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Volkszählung und Zensus
Das große Misstrauen der 80er-Jahre

Wie viele Menschen leben in Deutschland? Die Antwort auf diese und weitere Fragen soll der Zensus 2022 geben. Das sorgt bislang für wenig Aufsehen. Ganz anders war die Situation in den 80er-Jahren, als die geplante Volkszählung eine Protestwelle auslöste. Damals riefen die Grünen zum Boykott auf.

Von Norbert Seitz | 12.05.2022
Eröffnung der 9. Bundesversammlung der Grünen am 1. Mai 1987 in Duisburg. Auf einem Plakat hinter dem Podium wurde zum Boykott der Volkszählung aufgerufen.
Eröffnung der 9. Bundesversammlung der Grünen am 1. Mai 1987 in Duisburg. Auf einem Plakat hinter dem Podium wurde zum Boykott der Volkszählung aufgerufen. (picture-alliance / dpa | Heinrich Sanden)
„Guten Tag, Sie hören eine Sonderansage der statistischen Ämter zur Volkszählung. Die Zählung erfasst die gesamte Bevölkerung. Das sind schätzungsweise 61 Millionen. Trotz aller Fortschritte in den statistischen Erhebungsmethoden und -techniken geht das nur mit einer Totalzählung. Deshalb hat die Volkszählung auch eine lange geschichtliche Tradition.“ 
So pflegte der Staat noch in den frühen 1980er-Jahren um das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger zu werben. Damals stand nach etlichen Jahren wieder eine Volkszählung an. Ein Aufwand, der so heute nicht mehr nötig ist. Denn die Bevölkerungs- und Wohnungszählung, der registergestützte Zensus, der am 15. Mai 2022 beginnt, ist kein großer Aufreger mehr. Ganz anders die Situation in den 1980er-Jahren.

Als die Volkszähler noch selbst ausschwärmten

Zwischen 1950 und 1970 wurden ganze vier Volkszählungen in unterschiedlichen Zeitabständen durchgeführt. Schon Bundespräsident Theodor Heuss sprach 1950 zur ersten Volkszählung in der gerade gegründeten Bundesrepublik von einem „unbequemen Unternehmen“, weil der Staat im Auskunftsverweigerungsfall Bußgelder erheben konnte.
„Der Staat fordert die gewissenhafte Beantwortung der Fragen. Er kann sie im Weigerungsfall durch Strafe erzwingen. Es ist nicht sehr liebenswürdig, von dieser Seite der Sache gleich am Anfang davon zu sprechen.“
Bei Volkszählungen schwärmten sogenannte Zähler mit Fragebögen aus, um vor Ort Auskünfte über die Zahl, die Struktur und die räumliche Verteilung der Einwohnerinnen und Einwohner eines Landes einzuholen, genaue Angaben, wie viele Personen beispielsweise in einem Einfamilienhaus oder in einer Geschosswohnung zusammen leben mit Details zu Größe und Ausstattung und zu den Mieterinnen und Mietern. Nur so glaubte der Staat vorausschauend planen zu können, wo zum Beispiel Schulen geschlossen, Krankenhäuser, Spielplätze oder Altenheime eröffnet, Universitäten bezuschusst, Sozialwohnungen oder Kanalisationen gebaut oder öffentliche Verkehrsmittel geschaffen oder erweitert werden mussten. Außerdem waren Volkszählungen bei der Einteilung von Wahlkreisen und beim Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden nützlich.


Doch je umfangreicher die Fragebögen von Mal zu Mal gestaltet wurden, desto mehr wuchs auch die Skepsis in der Bevölkerung an der Befragungspraxis. So ging der Volkszählung in den 1980er-Jahren ein langes Gesetzgebungsverfahren voraus. Die Gesetze von 1981 und 1982 scheiterten beide im Bundesrat, weil sich Bund und Länder nicht auf die Finanzierung einigen konnten. Danach wurde die Volkszählung für den 27. April 1983 anberaumt.
Gegen sie lagen aber 1.000 Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe vor. Zudem machten die gerade in den Bundestag eingezogenen Grünen mächtig Stimmung gegen das Volkszählungsprinzip der Totalerfassung. So der Abgeordnete Klaus Hecker: „Hunderttausende Bürger und Bürgerinnen haben sich inzwischen zusammengefunden, die sich dieser Totalerfassung widersetzen wollen. Sie wollen durch einen Boykott der Volkszählung verhindern, dass am 27. April die Durchleuchtung, Überwachung und Verplanung des einzelnen Bürgers möglich wird.“

