"Amerikaner durchlaufen sieben Karrieren im Leben" – Seite 1

ZEIT ONLINE: Herr Thrun, Sie gelten als einer der Vordenker des Silicon Valley, haben bei Google das Projekt Google Glass und das autonome Fahren mitentwickelt. Jetzt rollen Sie den Bildungssektor mit Ihrer Onlineuniversität Udacity auf. Glauben Sie eigentlich wirklich, dass die Digitalisierung unser Leben verbessert?

Sebastian Thrun: In der Vergangenheit haben fast alle technologischen Revolutionen das Leben besser gemacht. Vor noch 300 Jahren haben die meisten Menschen in der Landwirtschaft gearbeitet, sie konnten weder lesen noch schreiben und sind im Alter von 30 oder 40 Jahren gestorben. Heute haben wir hygienische Toiletten, Strom und können innerhalb von zehn Stunden die Kontinente wechseln. Dieser Trend wird weitergehen, denn die Digitalisierung macht unser Leben besser. Keine Technologie setzt sich durch, wenn das Leben dadurch schlechter wird.

ZEIT ONLINE: Sie meinen, es gibt eine Art natürliche Selektion?

Thrun: Die Technologien und neuen Geschäftsmodelle, die sich durchsetzen, führen dazu, dass viele Dinge im alltäglichen Leben erschwinglicher und erreichbarer werden. Für uns bei Udacity gilt das für die Ausbildung, im Fall von Google für die Information und im Fall von Airbnb für die Übernachtung. Das ist eigentlich für jeden gut.

ZEIT ONLINE: Trotzdem gibt es genügend neue Anbieter im Onlinegeschäft, die kein neues Produkt erschaffen, sondern sich in eine bestehende Wertschöpfungskette hineinsetzen und dort abschöpfen, was ohnehin da ist. Brauchen wir das?

Thrun: Wenn in der Wertschöpfungskette Ineffizienzen bestehen, muss letztlich der Kunde dafür bezahlen. Zum Beispiel im Taxigeschäft. In den USA sind Uber und Lyft ungefähr halb so teuer wie die herkömmlichen Taxianbieter, weil diese die Hälfte des Geldes für sich behalten. Für die Kunden ist es doch erfreulich, wenn sie dieselbe Leistung für die Hälfte des Geldes bekommen. Auch die Fahrer von Uber mögen das Konzept, weil sie eine größere Flexibilität haben.

ZEIT ONLINE: Gleichzeitig fürchten sich viele Menschen davor, dass dieser Fortschritt ihre Arbeit prekärer macht oder ihnen den Job ganz wegnimmt.

Thrun: Wir befinden uns in einer sehr spannenden Phase in der Entwicklung der Menschheit und müssen davon ausgehen, dass die Menschen künftig wesentlich weniger repetitive Arbeit verrichten werden. Das gilt für den Lastwagenfahrer, dessen Job durch das autonome Fahren wegfällt, aber auch für hoch bezahlte Tätigkeiten von Ärzten und Rechtsanwälten. Stattdessen werden neue Jobs entstehen, auch bestehende Berufsfelder bieten mehr Potenzial. Ein Lehrer wird in Zukunft vielleicht fünf Kinder statt 30 unterrichten, wodurch sich die Ausbildung deutlich verbessert. Der Patient muss in Zukunft nicht auf den Arzt warten, sondern umgekehrt der Arzt auf den Patienten.

ZEIT ONLINE: Sie spielen auf den sozialen Bereich an, dem viele gerade eine wachsende Bedeutung zumessen.

Thrun: Ja, es gibt viele Felder, in denen das zwischenmenschliche Verhältnis extrem wichtig ist und in denen wir viel zu wenige Angestellte haben. Es ist doch traurig, wenn ein Angestellter jeden Tag die immer gleiche Arbeit ausüben muss, zum Beispiel Daten in einen Computer einzugeben oder Dokumente in einem Rechtsstreit zu suchen. Da kann der Computer die Arbeit übernehmen.

ZEIT ONLINE: Mehr soziale Arbeit und mehr Bildung klingt gut, nur wer soll das bezahlen? In Deutschland sorgt dafür bisher überwiegend der Staat, aber dessen Mittel sind knapp.

Thrun: Wir müssen wieder in die Vergangenheit schauen. Vor der industriellen Revolution haben die meisten Europäer als Bauern gearbeitet und konnten sich nicht vorstellen, dass es später Programmierer oder Fernsehmoderatoren gibt. Wir haben die Menschen dazu befähigt, völlig neue Jobs auszuüben. Dadurch haben wir das Bruttosozialprodukt weltweit extrem erhöht und das war nicht nur gut für die Reichen, sondern für alle Menschen. Die Massenarmut ist auf dem absolut niedrigsten Stand in der Historie der Menschheit. Alle leben besser und länger als jemals zuvor, nicht nur die Reichen. Am Ende ist es wichtig, dass der Reichtum vernünftig verteilt wird, sodass alle daran teilhaben.

