Was Progressive und Konservative unterscheidet, sind ihre Gefühle

Mitgefühl oder Ekel? Progressiv oder konservativ? Politische Einstellungen sind oft mit Gefühlen verwoben. Das macht eine Verständigung zwischen links und rechts so schwierig.

Philipp Hübl
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Abscheu ist derjenige Mechanismus, der uns bei der Nahrungsaufnahme vor möglichen Schadstoffen schützt, gesellschaftspolitisch aber konservativ werden lässt. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Abscheu ist derjenige Mechanismus, der uns bei der Nahrungsaufnahme vor möglichen Schadstoffen schützt, gesellschaftspolitisch aber konservativ werden lässt. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Ob Brexit, Verfassungsreferendum in der Türkei oder Trumps Wahl zum US-Präsidenten – überall tut sich eine Kluft auf: Die progressiven Städter wollen Freiheit und Offenheit, während sich die konservative Landbevölkerung nach Autorität und Tradition sehnt. Wie kann man das erklären?

In der politischen Analyse finden Erkenntnisse aus der Psychologie noch zu wenig Berücksichtigung. So zeigen unzählige Studien, dass Progressive (Linke und Liberale) und Konservativ-Rechte in ihren Ideologien oft weit auseinanderliegen, weil sie sich grundlegend in ihren Denkstilen und Emotionen unterscheiden. Das hat eine Gruppe um den amerikanischen Moralpsychologen Jonathan Haidt mit Hunderten von Versuchen an über hunderttausend Probanden weltweit gezeigt.

Sechs Prinzipien

In einem Versuch muss man zum Beispiel Fragen beantworten wie: Ist Inzest zwischen unfruchtbaren Geschwistern moralisch verwerflich? Darf man eine Toilette mit der Landesfahne putzen? Selbst wenn in diesen Gedankenexperimenten klar ist, dass keiner unter den Folgen der Handlungen leidet, haben viele Probanden die Intuition: Das darf man nicht! Doch mit einem allgemeinen moralischen Prinzip können sie das selten erklären.

Vieles spricht dafür, dass oft Gefühlsdispositionen und nicht reflektierte Überzeugungen unseren normativen Intuitionen zugrunde liegen.

Selbst mit Bedacht gefällte Urteile wie «Ein Staat muss seine Grenzen schützen» oder «Das Schulsystem ist ungerecht» sind nämlich oft nur nachgereichte Scheinerklärungen für ein emotionales Unwohlsein. Vieles spricht dafür, dass oft Gefühlsdispositionen und nicht reflektierte Überzeugungen unseren normativen (moralischen, politischen) Intuitionen zugrunde liegen. So lösen vor allem Verletzungen von moralischen Prinzipien Emotionen aus, die uns zu unseren Urteilen leiten. Dieser Einfluss ist für uns schwer zu erkennen und umso schwerer zu unterdrücken.

Mindestens sechs emotionsbasierte Prinzipien hat die Forschung herausgearbeitet. Fürsorge stellt sicher, dass wir uns um Kinder und Hilfsbedürftige kümmern. Freiheit zeigt sich in dem Wunsch, selbstbestimmt und ohne Zwang zu leben. Fairness sensibilisiert uns für das Gleichgewicht in der Kooperation. Diese drei Prinzipien finden sich in allen Kulturen und Religionen. Wir reagieren mit negativen Emotionen auf deren Verletzungen, und zwar mit moralischer Wut: Wir sind empört, wenn Schwachen Leid widerfährt (Fürsorge), wenn Menschen unterdrückt werden (Freiheit) und wenn man sie ungerecht behandelt (Fairness).

Während diese Reaktionen bei Progressiven besonders stark ausfallen, sind sie bei Konservativen vergleichsweise schwach ausgeprägt. Stattdessen stehen bei ihnen drei weitere Prinzipien im Vordergrund, die besonders in nichtwestlichen Kulturen Wertschätzung erhalten. Erstens: Loyalität. Da geht es um die Treue gegenüber dem eigenen Stamm: dem Volk, der Religion oder der Fussballmannschaft. Zugehörige Gefühle sind Vereins- oder Nationalstolz sowie die Verachtung für Fremde und Verräter.

