auch eine Zeitlang zusammenwohnt.

Im November 2018 hilft Sascha, eine Veranstaltung im Toni-Areal zu organisieren. Via Twitter fragt sie einen gewissen Sven (Namen geändert) an, ob er dort über seine Erfahrungen als Journalist sprechen würde. Sie kennt Sven von ihrer Arbeit bei einer Lokalzeitung. Seither hat sich ihre Kommunikation verändert, sie gehen gemeinsam essen, feiern mit Freunden, regen sich über Politiker oder andere Journalisten auf.

Ab Herbst 2019 taucht Sven regelmässig in Saschas Bildergalerie auf. Am 24. Dezember 2019 notiert sie ein Weihnachtsessen mit ihm in der Agenda. Einige Monate später kuscheln und küssen sie auf Fotos. Die beiden teilen den gleichen scharfen Humor, den Sinn für Gerechtigkeit und die Liebe zu gutem Essen. Wiederholt schicken sie einander Bilder ihrer Mahlzeiten – von Nudeln, Frozen Joghurt oder einer Schachtel, gefüllt mit Tortenstücken.


Natalie legt das letzte Blatt ihrer Auswertung auf den Stapel. Sie ist fertig. Wir auch.

Florian: Wie geht’s dir, Sascha?

Sascha: Ich fühle mich ein bisschen unwohl. Obwohl das alles Dinge sind, die ich mehr oder weniger freiwillig geteilt habe, ist es komisch zu hören, dass ein fremder Mensch all das über mich weiss.

Florian: Beängstigend fand ich, dass ich trotz meinen Fake-Profilen gut identifizierbar bin. Facebook, Google und Twitter konnten trotzdem herausfinden, wie alt ich bin, wo ich wohne und welches Geschlecht ich habe. Das mit den «arischen Sprachfreunden» – ein Chat von Germanistik-Kumpels – zeigt wiederum, wie schnell ein blöder Witz einen falschen Eindruck erwecken kann.

Sascha: Ich hätte auf die vielen Details aus meinem Liebesleben verzichten können. Meine alten Facebook-Beiträge habe ich längst vergessen. Aber ich muss auch sagen, dass ein verzerrtes und zum Teil falsches Bild von mir entsteht. Ich habe in den letzten Jahren relativ wenig gepostet, viele Daten stammen aus der Zeit meiner Pubertät. Auch habe ich zum Beispiel nie was über Depop gekauft, besitze keine Lederjacke, und Yoga machte ich genau drei Wochen lang, bis es mich langweilte.

Florian: Auch bei mir war nicht immer alles richtig. Lea habe ich nicht an der Uni kennengelernt. Ich bin auch kein Gärtner. Und ich war nie in Südafrika. Vermutlich habe ich Natalie hier mit einer VPN-Verbindung auf die falsche Fährte gelockt. Den Facebook-Account verwende ich übrigens vor allem zu Recherchezwecken, deshalb die arabischen Schriftzeichen.

Sascha: Dass wir ein so unterschiedliches Online-Verhalten haben, erkläre ich mir so: Als die sozialen Netzwerke so richtig in Fahrt kamen – das war vor gut 10 Jahren –, spielten bei mir die Hormone während der Pubertät verrückt. Da hat man ein grosses Mitteilungsbedürfnis. Ich weiss noch, wie ich meinen ersten Facebook-Status schrieb und gleich 15 Likes bekam. Das war Serotonin pur, ich dachte: Ach, so einfach kann man Zustimmung erhalten?

Florian: Das Alter kann schon eine Rolle spielen. Als ich pubertierte, musste ich mein Serotonin analog beschaffen. Aber ich kenne auch Freunde und Freundinnen in meinem Alter mit grossem Mitteilungsbedürfnis in den sozialen Netzwerken.

Sascha: Ich stelle mir jetzt einfach die Frage: Leuchten die Daten-Giganten aus dem Silicon Valley uns auch so detailliert aus wie Natalie? Oder gehen sie sogar noch weiter?