Die Angst der Bevölkerung vor Datenmissbrauch

Im Zentrum der Zweifel stand die Frage: Was passiert mit den Daten der Volkszählung? Im Jahr vor George Orwells Horrorvision 1984 grassierte mit der Sensibilisierung für den Datenschutz die Angst vor dem ´Gläsernen Menschen´ in einem Überwachungsstaat - erinnert sich der Journalist Christian Bommarius: „Die Leute hatte ein Misstrauen erfasst, dass der Staat zu viel von ihnen wissen wollte. Man misstraute auch dem drohenden Datenabgleich im Melderegister, dass da Daten hin- und her gehandelt werden, die eigentlich nicht gehandelt werden dürfen, dass die Statistikämter zwar die Daten haben sollten, aber nur sie, die anderen eben nicht. Darum ging es eigentlich in der Auseinandersetzung.“
Nach der Verfassungsbeschwerde der Hamburger Anwältinnen Gisela Wild und Maja Stadler-Euler setzte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe per Eilentscheidung das Volkszählungsgesetz von 1982 aus. Der Grund: Verletzung des Datenschutzes. Am 15. Dezember 1983 verkündete der Verfassungsgerichtspräsident Ernst Benda das Urteil:
„Das Volkszählungsgesetz 1983 vom 25. März 1982, Bundesgesetzblatt 1, S. 369 ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Jedoch hat der Gesetzgeber nach Maßgabe der Gründe für ergänzende Regelung der Organisation und des Verfahrens der Volkszählung Sorge zu tragen.“
Nach der Urteilsverkündung  im Jahr 1983 herrschte Freude bei den beiden Hamburger Rechtsanwältinnen Maja Stadler-Euler (M.) und Gisela Wild (r.), die gegen die Volkszählung geklagt hatten.
Nach der Urteilsverkündung im Jahr 1983 herrschte Freude bei den beiden Hamburger Rechtsanwältinnen Maja Stadler-Euler (M.) und Gisela Wild (r.), die gegen die Volkszählung geklagt hatten. (picture-alliance / dpa | Roland Holschneider)

Ergänzend war zu regeln, wie der Staat mit den Daten der Bürgerinnen und Bürger umzugehen hat. Das Statistikgeheimnis musste gewahrt werden, das heißt, Daten durften nicht in die Verwaltung weitergeleitet oder anderen behördlichen Stellen zugänglich gemacht werden. Das Gesetz musste überarbeitet werden, bessere Anonymisierungen von Daten ermöglichen und Amtspersonen oder Personen aus der eigenen Nachbarschaft als Zähler an der Haustür ausschließen.
Das Verfassungsgerichtsurteil vom 15. Dezember 1983 schrieb Rechtsgeschichte. Denn mit der Zurückweisung des überarbeiteten Volkszählungsgesetzes wurde gleichzeitig ein neues Grundrecht geschaffen – das auf informationelle Selbstbestimmung. Abgeleitet wurde es aus bereits existierenden Grundrechten, den Persönlichkeitsrechten und der Achtung der Menschenwürde.
Dazu Ernst Benda, einen Tag vor seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bundesverfassungsgerichtspräsidenten. „Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der der Bürger nicht mehr wissen könnte, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß, wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen.“
Christian Bommarius: „Was das Gericht verlangt, dass jeder Bürger das Recht haben muss, seine Daten selber zu verwalten, zu wissen, woher kommen sie, wohin gehen sie, wer verwendet sie, für was. Das ist natürlich, wenn man das heute liest, fast idealistisch. Denn im Zeitalter des Internets, also Facebook, diese ganzen Datenkraken, wie wir sie mittlerweile leider haben, ist das natürlich gar nicht mehr einlösbar. Kein Mensch ist mehr Herr seiner Daten.“
Dennoch gilt das Grundsatzurteil vom 15. Dezember 1983 bis heute als die eigentliche Geburtsstunde des Datenschutzes. Danach durfte der Staat nur fragen, was er unbedingt wissen musste, aber nicht erfahren, was der einzelne Bürger geantwortet hat.