Prinzip der Reinheit

Das zweite Prinzip ist das der Autorität. Dabei geht es um Hierarchie und Anerkennung, um Rang und Ehre, Respekt und Unterordnung. Autorität findet Ausdruck in Familienhierarchien wie dem Patriarchat, in Orden und Abzeichen. Wer Autorität schätzt, will mit «Entschlossenheit» und «Härte» gegen Verbrecher vorgehen. Das Prinzip der Reinheit schliesslich suggeriert einen Unterschied zwischen dem «Reinen» und «Natürlichen» (beispielsweise der Ehe) einerseits und dem «Unreinen» und «Unnatürlichen» (zum Beispiel Inzest) andererseits.

Zwar geht es in vielen Analysen über Populismus und die Spaltung der Gesellschaft um Gefühle wie Hass oder um die Fähigkeit zur Empathie, doch fehlt meist der Bezug zur Emotionsforschung. Vor allem übersehen alle Analysen die zentrale moralische Emotion der Konservativen und Rechtsradikalen: den Ekel. Denn der spielt den Studien gemäss für die Prinzipien Reinheit, Loyalität und für den Wert, der der Tradition zugemessen wird, eine entscheidende Rolle.

Die schwankende Ausprägung solcher Ekel-Neigungen kann man aus dem «Dilemma der Allesfresser» heraus verstehen. Unsere Vorfahren mussten bei Nahrungsknappheit Neues ausprobieren (Neophilie), sonst wären sie verhungert. Gleichzeitig mussten sie dem, was sich als Nahrung anzubieten schien, vorsichtig begegnen (Neophobie), denn vieles davon war giftig oder krankheitserregend. Ekel ist derjenige Mechanismus, der uns vor Schadstoffen schützt: Wir ekeln uns vor Kadavern, Körperflüssigkeiten und verdorbenem Essen. Sie alle können gefährliche Keime übertragen.

Doch die Neophobie macht nicht beim Essen halt. Probanden, die während eines Interviews üble Gerüche ertragen mussten, gaben zu politischen Fragen klar konservativere Antworten als die Vergleichsgruppe. Kurz gesagt: Ekel macht konservativ. Konservative ekeln sich besonders schnell und nachhaltig. Diese Neigung überträgt sich auf ihre Ansichten über Sex, Tod und Leben.

Je konservativer jemand ist, desto wichtiger ist ihm das Prinzip Reinheit und desto «unnatürlicher» erscheinen ihm daher Abtreibung, Prostitution oder Homosexualität. Auch Loyalität hat eine Verbindung zum Ekel, was sich im Stammesverhalten und in der Scheu vor fremden Gruppen zeigt. In Vorzeiten brachten Immigranten Krankheiten und Parasiten mit sich, gegen die oft keine Resistenzen bestanden. Ausserdem sehen Konservative in Gruppensymbolen wie dem christlichen Kreuz oder den Landesflaggen Objekte einer heiligen Reinheit und reagieren mit Verachtung, einer Mischung aus Zorn und Ekel, auf Schmähungen.

Die digitale Bohème

Die Ekel-Disposition macht Menschen ausserdem zu Traditionalisten. So scheuen Konservative ganz allgemein vor Neuem zurück; sie reagieren selten positiv auf überraschende Stimuli, wollen lieber Ordnung und Vertrautheit im Leben. Bei Progressiven hingegen ist die Neigung zum Ekel deutlich schwächer ausgeprägt: Sie benötigen dementsprechend weniger Struktur und Ordnung im Leben, schätzen Individualität, Kreativität und neue Eindrücke. Sie sind zudem offen für nichttraditionelle Partnerschaften und Sexualpraktiken, sie sind eher atheistisch und haben wenig für Fahnen, Orden oder Autoritäten übrig.

Freiheit, Vielfalt und Offenheit zeichnen nun gerade Grossstädte aus und sind das Ideal der jungen Generation, die Neophilie zum Lebensstil erkoren hat. Wer die neuesten Apps und Hashtags nicht kennt, gehört nicht zur digitalen Bohème. Daran zeigt sich, wie die Digitalisierung zur gesellschaftlichen Spaltung beiträgt. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es leicht, Traditionalist zu sein. In Zeiten von Snapchat und selbstfahrenden Autos herrscht dagegen ein Zwang zum Progressiven.

