Im Anfang war der Game Boy. Mein Vater kaufte sich die tragbare Konsole Anfang der Neunzigerjahre. Damit gespielt haben aber nur wir Kinder. Meine älteste Schwester saß auf dem Sofa, meine mittlere Schwester links von ihr, ich rechts. Wir spielten das Hüpfspiel Super Mario Land, obwohl eigentlich nur eine spielte. Ich saß immer nur staunend daneben. Das änderte sich erst, als mein bester Freund Nico einen Super Nintendo bekam. Er war der erste in meinem Freundeskreis mit eigener Konsole. Über dem Ladengeschäft seiner Mutter, sie verkaufte Schreibwaren, war sein Zimmer und wir sprangen darin so aufgeregt mit Controllern in der Hand herum, dass sich die Kunden unter uns wunderten.

Seit meiner frühen Kindheit spiele ich Videospiele. Damit gehöre ich zu Millionen Menschen, die mit diesem Medium aufgewachsen sind. Aufgewachsen in einer Gesellschaft, die stets argwöhnisch auf diese Spiele schaute. Die nicht recht verstehen wollte, was sie auch waren: Spielfelder für Geschichten, Erfahrungen, Experimente. "Killerspiele" und "Sucht" sind Begriffe, die mich über Jahrzehnte begleitet haben, mich manchmal schuldig fühlen ließen. Mit Videospielen beschäftige ich mich seit Jahren auch als Journalist. So blicke ich zurück auf eine öffentliche Debatte, die noch immer zuerst die Gefahr in dem Medium sucht.

Übersicht:

Super Street Fighter 2

Mit Nico spielte ich am liebsten das Kampfspiel Super Street Fighter 2. Ich war Chun Li oder E. Honda. Eine chinesische Kämpferin mit muskulösen Beinen oder ein Sumoringer, der durch die Luft fliegen kann. Zu keinem Zeitpunkt hatte ich das Geschehen auf dem Bildschirm wirklich unter Kontrolle – drückte wahllos Knöpfe und Pfeiltasten. Aber ich spielte mit Nico zusammen, das war mir das Wichtigste. Und wenn die Konsole abgeschaltet war, malte ich mir aus, wie Chun Li wohl mit der Gruppe Jugendlicher fertig werden würde, die mir auf dem Heimweg immer Angst machte.

Einige Zeit später, ich war acht, fuhr meine gesamte Familie in den Elektrofachmarkt. Ich hatte 500 DM in der Tasche, hatte eine Wette gewonnen. Mein Vater hatte versprochen, dass ich das Geld bekäme, wenn ich ein Jahr lang nicht fernsehen würde. Es fiel mir leichter als gedacht, ich entwickelte Ehrgeiz. Und ich hielt durch, meine beiden Schwestern ebenso. Auf diese Autofahrt hatte ich mich ein Jahr lang gefreut. Ich wusste genau, was ich wollte: ein Super Nintendo, wie Nico. Die erste eigene Konsole war für mich auch ein kleines bisschen Selbstständigkeit.

Nach oben Link zum Beitrag

Secret of Mana

Allein vor dem Bildschirm saß ich nicht oft. Meine lebendigsten Erinnerungen an diese Zeit sind die, die ich zusammen mit meiner Familie verbracht habe. In Secret of Mana konnte ich zusammen mit meiner mittleren Schwester Abenteuer bestehen. Sie war eine Prinzessin, ich eine Koboldin. Wir zogen zusammen aus, um Monster zu besiegen und den Manabaum zu retten. Die klassische Heldenreise. Kamen wir einmal nicht weiter, fragte ich Peter aus meiner Klasse, ob er uns helfen könne. Dann kam er rüber, nahm den Controller in die Hand und erlegte den Endgegner, als wäre es nichts. Wieder schaute ich staunend zu, entfaltete sich das Videospiel ohne mein Zutun wie ein Film.

Manchmal nahm auch meine Mutter einen Controller in die Hand. Ich erinnere mich, wie sie sich am Hüpfspiel Yoshi's Island versuchte. Danach, sagte sie, träume sie von dem Spiel. Auch wenn sie es nicht oft probierte, waren diese Momente besonders für mich. Die Eltern meiner Freunde mochten die Spiele nicht. Meist öffneten sie die Tür zum Kinderzimmer, um sie kopfschüttelnd gleich wieder zu schließen. Sie verstanden nicht.

Weihnachten 1994 konnten wir eines unserer Geschenke in die Kirche mitnehmen, um es segnen zu lassen. Ich traute mich nicht, ein Videospiel vor den Altar zu legen. Obwohl ich keine Nachrichten schaute, keine Zeitung las, wusste ich, dass so ein Game in der Kirche nicht gerne gesehen sein würde. Zu gut erinnerte ich mich an eine Predigt, in der Videospiele als süchtigmachend und unheilvoll beschrieben wurden. Der Pfarrer hatte ja keine Ahnung, wie viel Freude es mir machte, in Secret of Mana Mensch und Natur zu retten.

