"Die Polizei müsste aktiv im Internet nach Straftaten suchen" – Seite 1

Hass und Hetze bei Telegram beschäftigen die Bundesregierung. Die Chat-App gilt als Treffpunkt für Rechtsradikale und Querdenkerinnen – und als schwer regulierbar. Innenministerin Nancy Faeser hat zwar hartes Durchgreifen angekündigt, es bleibt aber unklar, was sie konkret tun könnte, außer Google und Facebook zu bitten, die App aus den App-Stores zu werfen. Gegen die App an sich vorzugehen, wäre ohnehin nicht der richtige Weg, sagt Thomas-Gabriel Rüdiger, der Leiter des Instituts für Cyberkriminologie an der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg.

ZEIT ONLINE: Herr Rüdiger, Bundesjustizminister Marco Buschmann spricht davon, dass die Polizei mehr Präsenz in digitalen Räumen wie etwa Telegram zeigen soll. Sie fordern Ähnliches schon seit vielen Jahren. Wie stellen Sie sich das konkret vor? 

Thomas-Gabriel Rüdiger: Mir geht es vor allem darum, dass die Polizei sichtbar und ansprechbar im Netz präsent ist. Polizistinnen und Polizisten müssten aktiv recherchieren und nach illegalem Verhalten suchen können, etwa in öffentlichen Telegram-Gruppen, aber letztlich in allen öffentlichen Bereichen des digitalen Raums. Das Wichtigste ist aber, dass sie dabei sichtbar sind. 

ZEIT ONLINE: Also eine Art digitales Pendant zum Streifenwagen, der ab und an vorbeifährt. Aber wie sähe das aus? 

Rüdiger: Zugegeben, für den konkreten Einsatz habe ich auch kein schlüsselfertiges Konzept. Eine Möglichkeit wäre beispielsweise, dass die Polizei unter öffentlichen Postings, die strafrechtlich relevant sein könnten, kommentiert: Wir haben das gesehen und leiten ein Ermittlungsverfahren ein.  

ZEIT ONLINE: Würde das nicht sofort alle anderen Mitglieder einer Telegram-Gruppe verschrecken?

Rüdiger: Das ist ja durchaus der Sinn. Menschen, die Normen verletzen, wägen nach der Routine-Activity-Theorie ab: Was bringt mir der Regelverstoß und welche Risiken drohen mir? Auch in der physischen Welt kommt nicht immer die Polizei, wenn Sie bei Rot über die Ampel fahren. Aber es gibt eben eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass der Verstoß doch geahndet wird. Diese Wahrscheinlichkeit ist bei den meisten Delikten im Netz massiv niedriger als bei vergleichbaren analogen Delikten, von Volksverhetzung bis zu sexuellen Übergriffen.

ZEIT ONLINE: Das heißt, es geht weniger um den einzelnen Ermittlungserfolg als um Abschreckung? 

Rüdiger: Tatsächlich geht es eher um das Erreichen einer digitalen Generalprävention. Das heißt, kriminelles Verhalten im Netz zu ent-normalisieren. Das hört die Politik nicht gerne, aber für viele Menschen präsentiert sich das Internet als quasi-rechtsdurchsetzungsfreier Raum. Das liegt auch am Verhältnis von angezeigten zu begangenen Straftaten. Bei analogen Delikten liegt diese Quote bei etwa eins zu zwei bis maximal eins zu zehn. Viele Ladendiebstähle werden gar nicht anzeigt, aber Sie würden vermutlich trotzdem nicht denken, dass ein Einkaufszentrum ein rechtsfreier Raum ist. Bei Delikten im Netz ist diese Quote aber viel höher, liegt eher im dreistelligen Bereich. 

ZEIT ONLINE: Das weiß ich aber erst, seit Sie es mir gerade gesagt haben. Wie kann das Einfluss auf mein Rechtsverständnis im Netz haben?

Rüdiger: Es geht nicht um die exakten Quoten, sondern um das Gefühl, dass bestimmte kriminelle Handlungen im Netz Normalität sind, Sie diese gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. Beleidigung in Kommentarspalten, sexuelle Belästigung in Dating-Apps, Betrugsversuch per Phishingmail. Dazu kommt übrigens noch: Das sogenannte Dunkelfeld, also die nicht angezeigten Delikte, sind im Digitalen viel sichtbarer – ich spreche hier von einer digitalen Kriminalitätstransparenz. Wenn Sie die Straße entlanggehen, wissen Sie nicht, welche Straftaten an dieser Stelle begangen wurden. Kriminalität ist bei analogen Delikten oft flüchtig und nicht fixiert, also auch nicht transparent. Im Netz ist das anders: Sie sehen Hasskommentare oder sexuelle Belästigungen, Phishingseiten oder Fakeshops, die nicht gelöscht werden. Das kann bei vielen Menschen den Eindruck verstärken, dass dagegen nichts getan wird, was wiederum auch einen Einfluss auf das Sicherheitsgefühl der Menschen haben könnte. 

