Zug der Zukunft: Hightech-Fahrwerk rollt ohne durchgehende Radachsen

Forscher tüfteln an einem smarten Fahrwerksdesign für Züge, bei dem jedes Rad separat angetrieben wird. Es soll effizienteres und leiseres Fahren ermöglichen.

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Alternative Antriebslösungen für den Schienenverkehr.

(Bild: CAF)

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Dem Fahrwerk eines Zuges kommt eine tragende Rolle für einen schnellen, zuverlässigen, sicheren und komfortablen Bahnverkehr zu. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) arbeitet daher im Rahmen des Leitkonzepts Next Generation Train (NGT) an einem neuartigen Fahrwerksdesign, das es vom Dienstag an auf der Verkehrstechnikmesse InnoTrans in Berlin im Originalmaßstab vorstellen will: Dieses verzichtet auf durchgehende Radachsen.

"Jedes Rad wird separat angetrieben und intelligent gesteuert", heißt es bei dem Forschungszentrum. Dieser IT-Ansatz biete diverse Vorteile. "Züge könnten so effizienter und leiser unterwegs sein, Rad und Schiene dabei weniger verschleißen", erläutert Projektleiter Andreas Heckmann vom DLR-Institut für Systemdynamik und Regelungstechnik. "Die Struktur und die eingesetzten Materialien sind bei diesem Hightech-Fahrwerk auch in den Antriebsmotoren so optimiert, dass sie möglichst leicht sind."

"Weniger Gewicht senkt den Energieverbrauch und ermöglicht mehr Zuladung", führt Heckmann aus. "Auch bei der Konstruktion und Gestaltung des Wageninnenraums entstehen neue Freiheitsgrade, weil die räumlichen Einschränkungen durch Radachsen entfallen."

Traditionell werden im Bahnsektor unter dem Wagenkasten Drehgestelle mit meist zwei Radsätzen als Fahrwerke eingesetzt. Ein Gestell kann sich dabei gegenüber dem Wagenkasten bewegen und sich so entlang von Kurven und Gleisbögen ausrichten. Die Radsätze mit ihren profilierten Radscheiben und der Radachse halten die Spur, weil sie sich automatisch zur Gleismitte hin orientieren. Dieses Grundprinzip blieb lange unverändert.

Großer Nachteil dabei neben erhöhtem Abrieb etwa in Kurven: Drehgestelle sind groß und schwer und damit ein entscheidender Effizienz- und Sicherheitsfaktor, wenn es um die Konstruktion eines Zuges geht. Vor allem bei doppelstöckigen Waggons stellt das klassische Modell eine Herausforderung dar: Auf der unteren Ebene müssen Reisende per Treppen über das Fahrwerk beziehungsweise über dessen Radachsen steigen. Es gibt also keine durchgehend ebene Fläche.

Mit einem ebenen Wagenkastenboden vollständig oberhalb der Radsätze wären die Doppelstöcker zu hoch. Sie könnten nicht die bestehende Schieneninfrastruktur nutzen, würden auch nicht durch heutige Tunnel passen. Dabei ermöglichen es doppelstöckige Wagen prinzipiell, die vorhandenen Gleiskapazitäten effizient und kostengünstig zu nutzen. Gleichzeitig lassen sich damit mehr Menschen und Güter transportieren.

Hier setzt das NGT-Fahrwerkskonzept an. Die Technologie muss aber noch einige Hürden meistern, räumt das DLR ein. Zu den größten gehöre die Regelungstechnik. Heckmann rechnet an einem Beispiel einer 400 km/h schnellen Hochgeschwindigkeitsbahn vor: "Wir haben einen 200 Meter langen Zug mit zehn Wagen." Die beiden Endwaggons hätten je acht Räder, die acht Mittelwagen je vier Räder. "Insgesamt sind wir dann bei 48 Rädern, die alle einzeln gesteuert und geregelt werden müssen."

Dazu verfüge jedes Paar bestehend aus linkem und rechtem Rad über einen eigenen Steuerungscomputer im Wagenkasten und eine eigene Sensorik, verdeutlicht der Wissenschaftler die Komplexität. So müsse etwa konstant die Position des Paares im Spurkanal gemessen und gesteuert werden – also wie weit links oder rechts die beiden zusammengehörenden Räder auf den Schienen fahren. Dies sei herausfordernd. Zugleich lasse sich so aber auch erstmals genau festlegen, "wo das Rad auf der Schiene laufen soll und damit, wo es verschleißen soll oder darf." Die Genauigkeit liege zwischen einem zehntel und einem halben Millimeter.