Nach oben Link zum Beitrag

Gothic

Nach der vierten Klasse wechselte ich auf eine katholische Orientierungsstufe, auf die die meisten meiner Freunde nicht gingen. Ich wurde pummelig, gemobbt, wurde noch dicker. Ich zog mich zurück, hatte keine Freude mehr daran, draußen zu sein. Die Spiele waren nicht der Grund dafür. Sie waren aber der Grund, mich auf den Nachmittag zu freuen.

An einem Tag in der neuen Schule, es muss 2001 gewesen sein, sollten wir im Deutschunterricht ein Referat halten. Es ging darum, den anderen ein Stück Kultur vorzustellen, das uns besonders wichtig war, ein Buch oder ein Film. Ein Mitschüler von mir stellte aber ein Videospiel vor, das Rollenspiel Gothic. Er erklärte ausufernd, wie man seine Gegner besiegt. Um seine Wunden zu heilen, müsse man ein Stück Fleisch braten und essen. Er war voller Begeisterung. Ich aber empfand Scham. Der Lehrer sah den Jungen mitleidig an. Nein, abschätzig. Die Klasse kicherte. Es klang ja alles so lächerlich. Man besiegt Monster und brät Fleisch? Ich sah Videospiele in diesen Minuten aus der Perspektive von außen. Es zeigte sich: Auch in die Schule gehören Videospiele nicht.

Nach oben Link zum Beitrag

Final Fantasy 8

Zum Glück musste ich mein Referat nicht halten. Es handelte von Der Herr der Ringe und bestand aus Textfetzen, zusammenkopiert aus dem Internet. Erfolg hatte ich keinen in der Schule. Aber zu Hause, da schon. Etwa, wenn ich in Final Fantasy 8 auf der Playstation nach vielen Versuchen endlich einen Endgegner erledigte. Final Fantasy ist ein Rollenspiel, in dem Studenten sich plötzlich in der Rolle wiederfinden, die Welt retten zu müssen. Und da war dieser eine Charakter, Xell Dincht, der mir mit seinen blonden Stachelhaaren und dem Gesichtstattoo besonders imponierte. Ich war verknallt. Jahre bevor mir klar wurde, dass ich queer bin. Videospiele boten mir einen Raum, in dem ich erspielte, was ich nicht erleben konnte.

Ich lernte Charaktere kennen, las endlose Bildschirmtexte, die Bücherwände füllen könnten. Lesen war in meiner Familie sehr wichtig, immer wieder versuchte die Mutter, mir Bücher schmackhaft zu machen. Meine Schwester Miriam las ein Buch nach dem anderen. Ich konnte nur schwer ausdrücken, dass ich ja auch sehr viel las. Nur eben keine Bücher. Die Final-Fantasy-Reihe prägte mich damals. Meine Lust daran, jede Ecke dieser Spiele zu erkunden, sie ganz zu durchdringen – auch durch die Dialoge seiner Protagonisten.

Nach oben Link zum Beitrag

Perfect Dark

Wenn ich nicht alleine Abenteuer bestand, dann saß ich mit meinen Schwestern und Cousinen vor dem Fernseher. Als Teenager rasten wir bei Mario Kart um die Wette und schossen uns mit grünen oder roten Schildkrötenpanzern ab. Auf jeder Familienfeier verschwanden wir irgendwann aus dem Wohnzimmer und versammelten uns um die Konsole. Wenn wir die Spiele auswendig kannten, dachten wir uns unsere eigenen Regeln aus. Statt die vorgefertigten Missionen im Ego-Shooter Perfect Dark zu absolvieren, spielten wir darin verstecken. Einer verkroch sich irgendwo im Level, während die anderen die Augen geschlossen hielten. Vier Jugendliche mit Controller in der Hand, die für Stunden die Zeit vergessen konnten.

Den Ego-Shooter hätten wir freilich noch gar nicht spielen dürfen, er war ab 18. Gleichzeitig flammte in Deutschland erstmals die Debatte um sogenannte "Killerspiele" auf. Nun sollten Videospiele nicht nur süchtig machen, sondern auch verrohen. In den Medien wurde mit wachsender Skepsis auf Videospiele geschaut. Können sie Menschen wirklich zu Mördern machen? Damals wollte mir dieser Gedanke nicht einleuchten. Ich steuerte die Figuren und ich war nicht böse. Man mag das naiv nennen. Ein "Killerspiel" war unser Ego-Shooter damals auch. Wenn uns das Versteckspiel langweilig wurde, legten wir das nächste Game ein – und mussten in Pokémon Stadium mit dem Taschenmonster Schlurp möglichst schnell möglichst viel Sushi essen.

