Studie: Viele junge Hochschulforscher wandern in die IT-Wirtschaft ab

Nachwuchswissenschaftler arbeiten an hiesigen Unis oft unter prekären Bedingungen. Vor allem in der Informatik können Tech-Konzerne so Talente abwerben.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 29 Kommentare lesen

(Bild: nampix/Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Inhaltsverzeichnis

Der akademische Nachwuchs sieht sich in Deutschland diversen Belastungen ausgesetzt. Viele angehende Hochschulprofessoren wechseln daher frühzeitig in die Wirtschaft, wo sie bessere Bedingungen erwarten. Vor allem im Bereich der Informatik droht so die Gefahr, dass die akademische Forschung gegenüber der industriellen ins Hintertreffen gerät. Dies geht aus einer Studie zum akademischen Mittelbau des Beirats des wissenschaftlichen Nachwuchses der Gesellschaft für Informatik (GI) hervor.

Das Gremium hat Anfang des Jahres eine Umfrage unter 378 Nachwuchskräften an deutschen Hochschulinstituten durchgeführt. Ziel war es herauszufinden, vor welchen konkreten Herausforderungen Doktoranden, Postdocs, Nachwuchsgruppenleiter und Junior-Professoren in ihrem Arbeitsalltag stehen. Darunter waren sowohl Teilnehmer aus den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik (MINT) als auch aus anderen Wissenschaftsbereichen.

Laut den jetzt als Vorabdruck veröffentlichten Ergebnissen schätzen 42 Prozent der Befragten aus dem MINT-Sektor, in dem der Fachkräftemangel als besonders hoch und als Hindernis für eine rasche Digitalisierung gilt, ihr Beschäftigungsverhältnis als prekär ein. Sie sehen sich also strukturellen und finanziellen Problemen ausgesetzt. Die Quote hört sich hoch an, unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern in Nicht-MINT-Fächern liegt sie aber sogar bei 64 Prozent.

Am häufigsten nennen die Teilnehmer als Herausforderung die Mehrfachbelastung durch Lehr-, Forschungs- und administrative Aufgaben. 69 Prozent finden es schwierig, Forschung, Lehre und weitere Aufgaben gleichzeitig zu meistern. Bei zwei Dritteln der Befragten (66 Prozent) führt der hohe Arbeitsaufwand zudem zu Überstunden. Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird häufig als Problem genannt – vor allem Wissenschaftlerinnen klagen darüber. Dies wurde besonders während der Corona-Pandemie deutlich: 76 Prozent der Befragten waren überhaupt nicht zufrieden mit der Unterstützung ihrer Hochschule bei der Kinderbetreuung.

Die mangelnde Finanzierung gilt mit Nennungen zwischen 40 und 46 Prozent als eine vergleichbar starke Herausforderung. Fächerübergreifend werden Konflikte mit den Betreuern am seltensten als Schwierigkeit genannt: Trotzdem steht etwa jeder Vierte vor dieser Problematik: 22 Prozent in MINT-Fächern, 26 Prozent in anderen wissenschaftlichen Bereichen.

Über die beiden Sektorengruppen hinweg liegt der Median der Bewerbungen in der wissenschaftlichen Laufbahn auf akademische Stellen bei zwei bis fünf (29 beziehungsweise 32 Prozent), unabhängig von der Qualifikationsstufe. Etwa die Hälfte derjenigen, die während einer befristeten wissenschaftlichen Laufbahn im Mittelbau bereits Forschungsanträge gestellt haben, tun dies zwei- bis fünfmal. Etwa ein weiteres Viertel davon stellte sogar sechs bis zehn Anträge. Die Autoren schließen daraus, dass mindestens über ein Drittel der Jungwissenschaftler mehr als doppelt so viele einschlägige Gesuche schreibt als nötig.

Die Studienmacher fragten die Teilnehmer auch nach Lösungsvorschlägen: 97 Prozent plädierten dabei für die Ausweitung unbefristeter Positionen nach der Promotion. In der anschließenden Freitext-Abfrage schlugen zudem einige Befragte vor, Lehrstühle abzuschaffen und stattdessen eine "Departmentstruktur" einzurichten, die mit einer flacheren und flexibleren Hochschulorganisation einhergeht. Ferner fanden sich Anregungen, Forschung und Lehre voneinander zu trennen und mehr Personal unbefristet einzustellen, das sich ausschließlich um die Lehre kümmert. Zudem hieß es, Mehraufwand sollte monetär entgolten und die Grundfinanzierung der Universitäten und Hochschulen aufgestockt werden.

Dass es sich lohnt, Nachwuchsakademikern bessere Bedingungen zu bieten, hat die Wirtschaft laut der GI längst erkannt. Gerade in der Informatik stünden Universitäten mit Unternehmen in Konkurrenz um junge Forschende: "Wenn die wissenschaftliche Karriere an deutschen Hochschulen nicht mehr attraktiv erscheint, suchen die besten Köpfe nach Alternativen", warnt Mario Gleirscher, Erstautor der Studie, vor einer Abwanderung. In der Branche sei längst bekannt: Spannende Forschungstätigkeiten gebe es nicht nur in der Hochschullandschaft, sondern etwa auch bei Google, Apple, Facebook und Amazon.

Die Tech-Konzerne seien für viele gar bereits "zum Synonym für privatisierte Spitzenforschung geworden", weiß Gleirscher. Die Folgen eines weiteren "Braindrain" wären aber fatal: "Die Freiheit in Forschung und Lehre – fernab von unmittelbarem wirtschaftlichem Profit – ist ein maßgeblicher Erfolgsfaktor für die rasante Entwicklung des Fachbereichs Informatik in den vergangenen Jahrzehnten."

Auf dem Weg zur Professur müssten junge Akademiker "durch einen Flaschenhals", beklagt Kerstin Lenk, Sprecherin des zuständigen GI-Beirats: "Das führt zu äußerst schwierigen Arbeitsbedingungen." Das Gremium hatte bereits 2020 ein Positionspapier zur Debatte gestellt, um die Lage von Promovierenden sowie Postdocs in der Informatik und anderen Technikfächern zu verbessern. Darin heißt es: "Es muss ein Umdenken auf politischer und gesellschaftlicher Ebene stattfinden, um vor allem die Postdoktorandenphase nicht als weitere Qualifikationsphase, sondern als berufliche Phase eines vollwertigen Wissenschaftlers anzusehen." Alle Betroffenen sollten sich dringend in "nachhaltigen Strukturen" organisieren.

(tiw)