Wer nach unseren Daten giert

Um das herauszufinden, haben wir uns mit Tom Hofmann getroffen. Tom beschäftigt sich seit zwanzig Jahren mit Cybersicherheit. Er leitete IT-Projekte in Japan, China und Finnland, arbeitete als Berater für Pharmafirmen und Energieunternehmen. Zurzeit ist er Sicherheitsexperte bei einem Aargauer Energieversorger und doziert an der Fachhochschule Nordwestschweiz über Cybersecurity.

Tom Hofmann doziert an der Fachhochschule Nordwestschweiz über Cybersecurity.

Tom Hofmann doziert an der Fachhochschule Nordwestschweiz über Cybersecurity.

Für Tom Hofmann ist klar: Unsere Daten sind für viele Unternehmen von grossem Wert. «Tech-Firmen wie Google oder Facebook hüten Details über ihre User wie einen Schatz.» Klar ist aber auch: Unser Experiment entspricht nicht ganz der Realität. Ein solch umfassender Datensatz, wie wir ihn zusammengetragen haben – von den IT-Multis über die Migros bis zum Geheimdienst –, steht einem einzelnen Unternehmen nicht zur Verfügung. Unser Versuch zeigt aber eindrücklich, welche Menge an persönlicher Information im Internet herumliegt. Dieses Strandgut des Lebens verrottet nicht, es kann auch nach Jahren noch abgerufen werden, von überall aus.

Viele dieser persönlichen Daten sind kommerziell allerdings nicht von Interesse. «Mit wem du eine Liebschaft eingehst und was deine Hobbys sind, ist für Datensammler zweitrangig», sagt Hofmann. Viel wichtiger seien die Metadaten. «Also Informationen wie: Wann und wie oft benutzt du eine App? Welche Seiten besuchst du im Internet? Über welche WLAN loggst du dich ein?»

Solche Informationen sind finanziell äusserst lukrativ, denn sie erlauben Marketingfirmen, gezielt passende Gruppen anzusprechen. «Es gibt ja diesen Spruch», sagt Hofmann: «Wer hat uns verraten? Die Metadaten.»

Das sogenannte Direktmarketing ist eine der effektivsten Werbeformen. Dabei werden Kundendaten nach verschiedenen Merkmalen ausgewertet, um Reklamen möglichst präzise an potenzielle Käuferinnen und Käufer zu bringen. Florian erhiele dann die Werbung für Windeln, und Sascha würden günstige Flüge angeboten.

Das Sammeln und das Kategorisieren der Metadaten übernehmen sogenannte Datenbroker. Sie bieten massgeschneiderte Pakete an, die den Kontakt zu Personengruppen mit bestimmten Eigenschaften ermöglichen: gutverdienende Weinliebhaber, häusliche Computerfreaks, reisefreudige Millennials.

Eines der bekanntesten Direktmarketing-Unternehmen der Schweiz ist Künzler-Bachmann. Die Firma trägt Adressen von Privatpersonen zusammen und ergänzt sie mit Daten wie Geschlecht, Sprache, Beruf, Ausbildung. Kunden von Künzler-Bachmann können Daten mieten für die einmalige Nutzung. Oder längerfristige Lizenzen kaufen. Je mehr personalisierte Daten gewünscht werden, desto höher ist der Preis.

Sind auch wir bei Künzler-Bachmann registriert? Wir fragen als Privatpersonen an. Die Antwort erstaunt: Angeblich sind weder Natalie, Sascha noch Florian dort unter den jetzigen Wohnadressen gespeichert. Aber was ist mit anderen Angaben zu unserer Person? Was weiss das Unternehmen zu unserem Geschlecht, zur Sprache, zum Beruf? Wir haken nach – und warten.

Gleichzeitig starten wir eine offizielle Medienanfrage. Wie kommt das Unternehmen an unsere Informationen? Künzler-Bachmann antwortet schriftlich. Die gesammelten Personendaten stammten aus öffentlich zugänglichen Verzeichnissen wie dem Telefon- und Branchenverzeichnis oder dem Handelsregister. Die Firma versichert, keine Daten bei Facebook und Google zu ersteigern. Sie schreibt: «Wir verfügen über Partnerschaften, die uns helfen, unsere Daten zu pflegen und auf dem aktuellen Stand zu halten.» Welche Partnerschaften das sind, bleibt unklar.