Die Protestbewegung gegen die Volkszählung habe ein Zerrbild der Bundesrepublik entworfen: als eines Nachfolgestaats der alten Naziherrschaft. Dem Staat werde unterstellt, die inzwischen entwickelten liberalen Freiheiten wieder schrittweise abschaffen zu wollen, hieß es hingegen von der Regierungsbank. Vor allem im Unionslager war man empört. So verurteilte der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU) die Protestbewegung als „Angriff von einer Minderheit von Staatsfeinden auf das ganze System“. 
Umso erstaunter reagierte die alternative Widerstandszene auf das Karlsruher Urteil vom 15. Dezember 1983, wie Udo Knapp, langjähriger Aktivist der Studenten- und alternativen Ökologiebewegung, schildert: „Das war, genau betrachtet, erst mal ein Schock. Weil dieses Bundesverfassungsgericht eigentlich die Kraft des Grundgesetzes auf so beeindruckende Weise bestätigt hat, dass es jedenfalls einigen von uns zunächst die Sprache verschlagen hat. Also das war die Erfindung dieses Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und haben es dem Gesetzgeber auferlegt, das umzusetzen. Was ich daran klug fand, dass das Verfassungsgericht gesagt hat: Natürlich braucht der Souverän Daten. Aber er darf diese Daten nicht dazu benutzen, um das Volk zu registrieren, in Dateien einzusammeln, auszuspähen, Querverbindungen zu nutzen.“
Aber trotz des in linken und liberalen Milieus gefeierten Urteils bestanden nach wie vor erhebliche Zweifel wegen der Möglichkeiten, gesammelte Daten zu missbrauchen. Die Stimmung im Lande wurde getragen von einem wechselseitigen Misstrauen, das auch die künftigen Debatten um den Datenschutz prägen sollte. Christian Bommarius: „Anfang der 80er-Jahre, da regierte eben Misstrauen auf beiden Seiten. Man wollte natürlich die Bürger aushorchen, was die so treiben. Es ging ja nicht nur um die Frage, wer wohnt wo, sondern auch, wer wohnt da genau, was machen die Leute, wenn sie da wohnen. Man wollte sie über ihr Privatleben auch aushorchen. Und das ging zu weit. Also das war auch das Motiv des Staates, der mehr wollte als nur einen Überblick zu bekommen über die Zahl der Bürger, die in Deutschland lebten. Auf der anderen Seite natürlich dieser ständige Verdacht, der Staat könnte die eingesammelten Daten missbrauchen.“

Die verschobene Volkszählung 1987

Die verschobene Volkszählung sollte dann am 25. Mai 1987 stattfinden. Es war die letzte Vollerfassung in der alten Bundesrepublik. Mit Daten über: Wohnung, Größe, Ausstattung, Mietpreis und Untervermietung, Schulabschluss, Bildungsstand, Beruf und Arbeitsplatz, Kinderbetreuung, aber auch Religions- und Staatsangehörigkeit.
Christian Bommarius schildert die damalige, nicht nur in linken Kreisen dominante Skepsis in der Bevölkerung. "Es lag ja alles mit drin in diesen Fragebögen. Und deswegen auch die Weigerung vieler, die Fragebögen auszufüllen, abzugeben. Für die Bürger war das ja mehr als nur eine Unbequemlichkeit, für die Bürger war das auch eine Zumutung, diesen Fragebogen damals auszufüllen, weil sie sich natürlich als Privatperson angefasst fühlten.“
Die Grünen forcierten ihre bundesweite Boykott-Kampagne gegen die Volkszählung ´87. Udo Knapp gehörte als Mitarbeiter der Bundestagsfraktion zu den Organisatoren der Bewegung. Deren Parolen lauteten: „Lasst Euch nicht erfassen“, „meine Daten könnt ihr raten“ und: „meine Daten gehören mir“. 
„Sie ist tatsächlich eine originäre spannende Bürgerbewegung gewesen. Es war eine glückliche wunderbare Mobilisierungszeit. Ich war ja dann bei Ströbele im Bundestagsbüro. Und der Ströbele war ja der Sprecher dieser Bewegung. Wir sind durch die Republik gefahren. Es gab 5.000 Bürgerinitiativen. In den Städten haben die sich mit den Bürgerämtern angelegt. Auf einmal waren die Grünen Verteidiger der liberalen Grundrechtsfreiheiten.“

Mai-Krawalle von Kreuzberg: Ursprung in den Volkszählungsprotesten

Aber nicht nur. Denn es gab auch Momente von unverhältnismäßiger Militanz. So kam es in Berlin-Kreuzberg am 1. Mai 1987 zu schweren Ausschreitungen. Die seitdem alljährlich stattfindenden revolutionären Mai-Krawalle von Kreuzberg hatten in den Volkszählungsprotesten ihren Ursprung.
„Es hätte auch Belfast sein können, aber es sind Bilder aus Berlin-Kreuzberg. Aufgenommen in den Morgenstunden nach den wohl schwersten Krawallen, die die Stadt seit Jahren erlebt hat. Offenbar besteht auch ein Zusammenhang mit der Durchsuchung eines alternativen Zentrums, wo die Polizei am Freitag Tausende von Volkszählungs-Boykottaufrufen beschlagnahmt hatte.