ZEIT ONLINE: Hat das nicht auch damit zu tun, dass viele Internetdelikte einfach schwer aufzuklären sind? 

Rüdiger: Die Aufklärungsquote für Volksverhetzung über das Internet liegt laut der polizeilichen Kriminalstatistik bei knapp 82 Prozent. Für Cybergrooming, also das sexualisierte Einwirken auf Kinder über das Netz, bei 84 Prozent und für kinderpornografische Inhalte sogar bei 94 Prozent. Es ist also bereits jetzt offensichtlich möglich, Tatverdächtige zu ermitteln. Natürlich gibt es anonyme Täterinnen und Täter. Aber es gibt auch Tatverdächtige, zum Beispiel im Bereich Cybergrooming, die über normale Handynummern mit Kindern Kontakt aufnehmen oder mit eigenen Namen und Gesicht aktiv sind.

"Die Polizei muss im Netz ansprechbar sein"

ZEIT ONLINE: Also ist es sinnvoll, dass manche Politikerinnen und andere Personen des öffentlichen Lebens versuchen, Beleidigungen und Bedrohungen, die sie im Netz erreichen, konsequent anzuzeigen, auch wenn es aufwendig ist? 

Rüdiger: Bei schweren Formen prinzipiell: ja. Noch besser wäre es natürlich, wenn es nicht so aufwendig wäre. Präsenz im Netz heißt auch, dass man die Polizei dort einfach erreichen und ansprechen können muss. Es gibt zwar Internetwachen für jedes Bundesland, aber dort Anzeige zu erstatten, ist eher nutzerunfreundlich konzeptioniert. Ich schlage zum Beispiel vor, dass es eine rund um die Uhr besetzte bundesweite Kinder-Onlinewache gibt, über die Kinder sich bei problematischen Situationen per Chat Hilfe holen können. Hintergrund ist, dass in den letzten Jahren Kinder vermehrt zu Hause ihre Zeit verbringen und dadurch noch weniger Möglichkeiten haben, sich zum Beispiel Lehrerinnen anzuvertrauen, als sowieso schon. Kriminalprävention muss dort stattfinden, wo Kinder ihre Zeit verbringen, das ist nun mal verstärkt im digitalen Raum.    

ZEIT ONLINE: Warum ist die Polizei dort bisher so wenig präsent? 

Rüdiger: Es gab und gibt in der Gesellschaft und in den Sicherheitsbehörden die Vorstellung eines digitalen Dualismus. Dass also das, was im Netz passiert, kaum Auswirkung auf den physischen Raum habe und umgekehrt. Deswegen meint man, sich auf den physischen Raum konzentrieren zu müssen. Nach dem Motto: Erst mal die Straßen sicher machen, bevor man sich mit dem Internet beschäftigt. Das ist aus meiner Sicht aber zu kurz gedacht. Wenn ich im Netz immer wieder Rechtsbrüche ohne Ahndung begehen kann und sehe, wie andere das auch können, kann das sicherlich auch mein Verhalten außerhalb des Digitalen beeinflussen. Die aktuelle Diskussion um Telegram zeigt wieder einmal: Die Enthemmung kann im Netz beginnen und sich auf den physischen Raum übertragen und umgekehrt. 

ZEIT ONLINE: Ändert sich die Einstellung da gerade? 

Rüdiger: Ich habe schon den Eindruck, dass manche politische Verantwortliche mittlerweile erkennen, dass mehr getan werden muss. 

ZEIT ONLINE: Hat die Polizei denn überhaupt die Ressourcen, um sich darum zu kümmern? 

Rüdiger: Zumindest theoretisch sollten Ressourcen da sein. Laut polizeilicher Kriminalstatistik (PKS) ist die Zahl der Straftaten in Deutschland zuletzt stark gesunken, von etwa 6,4 Millionen Delikten im Jahr 2016 auf 5,3 Millionen im Jahr 2020. Das bedeutet mit großer Wahrscheinlichkeit nicht, dass die Kriminalität tatsächlich so stark zurückgegangen ist. Einiges davon dürfte schlicht Kriminalität sein, die sich ins Digitale verschoben hat. Die Polizei könnte nun die frei gewordenen Ressourcen in Ermittlungen im Digitalen stecken. Dann würde allerdings auch die Kriminalstatistik wieder steigen und vermutlich präsentiert auch die Innenpolitik lieber sinkende als steigende Statistiken. 

ZEIT ONLINE: Wie viele Digitalpolizistinnen und -polizisten wären denn nötig? 