Daher verläuft der Bruch in der Gesellschaft nicht primär zwischen Reich und Arm, sondern vor allem zwischen Stadt und Land sowie Jung und Alt. Die Elitenhasser, die sich den Rechtspopulisten zuwenden, sind nämlich nur teilweise ökonomisch «abgehängt». Sie empfinden sich vielmehr als sozial «abgehängt». Sie haben den Eindruck, als feierten in den Grossstädten Politiker, Journalisten, Hipster und Prominente eine Party – und sie sind nicht dabei.

Der politisch rechte Rand vertritt in vielen Punkten die Extremformen der auf Ekelgefühlen basierenden konservativen Moral. Dort verwandeln sich Loyalität und Tribalismus in eine Treue zu «Blut und Boden» und damit zur Fremdenfeindlichkeit. Der Wunsch nach Autorität und Struktur schlägt um in eine Sehnsucht nach dem autokratischen Führer, der richtig aufräumt – zur Not auf Kosten der Demokratie. Die Präferenz für Reinheit ist zur Abscheu gesteigert: Homosexualität gilt als «widerlich», ebenso unklare Geschlechterrollen oder «linksgrünversifftes» Gedankengut. Die «Wutbürger» sind also tatsächlich «Ekelbürger».

Selektive Wahrnehmung

Doch warum haben sich die Fronten so verhärtet? Auch hier geben Studien Aufschluss. Progressive pflegen eher einen analytischen, Konservative eher einen intuitiven, gefühlsgeleiteten Denkstil. Progressive überdenken ihre spontanen emotionalen Reaktionen häufiger und zensieren so ihre ersten Impulse, während bei Konservativen Bauchgefühl und moralisches Urteil im Einklang sind. Wenn man den «intuitiv» denkenden Konservativen Widersprüche nachweist, beharren sie eher auf ihrer Position, statt sie zu revidieren.

Der Wunsch, dass die Welt zu den eigenen Normen passt, ist stärker als das Streben nach Wahrheit. Selektive Wahrnehmung hilft ihnen dabei, kognitive Dissonanz zu vermeiden. So erklärt sich die Anfälligkeit für Fake-News und Verschwörungstheorien vor allem im rechtsradikalen Lager.

Selektive Wahrnehmung und Starrköpfigkeit sind natürlich auch Progressiven nicht fremd. Allerdings können sie etwas besser mit Widersprüchen leben. Sie akzeptieren eher die eigene Inkonsistenz und eine unüberschaubare Welt, statt nach einfachen Gründen oder personalen Verursachern wie den «Eliten» oder den «Zionisten» zu suchen, um die Missstände in der Welt zu erklären.

Gruppendynamik

Schliesslich kann man emotionsbasierte Prinzipien wie Fürsorge, Fairness und Freiheit besser mit rationalen Gründen in eine universelle Ethik überführen als die Prinzipien Loyalität, Autorität und Reinheit. Denn Erstere betonen Symmetrie und Gleichheit, während Letztere asymmetrisch sind, indem sie Gruppen ausschliessen.

Auch in der Gruppendynamik gibt es Unterschiede: Zwar entfernen sich durch die Selbstverstärkung der Meinungen alle nach rechts wie nach links Geneigten von der Mitte, sobald sie sich einer Seite zuordnen. Doch die Echokammer des rechten Randes ist fast schalldicht geschlossen, während die Progressiven zumindest abweichende Positionen erwägen.

Um Menschen vom rechten Rand zurückzuholen, muss man daher langfristig auf gute Schulen und Universitäten setzen: Bürger mit hohem Bildungsstand denken tendenziell eher progressiv. Kurzfristig hilft der Appell an die Vernunft selten. Da empfiehlt sich eher die positive Emotionalisierung von progressiven Themen, zum Beispiel, indem man an das Mitgefühl gegenüber Fremden appelliert, das manchmal den Ekel übertrumpfen kann. Das ist zwar nur eine Notlösung, aber immerhin ein Anfang.

Philipp Hübl ist Juniorprofessor für Philosophie an der Universität Stuttgart. 2015 ist sein Buch «Der Untergrund des Denkens. Eine Philosophie des Unbewussten» erschienen.