Firmen wie Künzler-Bachmann teilen uns ein in verschiedene Milieus. In Zielgruppen. In Unterschicht, Mittelschicht oder Oberschicht. Sie kategorisieren mit Labels wie «Performer», «digitale Kosmopoliten» oder «genügsame Traditionelle». Jeder Haushalt wird dementsprechend eingeordnet.

Uns interessiert natürlich, zu welcher Kategorie wir zählen. Sascha, die digitale Kosmopolitin, und Florian, der Adaptiv-Pragmatische? Und unsere Datenanalystin Natalie – die Postmaterielle? Wir erfahren es nicht. Auch auf mehrfache Nachfrage erhalten wir keine Antwort mehr.

In der Schweiz dürfen Datenbroker Informationen ohne Einwilligung der Betroffenen bearbeiten – wenn eine ausreichende Transparenz gewährleistet ist. Aber was genau heisst das? Und ist der Datenschutz in der Schweiz tatsächlich streng genug?

Im Gegensatz zu anderen Ländern seien die Regeln bezüglich Datenschutz in der Schweiz akzeptabel, sagt Tom Hofmann. «Doch es gibt auch hierzulande Beispiele dafür, wie Daten bereits für elementare Lebensbereiche verwendet werden.» Die Axa-Versicherung etwa biete seit diesem Jahr eine «Smartbox» fürs Auto an, einen sogenannten «Drive Partner». Damit lässt sich die Fahrweise des Lenkenden überwachen. Junglenker, die sich am Steuer vorbildlich verhalten, bekommen 15 Prozent Prämienrabatt. Und wer «vorausschauend» fährt, erhält Gutscheine.

«Solange wir uns vorbildlich verhalten, ist alles gut», sagt Hofmann. Der Krankenversicherer Helsana etwa hat einen Gesundheits-Tracker eingerichtet, der misst, wie viel sich eine Person bewegt, ob sie regelmässig joggt oder ein Fitnessstudio besucht. Und welche vorsorglichen Massnahmen sie trifft, um gesund zu bleiben. Wer einen «gesunden Lebensstil» pflegt, bekommt dafür Punkte und kann sich diese bar auszahlen lassen. «Was aber, wenn deine Krankenkasse irgendwann sieht, dass du im Denner regelmässig den billigsten Wein und die fettigsten Chips kaufst?», fragt Tom Hofmann.

Viele sagen: Na und? Sollen sie doch sammeln. Ich habe ja nichts zu verbergen. Auch Hofmann kennt diesen Spruch. Seine Antwort: «Viele Unternehmen sammeln nicht nur die Daten, die wir freiwillig preisgeben. Sie tragen auch sensible Informationen zusammen, die unsere Kreditwürdigkeit bestimmen.» Teilweise seien sie veraltet oder auch einfach falsch. Dennoch beruhen grundlegende Entscheide darauf. Auch grundlegend falsche.

Beim Thema Geld interessiert nicht mehr nur die Zielgruppe fürs Direktmarketing, sondern die Einzelperson. Es geht um die existenzielle Frage, wie zahlungsfähig wir sind. Die Informationen der Wirtschaftsauskunftei Intrum AG etwa bestimmen darüber, ob wir eine Kreditkarte erhalten oder ob wir im Internet auf Rechnung einkaufen können. Bonitätsprüfung nennt sich das. Doch welche Informationen bestimmen unsere Bonität?

Wir starten auch bei der Intrum AG ein Auskunftsbegehren als Privatpersonen per eingeschriebenen Brief. Uns interessiert, als wie wohlhabend das Unternehmen uns einstuft. Auch diese Antwort lässt auf sich warten.

