«Gesundheitsdaten können Leben retten. Ich will nicht in einer Welt leben, wo Konzerne darüber verfügen»

Früher arbeitete er in Tech-Konzernen zur Digitalisierung des Gesundheitswesens. Heute kämpft Bart de Witte dafür, dass Patientendaten solidarisch geteilt werden.

Ruth Fulterer
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Bart de Witte will Gesundheitsdaten zu einem Allgemeingut machen.

Bart de Witte will Gesundheitsdaten zu einem Allgemeingut machen.

Nadia Amelie Witte

Herr de Witte, wie viel sind meine Gesundheitsdaten wert?

Zwischen 1000 und 8200 Dollar. Das ist der Wert einer Patientenakte, wenn sie mit genetischen Daten kombiniert ist. Mehr, wenn Sie Krebs haben, und weniger, wenn es sich nur um Fitnessdaten handelt. Diese Preise lassen sich aus Firmenübernahmen hochrechnen. Mein ehemaliger Arbeitgeber IBM hat Explorys übernommen, das mehr als 50 Millionen Patientenleben repräsentiert, Roche hat Flatiron mit 2 Millionen Krebs-Patienten-Datensätzen übernommen, und Google hat Fitbit erworben.

Zur Person

Bart de Witte

Bart de Witte beschäftigt sich seit mehr als zwanzig Jahren mit der Digitalisierung des Gesundheitswesens. Bei IBM arbeitete er an Anwendungen der künstlichen Intelligenz «IBM Watson» für das Gesundheitswesen. 2017 gründete er die Stiftung HippoAI, welche erreichen will, dass Gesundheitsdaten und medizinische KI mit Open Source Lizenz für die Allgemeinheit zugänglich werden. Daneben unterrichtete er auch als Gastdozent an Hochschulen. Ausserdem hat er das europäische Zukunftsinstitut futur.io mitgegründet.

Wie kann ich als Patientin an dieses Geld kommen?

Gar nicht. Und das ist auch in Ordnung, denn Ihre Daten gehören ja nicht Ihnen. Das darf man nicht verwechseln: Sie haben ein Recht auf Privatsphäre, Sie können andere davon ausschliessen, Ihre Daten zu nutzen. Trotzdem sind Daten kein individuelles Eigentum. Und Ihre individuellen Daten haben auch noch wenig Wert. Wertvoll werden sie ihm Rahmen einer grossen Patientendatenbank, die statistisch ausgewertet werden kann.

Firmen sind bereit, sehr viel Geld für solche Datensätze zu bezahlen. Was erhoffen sie sich davon?

In grossen Datensätzen stecken Erkenntnisse, welche die Medizin weiterbringen. Ein Bekannter von mir hat über Jahre die weltgrösste Datenbank für Leukämie aufgebaut. Er hat schon vor zwanzig Jahren begonnen, Bio-Proben seiner Patienten einzufrieren, Knochenmark und Blut. Dazu hat er den Verlauf der Krankheit und die Behandlung dokumentiert. Vor fünf Jahren waren die Preise für Genom-Analysen tief genug, damit sich sein Labor leisten konnte, das Genom von 5000 dieser Leukämie-Patienten zu sequenzieren. Aus der Kombination seiner Beobachtungen und der Gen-Daten konnte dieser Arzt neue Subtypen von Leukämie ableiten. Klar, dass sich die Pharmaindustrie dafür interessiert hat.

Ihr Freund kann Geld verdienen, indem er Erkenntnisse und die dazugehörigen Patientendaten verkauft. Doch Sie sehen das kritisch. Warum?

Ich finde es nicht nachhaltig, dass man persönliche Gesundheitsdaten verkaufen kann. Das sind keine normalen Güter. Es sind Informationen, die auch einen sozialen Wert haben, denn ihre Verfügbarkeit kann Leben retten. Ich glaube, es ist der falsche Weg, sie nur für ökonomische Wertschöpfung zu nutzen. Was die Konzerne für die Daten bezahlen, das werden sie uns in Rechnung stellen, sobald sie uns Medikamente und Medizinalgeräte verkaufen. Dadurch wird die Technologie zu teuer für einen grossen Teil der Weltbevölkerung. Und Startups, kleine und mittlere Unternehmen sind von der Forschung ganz ausgeschlossen, da sie alleine keine grossen Datenkohorten beziehen können. Das soll meine Stiftung HippoAI Foundation ändern.

Wie soll das funktionieren?