Über die Jahre haben sich die Konsolen bei mir angehäuft. Das Internet trat in Form eines ISDN-Modems in mein Leben. Ich meldete mich in Onlineforen an, um über Videospiele zu diskutieren. Dort fand ich schneller Anschluss, als mir das außerhalb des Internets je gelang. Jeden Tag lief das Chatprogramm ICQ. Ich verbrachte meine Jugend in diesem Kosmos aus Onlinecommunitys, verkroch mich dort mit anderen missverstandenen Videospielern.

Nach oben Link zum Beitrag

Horizon Zero Dawn

Nachdem ich mein Abitur auf dem Abendgymnasium nachgeholt hatte, zog ich 2009 für mein Studium nach Berlin. Die Videospiele ließ ich nicht nur sprichwörtlich zurück. Auf dem Dachboden meiner letzten WG könnte noch heute eine große Plastiktüte mit Konsolen und etlichen Spielen liegen. Ich hatte sie beim Umzug vergessen. In diesen Jahren erlebte ich so viel Neues, dass vieles aus meinem alten Leben seine Relevanz verlor. Lediglich in Form von Let's Plays nahm ich während meines Studiums am Gaming Teil; schaute YouTube-Videos, in denen andere Menschen zockten.

Als ich 2014 wieder aktiv mit dem Spielen begann, war viel passiert. Die deutsche Gamescom war zur weltgrößten Videospielmesse geworden. Onlinegaming dominierte die Branche. Videospiele waren zu einem der umsatzstärksten Medien geworden. Ich kaufte mir eine Playstation 4, um selbst auch wieder Teil dieses Kosmos zu sein. Es waren Spiele wie Horizon: Zero Dawn, die mich zurückholten. Wie schon als Kind erkundete ich fremde Welten, die mir nach und nach vertraut wurden. In Horizon: Zero Dawn ist die menschliche Zivilisation untergegangen und urwüchsige Maschinenwesen streifen durch die Lande. Grafisch übertrafen diese Lande alles, was ich mir 20 Jahre zuvor im Kopf ausdenken konnte: Ich sah bevölkerte Landschaften mit eigenen Gesetzen, die auch ohne mich zu leben schienen. Ich verbrachte Stunden damit, durch diese virtuelle Natur zu streifen und zu beobachten, wie sie auf mich reagiert. 

Nach oben Link zum Beitrag

Mario Kart

Längst ist es nicht mehr ungewöhnlich, dass Eltern mit ihren Kindern Videospiele spielen. Ganz einfach, weil die Eltern selbst mit Games groß geworden sind. Der Diskurs um Videospiele ist heute viel differenzierter, auch wenn noch Spuren der früheren Skepsis zu erkennen sind. Zuletzt etwa, als die Pandemie die Menschen in häusliche Isolation zwang, wo viele von ihnen in Onlinewelten abtauchten. Reflexhaft wurde gefragt: Werden die jetzt alle süchtig? Die öffentliche Debatte sucht noch immer erst die Bedrohung, bevor sie die Möglichkeiten sieht.

Dennoch ist es wichtig, sich kritisch mit Spielen auseinanderzusetzen. Damit, dass Gewalt oft das einzige Mittel ist. Zu viele Spielschicksale werden allein mithilfe der ins Bild ragenden Waffe entschieden. Oder dass sich das Medium zu lange verschlossen hat vor den Geschichten von Menschen, die nicht dem Klischee des männlichen, weißen Helden entsprechen. Diese Strukturen sind in den letzten Jahren aufgebrochen worden. Games werden diverser, vielfältiger – auf diese Weise wahrscheinlich auch besser. Sicherlich, die Branche wird dominiert von milliardenschweren Unternehmen, die mit jedem Kniff versuchen, noch mehr Geld aus einem Spiel zu pressen. Daneben aber gibt es innovative Independentstudios, deren Spiele weder konventionell aussehen noch konventionelle Heldinnen und Helden zeigen.

Für viele Menschen sind Videospiele das meistkonsumierte erzählerische Medium. Die Geschichten dieser Spiele prägen sie, auch wenn sie den Controller gerade nicht in den Händen halten. Ich bereue die Zeit nicht, die ich mit und in diesen Geschichten verbracht habe. Sie haben mir beigebracht, die Welt als veränderbar zu sehen – dass auch ich mich verändern kann. Genauso haben sie mir schlicht Freude bereitet, haben mich abgelenkt, wenn ich es brauchte. Durch sie habe ich außerdem gelernt, mit Frust umzugehen. Und das nicht nur, wenn ich bei Mario Kart mal wieder verloren hatte.

Gaming - Spielen gegen Traurigkeit Videospiele haben einen schlechten Ruf, doch können sie auch einen positiven Einfluss auf die Psyche haben? Ein Video über Menschen, denen Games in Krisen geholfen haben.

Nach oben Link zum Beitrag