Zudem verweist Heckmann angesichts der ständig mitfahrenden Sensorik auf die Option, Daten über den Zustand der Strecken zu gewinnen. Diese Informationen ließen sich zum Überwachen und zur Instandhaltung des Netzes verwenden.

In der Simulation und bei Experimenten mit einem Modell des NGT-Fahrwerks im Maßstab eins zu fünf hat sich das Konzept laut dem DLR bereits als "vielversprechend" erwiesen. Deshalb hätten die Forscher nun in einem nächsten großen Schritt für die Messe ein Funktionsmodell sowie einen Prüfstand im Originalmaßstab aufgebaut. So wollen sie das Fahrwerk zum ersten Mal zum Laufen bringen und die Position und Funktion von Sensoren sowie die Steuerungsgeräte testen.

Mit dieser Forschungsinfrastruktur soll die Technologie in den nächsten Jahren weiterentwickelt und demonstriert werden. Danach könnte das Hightech-Fahrwerk auf speziellen Prüfständen bei externen Schienendienstleistern auf die Probe gestellt werden. Weiteres Ziel ist es dem Team zufolge, im Anschluss "möglichst bald einen Test in der Praxis auf der richtigen Schiene zu absolvieren".

Das DLR ist mit seiner Schienenverkehrsforschung die größte institutionell geförderte Forschungseinrichtung in Europa. Insgesamt tragen 13 DLR-Institute zur Forschung, Entwicklung und zum Transfer von Innovationen für den Verkehrsträger Schiene bei. Als Gründungsmitglied der Partnerschaft EU-Rail arbeitet das Zentrum zudem gemeinsam mit den europäischen Bahnbetreibern und der Industrie daran, das Bahnsystem in ganz Europa weiterzuentwickeln. Im Fokus steht ein moderner, bezahlbarer, klima- und umweltfreundlicher Schienenverkehr, der auch die Verkehrswende beflügeln soll.

Auf der InnoTrans präsentiert das DLR so etwa auch im Modellmaßstab, wie seine Seitenwindversuchsanlage in Göttingen und spezieller der Böen-Generator funktionieren. Über diese Testeinrichtung soll die Aerodynamik von Schienenfahrzeugen weiter verbessert und so ebenfalls der sichere und gleichzeitig energieeffiziente Betrieb gewährleistet werden.

Ferner stellt das DLR auf der Messe das "virtuelle Kuppeln" vor, das nicht zu verwechseln ist mit dem Projekt "digitale automatische Kupplung": Bei entsprechend verknüpften Zugverbänden existiert keine mechanische Verbindung mehr zwischen den einzelnen Triebzug-Einheiten. Im NGT-Kontext soll hier ein "dynamisches Flügeln" eine Rolle spielen. Bei dieser Funktion ist es möglich, Züge virtuell zu kuppeln und dabei Verbände während der Fahrt zu verkleinern oder zu vergrößern. Das ermöglicht laut dem DLR auch ein neues Betriebskonzept, dessen Vorbild das historische "Slip Coaching" ist.

Virtuelles Kuppeln als Voraussetzung für Slip Coaching.

(Bild: DLR (CC BY-NC-ND 3.0))

Beim künftigen Slip Coaching-Verfahren verkehren mehrere Zugteile laut dem Plan virtuell gekuppelt zwischen Knotenbahnhöfen. An Zwischenstationen halten nur einzelne Zugteile, während der Hauptzug mit voller Geschwindigkeit durchfahren kann. Dies dürfte dazu beitragen, auf existierender Infrastruktur ein verbessertes Angebot mit höherer Taktfrequenz, verringerten Reisezeiten sowie zusätzlichen Direktverbindungen umzusetzen. Einen interaktiven Online-Demonstrator können Messebesucher am DLR-Stand ausprobieren. Einblicke sollen sich zudem gewinnen lassen etwa in Forschungsarbeiten zu fahrerlosen Zügen, digitaler Sicherungstechnik und zur eingebetteten Zustandsüberwachung der Gleisinfrastruktur.

(bme)