Gastkommentar

Was ist ein guter Lehrer? – Für eine Erneuerung des sokratischen Eides

Im Wirbel der digitalen Welt, aber auch in der Konfusion der Pandemie fällt es Erwachsenen nicht immer leicht, das Wohl der Kinder im Auge zu behalten. Kinder brauchen eine Lobby. Am besten Lehrpersonen, die in der pädagogischen Sache eine Selbstverpflichtung eingehen.

Klaus Zierer 24 Kommentare
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Was ist das Geheimnis erfolgreichen Lernens?

Was ist das Geheimnis erfolgreichen Lernens?

Karin Hofer / NZZ

Ein Mensch verbringt zirka 15 000 Stunden seines Lebens in der Schule und wird durchschnittlich von fünfzig Lehrpersonen unterrichtet. Doch nur eine Handvoll bleibt ein Leben lang in Erinnerung. Was ist das Geheimnis ihres Erfolges? Neuere Forschungen zeigen: Erfolgreiches Lehrerhandeln ist eine Frage der Haltung, deren Ideal als Berufseid formuliert werden kann.

Vor dreissig Jahren hat Hartmut von Hentig einen solchen Berufseid formuliert. Anlass für ihn war die Notwendigkeit einer öffentlichen Selbstverpflichtung angesichts vieler Reformen und Gegenreformen, die – wie im NS-Staat und in der DDR – unpädagogischen Gesichtspunkten folgten und nicht dem Wohl der Kinder dienten. Ohne Zweifel: Hartmut von Hentig ist – für viele und durchaus nachvollziehbar – wegen seiner Verstrickungen in die Odenwaldschule vom Nestor der deutschen Pädagogik zu einer Persona non grata geworden. Was für die Person gilt, muss aber nicht für das Werk zutreffend sein. Sein sogenannter sokratischer Eid hat Generationen von Lehrpersonen beschäftigt und beeinflusst.

Gefährdetes Kindeswohl

Warum aber erneut über einen Berufseid nachdenken? Steht es so schlecht um das Wohl der Kinder, dass abermals von Lehrpersonen eine öffentliche Selbstverpflichtung verlangt werden kann und muss? Bei der Beantwortung dieser Fragen ist die gegenwärtige Lage wichtig: Die Massnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben weltweit das Wohl von Kindern beeinträchtigt. Ob kognitive Lernleistung, psycho-soziale Entwicklung oder körperliche Verfassung – angesichts empirischer Daten ist anzuerkennen, dass das Bildungsniveau sinkt. In Anbetracht des Zusammenhanges zwischen Bildungsniveau und Wirtschaftskraft einerseits und zwischen Bildungsniveau und Demokratiefähigkeit andererseits ist dies bedenklich. Denn es gilt: Sinkt das eine, so auch das andere. Besonders dramatisch ist, dass Kinder aus bildungsfernen Milieus stärker betroffen sind. Bildungsungerechtigkeit nimmt also zu.

«Wer die Welt bewegen will, sollte erst sich selbst bewegen.» (Sokrates)

Allein diese Entwicklungen würden es rechtfertigen, eine Erneuerung des sokratischen Eides anzustossen, um Kindern eine Stimme zu geben. In der Corona-Pandemie ist über so vieles gesprochen worden, aber verhältnismässig wenig über das Wohl der Kinder. Insofern wirkt es befremdlich, dass sich – zumal in Deutschland – ausgerechnet Lehrerverbände immer wieder zu Wort melden und öffentlich über Massnahmen nachdenken, die Kindern besonders schaden, wie Schulschliessungen oder Distanzunterricht.

Eine Digitalisierung der Bildung zeigt sich im Licht empirischer Forschungen dabei weniger als Heilsbringer denn als Problem. So bestimmend Digitalisierung für die heutige Lebenswelt ist, es ist nicht alles Gold, was glänzt: Handysucht und Cybermobbing sind nur zwei Phänomene, die eine pädagogische Selbstvergewisserung und damit eine Erneuerung des sokratischen Eides notwendig machen. Denn eine Digitalisierung um der Digitalisierung willen und damit ohne einen pädagogischen Impetus läuft an Schulen, aber auch gesamtgesellschaftlich gesehen Gefahr, inhuman zu werden.

Dass diese Digitalisierung noch dazu viel Geld kostet und als Kehrseite der Medaille ein Nachhaltigkeitsproblem erzeugt, mag noch hinnehmbar sein. Dass aber in den letzten Jahren eine stete Zunahme von Bildungsausgaben für Reformen und Gegenreformen dazu geführt hat, dass immer mehr Kinder Probleme beim Lernen und auch im Leben haben, Erziehungsschwierigkeiten in der Schule und in den Familien zunehmen, muss aufhorchen lassen und erfordert eine öffentliche Selbstverpflichtung, was Schule leisten kann und muss.