Schneller geht es bei unserer Medienanfrage. Woher die Informationen über uns stammen, wird nur vage beantwortet: «aus unserem Inkasso- und Auskunftei-Geschäft sowie aus öffentlichen Registern». Man kaufe keine Daten von Privatpersonen, auch nicht bei Google oder Facebook. Die Intrum stelle Informationsgrundlagen zur Verfügung, die die Kunden für ihre Bonitätsprüfungen verwenden könnten. Das bedeutet, Partnerfirmen können bei der Intrum nachfragen, ob Marco Müller oder Mara Meier ihre Bestellung überhaupt bezahlen können.

Und wie steht es mit der Bonität von uns? Natalie und Sascha haben bis Redaktionsschluss keine Antwort erhalten, dafür klingelte der Pöstler an der Tür von Florian – mit einem eingeschriebenen Brief der Intrum AG. Seine Bonität: B4. Das bedeutet: gut, aber nicht sehr gut. Hellgrün, aber nicht dunkelgrün. Warum nicht sehr gut, warum nicht dunkelgrün? Darüber steht leider nichts. Auch nicht, auf welcher Grundlage die Intrum AG Florian eingeteilt hat. Geschäftsgeheimnis, meint die Wirtschaftsauskunftei.

Das Unternehmen verrät nur so viel: «Positive Ereignisse geben Pluspunkte, negative Ereignisse geben Minuspunkte.» Es ist also fast wie in einem Game – nur dass man hier nicht weiss, mit welchen Kriterien die Punkte verteilt werden. Einsicht in die Ratings hat dafür praktisch jeder. Die Unternehmenskunden der Intrum AG stammen aus zwanzig Branchen – von Immobilien, Pharma und Versicherungen bis zum Gesundheitswesen und zum Baugewerbe.

Das Problem solcher Auskunftsfirmen ist für Tom Hofmann dies: «Wir wissen nicht, wie sie auf diese Ratings kommen, wie ihr Algorithmus funktioniert.» Es gebe keine Kontrollstelle, die das überprüfe, keinen TÜV fürs Datensammeln.

Die Datenbroker sagen zwar, was sie nicht machen, keine Daten von Google und Facebook kaufen, zum Beispiel. Aber was sie sonst machen, sagen sie nicht.

Für den IT-Spezialisten gibt es deshalb nur eine Lösung: «Je kleiner der digitale Fussabdruck von mir, desto besser.» Je weniger Daten jemand ins Netz stellt, desto weniger Verknüpfungen gibt es über ihn. «Dennoch würde ich keinem sagen: Vergesst das Internet, verwendet keine sozialen Netzwerke», sagt Tom.

Die Lösung sei einfacher: Daten nur selektiv angeben. Warum für eine Newsletter-Anmeldung die echte E-Mail-Adresse verwenden, wenn es auch eine andere tut, die an den echten Account weiterleitet? Warum das echte Geburtsdatum angeben? Warum bei Facebook den echten Namen verwenden, die Partnerschaft eintragen, den Beruf? Und weshalb Google verwenden, wenn es auch valable Alternativen gibt?

«Du kannst dich nicht völlig rausnehmen», sagt Hofmann. «Aber du kannst bestimmen, wem du deine Daten anvertraust.»

So surft man datensparsamer durchs Netz

  • Eine alternative Suchmaschine verwenden. Solche sind etwa startpage.com, ecosia.org oder duckduckgo.com.
  • Über alternative, verschlüsselte Messenger wie Signal oder Threema kommunizieren.
  • Bei Bestellungen in Online-Shops nur die nötigsten Angaben mitteilen.
  • Für Newsletter oder Bestellungen eine alternative E-Mail-Adresse verwenden, die nicht auf Ihren Namen lautet, aber mit Ihrem Mail-Konto verknüpft ist.
  • Nicht eingeloggt bei Google oder Facebook durchs Netz surfen.
  • Tracking-Blocker im Browser installieren. Solche findet man als Add-ons für die meisten Browser.
  • Browser so einstellen, dass er beim Schliessen immer alle Cookies löscht. Oder gleich im anonymen Modus surfen.
  • Bei den Handy-Einstellungen die Rechte der Apps einschränken.

Text: Florian Schoop, Sascha Britsko, Natalie Wenger. Analyse: Natalie Wenger. Illustrationen: Anja Lemcke.

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