Wir überzeugen Menschen durch Kampagnen, uns ihre Daten zu spenden. Begonnen haben wir mit einer Datenbank zu Brustkrebs. Dazu hat die 32-jährige Überlebende Viktoria Prantauer ein Video aufgenommen, in dem sie erklärt, warum eine Datenspende anderen Frauen eine bessere Therapie ermöglichen kann. Dieses Video haben wir, gemeinsam mit Partnern, an die relevanten Patientinnen weitergeleitet: jene mit Brustkrebs. Von denen, die am Leben waren, haben 95 Prozent in eine freiwillige Datenspende eingewilligt. Wir konnten diese Daten dann weiterverarbeiten, so dass sie entpersonalisiert und bereinigt wurden.

Und dann?

Diese Daten sind nun für KI-Forschungsprojekte offen nutzbar. Unsere einzige Vorgabe ist, dass KI-Modelle, die aus diesen Daten entstehen, auch wieder offen zugänglich sein sollen. Dazu haben wir eine eigene Lizenz entwickelt, angelehnt an das Open-Source-Prinzip in der Software.

Aber wenn die Ergebnisse der Forschung nicht durch Patente geschützt werden dürfen, was ist dann der Anreiz, etwas zu entwickeln?

Alle direkten Derivate aus der Daten- und der KI-Forschung müssen offengelegt und zum Gemeingut werden. Zum Beispiel müsste ein KI-Modell offengelegt werden, das zur Früherkennung einer Krankheit dient. Die Firmen können aber immer noch ein Medizinprodukt verkaufen, mit welchem man diese Technologie anwenden kann. Sie können auch Angriffspunkte für Medikamente (Drug Targets) lizenzieren lassen – die haben wenig mit KI-Forschung zu tun. Künstliche Intelligenz und Daten sind eine Grundlage für die Forschung. Doch man muss sie nicht zum Geschäftsmodell machen.

Man teilt also einen Teil der Technologie?

Ja. Ein Beispiel aus einem anderen Bereich ist Google Maps versus OpenStreetMap. Das Monopol von Google Maps hat durch seine steilen Preiserhöhungen und Einschränkungen zu Unzufriedenheit geführt. Konkurrenten wie Microsoft, Meta, DigitalGlobe und Telenav haben als Gegengewicht dazu das Open-Source-Projekt OpenStreetMap (OSM) unterstützt. Sie tragen aktiv zur Verbesserung von OSM bei. Meta kaufte im Juni 2020 die Firma Mapillary komplett auf und stellte die Daten für das OSM-Projekt kostenlos zur Verfügung. Open-Source-Zusammenarbeit kann ein Monopol brechen.

Trotzdem, wenn ein Startup ein solches KI-Modell entwickeln würde, dann könnte eine Pharma- oder Tech-Firma das doch einfach kopieren. Und weil sie mehr Geld hat, eine noch bessere «Experience» anbieten.

Ich glaube nicht, dass das geschehen würde. Denn dieses Unternehmen müsste dann ja selbst offenlegen, welches Modell genau in ihrem Produkt steckt, und seine Daten teilen, was es nicht tun wird. Ich glaube, diese geschlossene Entwicklung wird weiter existieren, und das ist auch gut so, solange gleichzeitig ein offenes System entsteht, das für alle zugänglich ist. Das fördert den Wettbewerb und das Gemeinwohl.

Selbst wenn Menschen ihre Daten spenden, das Standardisieren und Pflegen von Datensätzen ist teuer. Wer soll das bezahlen?

Gerade das ist die Herausforderung. Deshalb sammelt meine Stiftung HippoAI Foundation nicht nur Daten-, sondern auch Geldspenden, wie Ärzte ohne Grenzen. Ich denke, es ist einfach in unser aller Interesse, dass der Wettbewerb in der Forschung nicht dadurch entsteht, dass wir Daten künstlich knapp halten, sondern durch einen Wettstreit um das bessere Produkt. Im Moment ist leider zu beobachten, dass Firmen versuchen, sich einen exklusiven Zugang zu Daten zu sichern.

Gesundheitsdaten in der Schweiz

In der Schweiz fragen viele Spitäler einen Generalkonsent zur Weiterverwendung der Daten für die Forschung ab: Die Patienten geben damit ihre Daten nicht nur an ein einzelnes Forschungsprojekt weiter, sondern stellen sie allgemein zur Verfügung. So können Spitäler die Daten an Forschende weitergeben, wenn sie einen passenden Antrag stellen und dieser von der Ethikkommission bewilligt wird.

Anders als in den USA und in China ist das Gesundheitssystem hier sehr kleinteilig. Für die Forschung sind oft mehr Daten nötig, als sie an einem einzelnen Spital anfallen. Deshalb hat der Bund das Swiss Personalized Health Network (SPHN, Netzwerk für personalisierte Gesundheit) lanciert und damit beauftragt, die Zusammenarbeit von Spitälern bei der Datenaufbereitung voranzutreiben.