Und schliesslich haben die letzten dreissig Jahre auch die Erziehungswissenschaft verändert: Formulierte Hartmut von Hentig seinen sokratischen Eid noch vor dem Hintergrund einer geisteswissenschaftlichen Pädagogik, so ist heute die empirische Bildungsforschung massgebend. Allein deshalb ist eine Erneuerung wichtig. Dabei ist zu betonen, dass weder das eine noch das andere besser oder schlechter ist: Bildung erfordert sowohl theoretische als auch empirische Zugänge. Hierfür eignet sich ein Humanismus als Leitidee, der sich in der Realität bewähren muss.

Zeit für eine Erneuerung

Gerade für einen Berufseid ist dieser Anspruch zu erfüllen: So mag er auf den ersten Blick als theoretisches Konstrukt erscheinen, das aber in der empirischen Bildungsforschung eine Bestätigung erfährt. In «Visible Learning» etwa, mit über 1800 Metaanalysen einer der grössten Datensätze der empirischen Bildungsforschung, erreicht der Faktor «kollektive Wirksamkeitserwartung» einen der höchsten Effekte auf die Lernleistung und macht deutlich: Bildungswirksames Lehrerhandeln ist nicht nur eine Frage der Kompetenz, sondern auch eine Frage der Haltung. Tauschen sich Kolleginnen und Kollegen aus und entwickeln sie gemeinsam eine Vision einer guten Schule, so profitieren Lernende am meisten.

Angesichts dieser Gemengelage ist es an der Zeit, eine Erneuerung des sokratischen Eides vorzulegen. Er versteht sich als theoretisch fundierte und empirisch abgesicherte öffentliche Selbstverpflichtung von Lehrpersonen – gegenüber den Kindern, den Eltern, den Kolleginnen und Kollegen, der Bildungsöffentlichkeit, der Gesellschaft und sich selbst. Um zu wirken, muss er nicht nur bei der Übergabe der Einstellungsurkunde verlesen werden, sondern zum roten Faden der Lehrerbildung werden. Sokrates als Gewährsmann zu nehmen, ist sinnvoll, damals wie heute. Denn Sokrates ist ein Primus inter Pares, kann er doch als eine der ersten Lehrpersonen angesehen werden, die grundlegende Einsichten in die Bildung formulierte.

So lautet die Erneuerung des sokratischen Eides angesichts epochentypischer Herausforderungen, die nur durch Bildung zum Wohl der Menschheit gemeistert werden können:

Als Lehrperson verpflichte ich mich, all mein Fühlen, Denken und Handeln im Beruf auf das Wohl der mir anvertrauten Kinder hin auszurichten.

Den Kindern gegenüber verpflichte ich mich:

-  jedes Kind seinen Möglichkeiten und seinem Entwicklungsstand entsprechend zu fordern und zu fördern,

-  kein Kind zurückzulassen oder abzuschreiben, egal, welche Gründe gegeben sind,

-  das Scheitern von mir anvertrauten Kindern immer und immer wieder als Anlass für neue Wege meines Lehrens zu nehmen,

-  Fehler als Chance zu begreifen, nicht als Makel,

-  Herausforderungen im Bildungsprozess zu setzen, damit Unter- und Überforderung nicht eintreten,

-  Motivationen zu suchen, aufzugreifen und zu wecken,

-  immer und immer wieder in den Dialog zu gehen, Rückmeldungen zu geben und einzuholen, Fragen zu stellen und zuzuhören,

-  Unterrichtsfächern eine dienende Funktion im Bildungsprozess zuzuschreiben,

-  alle Bereiche der Persönlichkeit anzusprechen und anzuregen,

-  Vertrauen in die Welt und die eigene Person zu schenken und tagtäglich sichtbar zu machen,

-  die Klasse und die Schule als Willkommensort zu begreifen und zu gestalten,

-  für eine wertschätzende, angstfreie und bildungswirksame Atmosphäre und Beziehung zu sorgen und

-  für die leibliche, geistige und seelische Unversehrtheit der mir anvertrauten Kinder einzustehen.

Den Eltern gegenüber verpflichte ich mich:

-  auf Augenhöhe zu kommunizieren und eine Bildungspartnerschaft aufzubauen,

-  den Bildungsprozess der Kinder als gemeinsame Aufgabe zu begreifen,

-  nicht nur regelmässig zu Gesprächen bereit zu sein, sondern auch aktiv den Kontakt zu suchen und

-  ihre Einschätzungen zum Bildungserfolg und -fortschritt der Kinder ernst zu nehmen und mit der eigenen Sichtweise zu verbinden.