Tatsächlich nahm die Boykott-Bewegung nicht nur hehre, bürgerrechtsliberale, sondern auch ganz eigennützige Motive für sich in Anspruch. Zum Beispiel, wenn es darum ging, eine Durchleuchtung des alternativen WG-Milieus zu vermeiden oder die Aufdeckung der Praxis, in Westdeutschland zu leben, aber im damals subventionsgünstigen West-Berlin gemeldet zu sein.
Doch solche Täuschungsmanöver gab es nicht nur in der Alternativszene. Gut Betuchte meldeten ihren Wohnsitz in der Schweiz oder in Monaco an, um in Deutschland keine Steuern mehr zahlen zu müssen. Udo Knapp erläutert augenzwinkernd für seine Szene: „Es geht bei dem Volkszählungsprotest auch um das Recht auf den kleinen Beschiss. Denn man muss ja wissen, wie wir damals gelebt haben. Viele in dieser alternativen Szene haben von diesem kleinen Beschiss ganz gut gelebt. Man muss einfach sehen, dass diese Volkszählung ein Angriff auf diese liberale linke Lebenskultur gewesen ist, an die wir uns in den 20 Jahren seit ´68 gewöhnt hatten. Dieses kleine bisschen parasitäre Mitleben in diesem wunderbaren sozialen Gefüge, das wollten die uns mit dieser Volkszählung wegnehmen.“
Es gab dann lange Diskussionen darüber, wie man boykottieren könne, ohne mit einem Bußgeld belangt zu werden. Ströbele hat dann am Ende vorgeschlagen, als radikale Maßnahme: ´Macht Euch nix vor. Die Gesetze sind hart. Und wenn ihr wirklich das verhindern wollt, dann müssen wir Tausende dieser Bögen haben, die nicht abgegeben werden. Bringt die Bögen zu den Ständen in den Städten und füllt sie nicht aus.“
Die Aktivistinnen und Aktivisten waren sich ihrer Sache ziemlich sicher, vielleicht auch, weil sie den Überschwang an der eigenen Basis mit der Stimmung im Volk verwechselten. Umso größer die Enttäuschung, als sich am Ende lediglich ganze zwei Prozent verweigert hatten. Nur in Großstädten wie Hamburg und Köln waren es mit zehn Prozent ein wenig mehr. Doch trotz der offenkundigen Klatsche konnte die Bewegung für sich in Anspruch nehmen, die Auseinandersetzung über die Digitalisierung der Lebensverhältnisse entscheidend mit angestoßen zu haben.
Die diffusen Ängste vor dem überbordenden Überwachungsstaat blieben. Der Gesetzgeber trug dem Rechnung mit dem Ausbau des Datenschutzrechtes und der Einsetzung von Datenschutzbeauftragten. Das Datenschutzgesetz von 1990 betont für die Sammlung von Daten die Zweckbindung und die Verpflichtung, den Bürger und die Bürgerinnen über die Verwendung aufzuklären und die Daten danach zu löschen.
Aber heute gibt es längst andere Gefahren, auf die Christian Bommarius hinweist: „Die Datenkraken, die aber nicht mehr staatlich sind, sondern eben privat, also wirtschaftlich begründet. Sodass wir auf der einen Seite ein hochausgebildetes System zur Datenerfassung auf der staatlichen Seite haben, und auf der anderen Seite diese massive Datenhäufung bei Konzernen. Zumal sie das ja im Zweifel überhaupt nicht auseinanderhalten können.“

