Der 2000-Dollar-Turnschuh, den man weder in der realen noch in der virtuellen Welt tragen kann: Wie Firmen mit dem Metaversum experimentieren

Das Metaversum ist noch leer. Trotzdem fürchten manche Unternehmen heute schon, den Anschluss zu verpassen. Einblicke in mehr oder weniger erfolgreiche virtuelle Welten.

Gioia da Silva
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Geflügelte Füchse, phantasievolle Avatare, gigantische Pilze: Im Metaversum Joytopia von BMW geht es um alles, ausser ums Auto.

Geflügelte Füchse, phantasievolle Avatare, gigantische Pilze: Im Metaversum Joytopia von BMW geht es um alles, ausser ums Auto.

BMW Joytopia

Für einen Monat holte das Warenhaus Jelmoli die Zukunft an die Zürcher Bahnhofstrasse – oder mindestens das, was man sich in Marketingkreisen im Moment darunter vorstellt. Jelmoli betrieb im Juni einen Showroom im Metaversum. In einer Suite im ersten Stock des Warenhauses konnten Interessierte mit einer Virtual-Reality-Brille in einen virtuellen Raum eintreten, in dem sechs Kleidungsstücke schwebten.

Der Showroom ist noch immer online. Man kann sich auch mit dem Smartphone oder auf dem Desktop einwählen, dort kann man durch verschiedene Räume gehen, Treppen erklimmen, mit anderen Anwesenden chatten oder sich zusätzliche Informationen über die ausgestellten Kleidungsstücke einblenden lassen. Es ist das Metaversum, wie es sich heute meist anfühlt: wie ein Computerspiel ohne Ziel, man klickt sich durch, eher aus Neugier bezüglich der Technik als aus Interesse am Ausstellungsobjekt.

Jelmoli ist nur eines von vielen bekannten Unternehmen, die mit dem Metaversum und Virtual Reality experimentieren. Gucci eröffnete einen virtuellen «Gucci Garden» auf der Gaming-Plattform Roblox. H&M entwarf Mode aus virtuellen Materialien, die es im echten Leben nicht gibt. Samsung replizierte sein New Yorker Besucherzentrum in der virtuellen Welt Decentraland. Coca-Cola versteigerte digitale Getränkeboxen. Und BMW entwickelte eine VR-Welt namens Joytopia, in der Besucherinnen und Besucher ihren eigenen Avatar ausstatten und mit ihm durch eine Phantasiewelt zu einem Phantasieauto gelangen können.

Wie in einem Computerspiel ohne Ziel: Screenshot aus dem Metaversum-Showroom von Jelmoli. Die Schwarz-Weiss-Figur auf der Münze ist der Avatar, mit dem man sich durch die VR-Welt bewegen kann.

Wie in einem Computerspiel ohne Ziel: Screenshot aus dem Metaversum-Showroom von Jelmoli. Die Schwarz-Weiss-Figur auf der Münze ist der Avatar, mit dem man sich durch die VR-Welt bewegen kann.

Jelmoli/Zeam
Im Samsung-Zentrum im Decentraland kann man mit einem Avatar einen virtuellen Gebäudekomplex erkunden.

Im Samsung-Zentrum im Decentraland kann man mit einem Avatar einen virtuellen Gebäudekomplex erkunden.

Samsung/Decentraland

Jelmoli hat sich bei seinem Ausflug ins Metaversum von der Beratungsfirma Zeam helfen lassen, die sich auf die Nachwuchs-Konsumenten der Generation Z spezialisiert. Jo Dietrich, Co-Gründer von Zeam, sagt, Jelmoli und die anderen Marken im Metaversum hätten eines gemeinsam: Sie wollten ausprobieren, was sich mit der neuen Technik machen lässt. «Firmen, die sich früh für neue Trends interessieren und auch bereit sind, etwas auszuprobieren, laufen weniger Gefahr, den Anschluss zu verpassen», sagt Dietrich.

Geld verdienen mit dem Metaversum? Für viele undenkbar

Allerdings können nur die wenigsten Firmen mit ihren Metaversen oder VR-Projekten tatsächlich Geld verdienen. Jelmoli hatte am Ende des einmonatigen Experiments zwar um die 1000 Besucherinnen und Besucher in ihrem virtuellen Showroom begrüsst, aber nur ein einziges Kleidungsstück verkauft. Andere Marken – zum Beispiel BMW – versuchen gar nicht erst, mit ihren Metaversen Geld zu verdienen. Ihnen geht es einzig ums Branding und um die Ansprache neuer Zielgruppen.

Nicole Rentsch, Marketing-Angestellte bei BMW und Projektverantwortliche für das Metaversum Joytopia, erklärt es so: «Im Metaversum können wir Leuten die Werte von BMW vermitteln, die noch nicht einmal einen Führerschein haben.» Mit der VR-Phantasiewelt wolle man zeigen, dass die Marke für Freude, Nachhaltigkeit und das Erkunden von neuen Welten stehe.

Das klingt ziemlich vage. Aber dahinter stehen konkrete Geschäftsüberlegungen, wie Dietrich erklärt: «Den Grossteil aller Produkte kaufen wir, weil wir sie besitzen wollen – nicht weil wir sie brauchen würden.» Gerade Angehörige der Generation Z, also jene Konsumentinnen und Konsumenten, die zwischen 1995 und 2010 geboren worden seien, kauften besonders gerne Produkte, weil sie sich mit den Marken emotional verbunden fühlten.

Wo ist das Auto? Screenshot aus dem BMW-Metaversum Joytopia.

Wo ist das Auto? Screenshot aus dem BMW-Metaversum Joytopia.