Den Kolleginnen und Kollegen gegenüber verpflichte ich mich:

-  meine Erfahrungen in der Erziehung und im Unterricht zu teilen und als Grundlage für die kollegiale Professionalisierung zu nutzen,

-  die tagtäglich gemachten Fehler zu teilen und gemeinsam zu reflektieren,

-  erfolgreiche Momente in der Schule zurückzuspielen und gegenseitige Anerkennung zu schenken und

-  jedem seine individuelle Sichtweise auf Schule und Unterricht zuzugestehen und gleichzeitig an einer gemeinsamen Vision zu arbeiten.

Der Bildungsöffentlichkeit gegenüber verpflichte ich mich:

-  den Bildungs- und Erziehungsauftrag anzunehmen und jederzeit umzusetzen,

-  nicht nur Wissen und Können zu vermitteln, sondern alle Bereiche der Persönlichkeit in den Blick zu nehmen und zu fördern,

-  alle Unterrichtsfächer dem Wohl des Kindes und damit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag unterzuordnen,

-  loyal, aber nicht blind gegenüber amtlichen Vorgaben zu sein,

-  alles umzusetzen, was dem Wohl des Kindes dient, und alles zurückzuweisen, was dem Wohl des Kindes zuwiderläuft,

-  jegliche Interessen und Forderungen an Schule und Unterricht, die nicht in erster Linie dem Wohl des Kindes entspringen, kritisch zu hinterfragen, gegebenenfalls auch öffentlich anzuklagen und zurückzuweisen und

-  im öffentlichen Diskurs den Kindern und ihrem Recht auf Bildung eine Stimme zu geben.

Der Gesellschaft gegenüber verpflichte ich mich:

-  allem voran die Achtung vor der Würde des Menschen als Grundlage und Ziel von Schule und Unterricht zu sehen,

-  die Grundsätze unserer Demokratie zu vermitteln und in der Schule und im Unterricht zu verteidigen,

-  Schule als einen Ort der Reproduktion und der Innovation gesellschaftlicher Werte zu sehen,

-  meine pädagogische Freiheit zu nutzen, um aktuelle Fragestellungen in das Zentrum des Schulalltages zu stellen und

-  nicht nur reaktiv, sondern auch proaktiv der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft gegenüberzustehen.

Mir selbst gegenüber verpflichte ich mich,

-  mein Vorgehen jederzeit zu begründen, kritisch-konstruktiv zu diskutieren und gewissenhaft zu reflektieren,

-  regelmässig meine fachlichen, pädagogischen und didaktischen Kompetenzen weiterzuentwickeln,

-  regelmässig meine Berufshaltungen zu reflektieren und

-  meine Vorbildrolle stets nach bestem Wissen und Gewissen auszufüllen.

Ich bekräftige das Gesagte durch meine Bereitschaft, mich jederzeit an den Massstäben messen zu lassen, die von dieser Verpflichtung ausgehen.

Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.

24 Kommentare
Dr. Karsten Jung

An solchen Artikeln ärgert, dass nachvollziehbare Intentionen mit falschen Gegenübersetzungen gewürzt werden: - die Schüsse gegen die "Digitalisierung". Wenn das Problem Handysucht ist (worüber mit genaueren Daten zu reden wäre), wäre dann nicht die Schule der wichtigste Ort, um einen sinnvollen Umgang mit digitalen Endgeräten zu lernen? - die Schüsse gegen empirische Pädagogik: Die Empirie hat gezeigt, dass viele der reformpädagogischen Konzepte, für die auch Hentig steht, didaktisch kaum wirksam sind.  - das angeblich überflüssig ausgegebene Geld: Die Personalkosten unempirischer Pädagogik dürften weit höher sein, als die Einrichtung eines WLAN an Schulen. So bleibt am Ende ein schaler Beigeschmack, der sich vor allem auch dadurch nicht bessert, dass der Großteil der Elemente des "sokratischen Eides" zwar zustimmungsfähig ist, aber letztlich aus Phrasen und Platitüden besteht. Es bleibt dann der Eindruck, dass die Probleme an Schulen doch noch woanders liegen, als der Autor glauben machen möchte.

Ad J.

Gute Lehrer sind solche welche dem Kind erklären was die Ziele sind, Lernziele, und nicht 10000 "Kompetenzen" aus der woken Gurkenküche. Dieser Lehrer erklärt auch den Lieben Eltern dass die Schule sein Reich ist und das Zuhause das Reich der Eltern, jeder der beiden respektiert das.