Damit das Zusammenbringen von Daten aus mehreren Spitälern möglich ist, müssen diese die gleichen Daten abfragen und sie auch bis ins kleinste Detail gleich codieren. Um die Strategie zur Standardisierung und Bereitstellung eines sicheren IT-Netzwerks für eine datenschutzkonforme Nutzung der Daten kümmert sich das Institut für Bioinformatik im Projekt BioMedIT. Es wurde eine neue IT-Infrastruktur aufgebaut, über die Wissenschafter auf Daten mehrerer Spitäler zugreifen können, wenn sie diese für ein Forschungsprojekt brauchen.

Wie gehen die Firmen dabei vor?

In den USA können sie die Daten direkt von Spitalbetreibern abkaufen. Das ist in Europa nicht möglich. Doch auch hier versuchen Unternehmen, durch Forschungsprojekte einen exklusiven Zugang zu Daten zu bekommen. Etwa durch Verträge, die verhindern, dass Spitäler die Daten auch anderen zur Verfügung stellen. So kann es passieren, dass Forschende den Zugang zu den Daten verlieren, die im eigenen Haus erhoben wurden – obwohl die Patienten der Verwendung ihrer Daten allgemein zugestimmt haben.

Ist das legal?

Das ist ein juristischer Graubereich. In Grossbritannien steht der Google-Tochter DeepMind ein Verfahren bevor, weil das Unternehmen 2015 die persönlichen Daten von mehr als einer Million Patienten von der Gesundheitsbehörde NHS erhalten hat. Dafür hat das Unternehmen nicht bezahlt, sondern nur versprochen, damit eine Gratis-App zu entwickeln. Jetzt wollen Betroffene auf Schadenersatz klagen, weil sie der Weitergabe ihrer Daten nie zugestimmt haben.

Das klingt nach Goldgräberstimmung. Manche nennen Daten ja auch das neue Öl . . .

Das ist ein schlechter Vergleich. Daten sind, anders als Öl, keine endliche Ressource, sondern eine, die von vielen genutzt werden kann. Ausserdem repräsentieren Daten Menschenleben. Es wäre gesellschaftlich nicht klug, das zu ökonomisieren. Wir müssen das Solidaritätsprinzip unserer europäischen Gesundheitssysteme im digitalen Zeitalter neu erfinden und uns auf eine Datensolidarität einigen. Wir können aus der Vergangenheit lernen, vom Humangenom-Projekt.

. . . das Nobelpreis-gekrönte Projekt mit dem Ziel, alle Gene des menschlichen Genoms zu entschlüsseln . . .

Auch diese Entdeckung wollten einige privatisieren. Das hat John Sulston verhindert, einer der ausgezeichneten Forscher. Er war davon überzeugt, dass dieses Wissen allen zugutekommen sollte. Das Genom wurde zu einem Allgemeingut und schuf gerade deshalb eine Milliarden-Industrie. Ich denke, es wäre klug, das zu wiederholen, dafür setze ich mich ein.

Sulton war bekennender Sozialist. Sie selbst haben über fast zwei Jahrzehnte in der Privatwirtschaft mit Gesundheitsdaten gearbeitet. Woher kommt Ihr Gesinnungswandel?

Ich glaube an einen solidarischen und nachhaltigen Kapitalismus, das war auch früher schon so. Auf die Relevanz des Themas bin ich privat gestossen. Ich war ab 2009 mit der Quantified-Self-Bewegung unterwegs. Da haben wir Daten über uns selbst gesammelt, um mehr über uns herauszufinden, uns zu optimieren. Am Anfang lag die Kontrolle bei uns. Ab 2010 habe ich digitale Gesundheitsanbieter genutzt, Zeo, um den Schlaf zu überwachen, Fitbit zur Messung der Aktivität oder 23andme zum Auswerten meiner Gene. All diese Unternehmen haben im Laufe der Zeit meine Daten verkauft und das Vertrauensverhältnis gebrochen.

Trotzdem sind Sie noch für das Teilen von Daten?

Das Teilen von Gesundheitsdaten wird viel Gutes bringen, wenn es auf eine solidarische Art passiert. Aber ich will nicht in einer Welt leben, wo Konzerne über Gesundheitsdaten verfügen und der Ort meiner Geburt darüber entscheidet, ob ich Zugang zu lebensrettenden digitalen Innovationen habe, wo doch Daten die Quelle dieser Innovationen sind.

Hinweis vom 8. Juni, 15:53: In einer früheren Version stand im Text Rückenmark statt Knochenmark. Das haben wir nun berichtigt.