Fast kein Protest beim Zensus 2011

Immerhin besteht das bis heute gültige Datenschutzgesetz von 1990 auf der strikten Trennung zwischen statistischen und personenbezogenen Daten, es mahnt eine Pflicht zur Datensparsamkeit an und hat dem bloß partiellen Zensus, also einer Teilzählung, anstelle der zuvor üblichen Totalerfassung den Weg geebnet. Auf EU-Ebene verpflichteten sich die Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission regelmäßig Daten zu liefern. 
Für den 2011 angesetzten Zensus bedeutete dies, dass bei der Volks- und Wohnungszählung nicht mehr jede Bürgerin und jeder Bürger, sondern nur noch zehn Prozent der Bevölkerung nach dem Stichprobenprinzip und zusätzlich die 17 Prozent Wohnungs- und Hausbesitzerinnen und -besitzer aus der Gesamtbevölkerung befragt werden sollten, das heißt insgesamt 27 von 81 Millionen Bürgerinnen und Bürger.
Der erstmalige Zugriff auf ein zentrales Melderegister machte eine persönliche Befragung nicht mehr nötig. Deshalb regte sich auch nur noch wenig Widerstand gegen den Zensus 2011, zum Beispiel von der Datenschutzgruppe AK Zensus. Michael Ebeling: „Ich weiß, wir werden nichts rocken. Wir sind wenige Leute, wir sind keine große Gruppe, anders als in den 80er-Jahren. Der eine Grund: Damals gab es eine sehr starke Protestkultur. Der andere Grund. Diese allgemeine Haltung: Es ist eh alles vorbei, und die Daten sind eh schon alle da.“
Soll heißen: In digitalen Zeiten sind die Bürgerinnen und Bürger ohnehin hinreichend identifizierbar. Die Erfassung persönlicher Daten findet permanent im Alltag statt. Konstatierte auch der frühere Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar: „Da kommen zwei Entwicklungen zusammen. Die Volkszählung ist eine Augenblicksaufnahme, während heute das permanente Datensammeln über alltägliche Lebensvorgänge, sei es mittels Videokameras, sei das die Verkehrsdaten oder sonstige Informationen, die bei der Mobiltelefonie anfallen, eigentlich alltäglich ist.“  
Umfrage aus dem Jahr 2011:

So kamen die Einsprüche gegen den Zensus 2011 eher aus den Großgemeinden, die sich sorgten, wegen heruntergestufter Einwohnerzahlen weniger Finanzausgleich zu erhalten. Nach Bekanntgabe der Zahlen und Daten 2013 interpretierte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Zensus 2011: „Wir haben zu schauen, dass wir mit ganz unterschiedlichen Situationen umgehen müssen. Wir haben Regionen, in denen gibt es Zuwachs und Zuzug. Und wir haben an anderer Stelle Regionen, in denen sehr wenige Kinder sind, also ein dramatischer und ganz unterschiedlicher Strukturwandel.“

Die Gefährdung unserer Daten heute geht ja weniger vom Staat aus als von privaten Unternehmen

Christian Bommarius
Der ausgebliebene Protest gegen den Zensus 2011 machte auch deutlich, dass sich die Konfliktlinien in digitalisierten Zeiten verkehrt haben. Die Protestierer von einst fordern heute mehr Staat. So moniert auch Udo Knapp: „Dass sich niemand um die Macht der sozialen Medien kümmert. Die bestimmen mittlerweile so umfassend die öffentliche Wahrnehmung und den politischen Prozess. Und das wird überhaupt an keiner Stelle reguliert. Und dafür gibt es auch keine soziale Bewegung, im Gegenteil.“
Christian Bommarius: „Die Gefährdung unserer Daten heute geht ja weniger vom Staat aus als von privaten Unternehmen, also von Facebook, Google usw., die mit unseren Daten ja nicht einfach arbeiten, sondern sie handeln damit. Das ist ein Riesen-Business geworden. Und deshalb ist die Eingriffsmassivität noch viel größer als damals. Aber das liegt natürlich auch an uns selber, den Bürgern, den sogenannten Usern, verantwortlich mit unseren Daten umzugehen, und nicht bei jeder Gelegenheit alles rauszulassen, was man von uns wissen möchte. Da gibt es gar keine Sensibilität bei vielen, wie wichtig Daten sind, vor allem das Nicht-Mitteilen von Daten, das Nicht-Veröffentlichen von Daten.“
Die Jagd auf Daten, um Individuen besser durchleuchten zu können, machen heute große und kleine digitale Player: von Facebook, Twitter, Youtube und Snapchat bis hin zu Betreibern von Websites, die über Cookies unser Surfverhalten analysieren. Länder wiederum mit gut funktionierenden Meldewesen benötigen keine Volkszählungen mehr, weil alle legal anwesenden Bürgerinnen und Bürger ohnehin in einem zentralen Melderegister erfasst sind.