BMW
Im «Gucci Garden»-Metaversum schwimmt ein Avatar zu einem Kleidungsstück.

Im «Gucci Garden»-Metaversum schwimmt ein Avatar zu einem Kleidungsstück.

Gucci/Roblox

Würden Firmen also versuchen, junge Konsumentinnen und Konsumenten anzusprechen, müssten sie auf Kanäle, wo diese sich aufhielten. Wo einst Marketing in den sozialen Netzwerken neu, revolutionär und «jung» gewesen sei, sei es heute ein Markenauftritt in der virtuellen Realität, sagt Dietrich.

Firmen erfinden ein Angebot, wo es noch keine Nachfrage gibt

Das Kuriose an der Sache: Die Firmen, die sich das zu Herzen nehmen, sind noch allein im Metaversum. Es fehlen die Konsumenten. In der virtuellen Welt entsteht also ein Angebot, das der Nachfrage voraus ist. Das macht jedes Engagement von Firmen im Metaversum risikoreich – weil Firmen noch kaum wissen, was ihre Kundschaft im Metaversum eigentlich machen will. Fabian Schär, Wirtschaftsprofessor an der Universität Basel, der sich aus wissenschaftlicher Sicht mit dem Phänomen beschäftigt, sagt, die Metaversum-Technologie sei noch immer wenig ausgereift und Prognosen, wie sie künftig eingesetzt werden könnte, seien noch eher Kaffeesatzlesen als faktenbasierte Vorhersagen.

Schär glaubt aber, dass das Metaversum künftig Verdienstmöglichkeiten für Firmen bieten wird. Im Moment beobachtet er das grösste Interesse von Konsumentinnen und Konsumenten bei Events wie Konzerten, Messen oder Kunstausstellungen, die über eine begrenzte Zeit online erreichbar sind, und im Gaming-Bereich. Bis sich weitere Verdienstmöglichkeiten mit dem Metaversum herauskristallisieren würden, dürften aber diverse Firmen viel Geld in mässig erfolgreiche Projekte stecken, glaubt Schär.

H&M

H&M-Kleider aus Material, das es in der echten Welt nicht gibt.

Besonders kritisch sieht er Projekte von Firmen, die ihr eigenes, in sich geschlossenes Metaversum aufbauen. «Wenn jede Firma eine eigene virtuelle Welt entwickelt, aber die Kundschaft nicht problemlos zwischen den Welten hin und her wechseln kann, wird das ganze Konstrukt des Metaversums weniger attraktiv. Erst wenn sich Firmen dazu entscheiden, auf unabhängige und offene Standards zu setzen, wird das Metaversum seine Vorteile entfalten», sagt Schär. Schliesslich gehe es im Metaversum um das gemeinsame Erleben und Gestalten.

Schär staunt daher immer wieder, welche Projekte das Label Metaversum für sich in Anspruch nehmen. «Nicht jedes 3-D-Video und nicht jedes VR-Projekt ist gleich ein Metaversum.» Damit ein VR-Projekt dem Namen Metaversum gerecht wird, braucht es laut Schär den Aspekt der Interoperabilität, des Austausches und des gemeinsamen Erlebens.

6 Minuten, 600 Paar Schuhe, 3 Millionen Dollar

Trotz allen Schwierigkeiten: Es gibt bereits vereinzelte Firmen, die mit dem Metaversum heute schon Geld verdienen. Eine der wenigen ist das Startup RTFKT (genannt «Artifact»), das im Frühjahr 2021 Schlagzeilen machte, weil es innert sechs Minuten über 600 Paar virtuelle Schuhe für insgesamt drei Millionen Dollar verkauft hatte.

Kunst oder Investition? Jedenfalls nicht nützlich. Der Cryptokick von RTFKT (Nike), der sich im Moment für fast 2000 Dollar verkauft.

Kunst oder Investition? Jedenfalls nicht nützlich. Der Cryptokick von RTFKT (Nike), der sich im Moment für fast 2000 Dollar verkauft.

Screenshot von Opensea / RTFKT / Nike

Anfang Jahr wurde das Startup von Nike übernommen. Seither strahlt der Erfolg von RTFKT auf den Sportartikelhersteller ab. Seit Mitte April verkaufte das Unternehmen den virtuellen Turnschuh namens Cryptokick etwa 7000 Mal, zu einem durchschnittlichen Preis von 1,1978 Ether, was im Moment fast 2000 Dollar entspricht. Damit hat Nike über 14 Millionen Dollar umgesetzt – wohlgemerkt mit einem Turnschuh, den man bis jetzt weder in der realen noch in einer virtuellen Welt tragen kann.

Emmanuel Wandji Tchatat, Metaversum-Projektmanager bei der Beratungsfirma Zeam, erklärt sich den Erfolg von RTFKT so: Der Schuh werde von vielen Kunden nicht primär als Konsum-, sondern eher als Kunstobjekt betrachtet. Dass ausgerechnet Nike im Metaversum Erfolg habe, sei das Resultat einer konsequenten Strategie. Nike sei eine Marke, die seit Jahrzehnten für das Vertrauen ihrer Kundinnen und Kunden arbeite und als sehr zuverlässig gelte. Weil es in der Welt der Kryptowährungen noch immer viele Betrugsfälle und Diebstähle gebe und man oft nicht wisse, welche Projekte in ein paar Monaten noch bestünden, verspreche eine Marke wie Nike Kontinuität. Das macht sie so erfolgreich.

Geld verdienen mit Waren, die man per Mausklick am PC generiert und im Internet verteilt, das ist verlockend für viele Unternehmen. Nike zeigt, dass es möglich ist. Doch noch geht diese Rechnung nur für die wenigsten Unternehmen auf.