Rüdiger: Das ist schwer einzuschätzen. Ein nennenswerter Teil unseres Lebens hat sich ins Digitale verlagert, also sollte auch ein nennenswerter Teil der Polizeiarbeit dort stattfinden. In Deutschland gibt es rund 320.000 Polizeiangehörige. Ich könnte mir vorstellen, mit Blick auf den skizzierten Rückgang der PKS-Zahlen, dass etwa zehn Prozent davon für digitale Polizeiarbeit eingesetzt werden. Nur ein kleiner Teil davon wäre aber für virtuelle Streifen verantwortlich, es würde viel mehr bedeuten, dass das entsprechende Personal in Medienkompetenz geschult ist, um bei Straftaten mit digitalem Bezug effektiv ermitteln zu können. Damit könnte man deutlich mehr erreichen als jetzt.

"Man müsste bundesweit oder sogar europaweit denken"


ZEIT ONLINE: Das ist sehr viel mehr als etwa die 200 Beamtinnen und Beamten der Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI), die Anfang Februar beim BKA ihre Arbeit aufnimmt. Ist das denn realistisch? 

Rüdiger: Warum sollte es unrealistisch sein? Aufgabe der Sicherheitsbehörden ist es, Menschen zu schützen und Straftaten zu verfolgen, das muss auch für den digitalen Raum gelten. Noch vor zehn Jahren war ich mit Forderungen nach digitalen Polizeistreifen ein Exot, das hat sich mittlerweile etwas geändert. Es scheint trotzdem noch weit weg. Eine Hürde ist, dass die Polizei in Deutschland föderal organisiert ist. Das hat seine Gründe: Die Polizei soll dort zuständig sein, wo sie auch vor Ort sein kann und in der prädigitalen-Gesellschaft war das auch ein naheliegendes Konzept. Im Internet gibt es aber keine wahrnehmbaren Bundesländergrenzen, man müsste da stärker bundesweit oder sogar europaweit denken. 

ZEIT ONLINE: Das dauert. 

Rüdiger: Ja. Wir haben schon viel Zeit verloren. Umso wichtiger wäre es, endlich anzufangen, eine Strategie zu erarbeiten, wie man die Unrechtskultur im Netz, dieses Broken-Web-Phänomen, wie ich es nenne, zu bekämpfen. Wir reden jetzt viel über Hasskriminalität bei Telegram, aber das Problem ist ja nicht neu und es endet auch nicht bei Telegram. Die Normalität von Normenbrüchen im digitalen Raum muss generell diskutiert werden. Sexuelle Übergriffe in sozialen Medien, toxisches Verhalten auf Gaming-Plattformen – gerade Kinder gewöhnen sich daran, buchstäblich täglich mit kriminellem Verhalten konfrontiert zu sein. 

ZEIT ONLINE: Schneller ginge es vielleicht trotzdem, Telegram einfach aus den App-Stores zu verbannen. 

Rüdiger: Meiner Meinung nach hat es wenig Sinn, eine bestimmte Plattform zu verbannen oder zu verbieten, was auch kaum Aussicht auf nachhaltigen Erfolg hätte. Wir brauchen eine übergeordnete gesellschaftliche Strategie, die nicht nur ein Phänomen oder eine Plattform in den Mittelpunkt stellt. 

ZEIT ONLINE: Bleibt die Frage: Was passiert jetzt, nächste Woche? 

Rüdiger: Im Grunde könnte jede Polizei selbst anfangen und nächste Woche mehr Personalressourcen für Ermittlungen im Netz abstellen. 

ZEIT ONLINE: Zigtausende Polizistinnen und Polizisten, die im Netz patrouillieren. Das klingt ehrlich gesagt auch nach Überwachung und Polizeistaat. 

Rüdiger: Rechnen Sie das aber mal auf die Anzahl der Internetnutzer hoch. Es geht mir weder um lückenlose Überwachung noch um verdeckte Ermittlungen. Im Gegenteil, ich spreche ja gerade von wahrnehmbarer Präsenz. Zu einem Rechtsstaat gehört auch, dass staatliches Handeln sichtbar ist. Wenn die Polizei im Netz Präsenz zeigt, dann bedeutet das auch, dass es nachvollziehbar und überprüfbar ist, wie sie sich dort verhält. 

ZEIT ONLINE: Dennoch, für viele Menschen wird immer klarer, zum Beispiel durch die Diskussionen um Polizeigewalt in den USA: Mehr Polizeipräsenz sorgt nicht unbedingt für mehr Sicherheit. 

Rüdiger: Diese Bedenken teile ich grundsätzlich auch. Zu viel Polizei kann ein Problem sein. Es trägt nicht zum Sicherheitsgefühl der Menschen bei, wenn in einer Straße jede Stunde ein Streifenwagen herumfährt und das ist auch nicht wünschenswert. Auf solche Mechanismen muss man auch im Netz aufpassen. Aber im Moment sind wir davon nach meiner Einschätzung noch sehr weit entfernt.