"Ausbildung weltweit in allen Sektoren verfügbar machen"

ZEIT ONLINE: Wenn man sich die Fortbildungsprogramme in Ihrer Onlineuniversität ansieht, dreht sich alles ums Programmieren und Datenauswerten. Was geschieht mit denen, die damit nichts anfangen können?

Thrun: Der Mythos, dass man mit einer einzigen Ausbildung im Leben klarkommt, stellt sich immer mehr als unwahr heraus. Der Durchschnittsamerikaner durchläuft heute schon sieben verschiedene Karrieren in seinem Leben. Die Zukunft wird ein lebenslanges Lernen bringen. Hier füllt Udacity eine Lücke, auch wenn wir uns jetzt zunächst auf den Technologiesektor spezialisiert haben. Aber das ist erst der Anfang. Unsere Mission ist, Ausbildung weltweit in allen Sektoren verfügbar zu machen. Für jeden Menschen bieten sich durch eine weitere Ausbildung neue Chancen, die ansonsten nicht realisierbar wären.

ZEIT ONLINE: Wer bei Udacity einen Kurs belegen will, muss einen gewissen Intellekt mitbringen. Können Sie sich vorstellen, das Angebot auch für geringer qualifizierte Menschen auszuweiten?

Thrun: Wir haben angefangen mit Themen, die im Silicon Valley gebraucht werden, wie Deep Learning oder autonomes Fahren. Wir werden das sicher ausweiten, nicht nur in den Themen, sondern auch im Schwierigkeitsgrad. Aber das wird dauern.

ZEIT ONLINE: Wie viel eigenen Antrieb muss man haben, um in einer rein bildschirmbasierten Ausbildung einen Abschluss zu erzielen?

Thrun: Man muss schon sehr viel Selbstmotivation mitbringen. Das steht außer Frage. Wir haben sehr viele Quereinsteiger, die aus anderen Bereichen kommen, wie beispielsweise Kunst, Journalismus, Sport und dann Udacity nutzen, um sich in Informatik neu zu definieren. Das passiert typischerweise in zwei Schritten. Wir haben Anfängerkurse, in denen beispielsweise das Programmieren oder das Trainieren von neuronalen Netzen vermittelt wird. Darauf aufbauend bieten wir berufsspezifische Programme an, die direkt von Partnerfirmen entwickelt worden sind mit der Vorgabe, dass dies gleich als Einstellungstest dient. 

ZEIT ONLINE: Auch in den Unternehmen wird zunehmend darüber nachgedacht, wie man Mitarbeiter stärker weiterbilden kann. Ist das für Sie interessant?

Thrun: Wir haben jetzt schon zwei Arten von Kunden. Einerseits Studierende, die sich fortbilden möchten. Aber auch große Unternehmen, die ihre Angestellten auf den neuesten technologischen Stand bringen wollen. Der Medienkonzern Bertelsmann, einer unserer größten Gesellschafter, hat ein Programm, in dem die Angestellten sich kostenlos fortbilden und dementsprechend befördert werden können. Die Initiative geht auch bei anderen Firmen meist von den Unternehmen selbst aus, weil sie realisieren, dass sie in bestimmten Technologien zurückliegen. Sobald wir dann an die Angestellten herantreten, merken wir, dass sie große Begeisterung für das Lernen entwickeln, weil auch sie wissen, dass die neuen Technologien für sie wichtig sind.

ZEIT ONLINE: Viele große Konzerne haben den Handlungsbedarf sicher schon erkannt. Aber wo steht der für Deutschland so wichtige Mittelstand?

Thrun: Wir haben Kunden aus allen Sparten der Wirtschaft. Quasi jede Firma begreift inzwischen, dass große Datenmengen, künstliche Intelligenz oder Cybersicherheit wichtige Themen für sie sind. Deutschland ist eines unserer besten Länder, es ist sehr progressiv, extrem pragmatisch und sehr gut organisiert. Aber wir sind inzwischen auch sehr aktiv im Mittleren Osten, in China, in Indien oder Brasilien.

ZEIT ONLINE: Können Sie sich vorstellen, auch mit staatlichen Stellen zusammenzuarbeiten?

Thrun: Wir stehen mit vielen Regierungen in Kontakt. In Neuseeland hat die Regierung unser Nanodegree offiziell als Qualifikation anerkannt. Das ist ein großer Erfolg für uns. In Saudi-Arabien hat die Regierung selbst Stipendien zur Verfügung gestellt. In Deutschland ist das noch nicht der Fall.

ZEIT ONLINE: Werden Sie in Deutschland als Konkurrenz zum öffentlichen und weitgehend kostenlosen Bildungssystem gesehen?

Thrun: Wir stehen überhaupt nicht in Konkurrenz mit bestehenden Universitäten, unser typischer Kunde ist 25 Jahre oder älter und hat meistens eine universitäre Ausbildung schon hinter sich. Vielleicht kann man es vergleichen mit Radio und Fernsehen, die auch nebeneinander existieren können. Wir richten uns an Personen, die sich immer wieder neu ausbilden möchten, in allen Altersgruppen. Wir als Unternehmen würden uns vom deutschen Staat aber mehr Offenheit für unsere Abschlüsse wünschen. Bisher hat unser Nanodegree seine Legitimtät durch die vielen Unternehmen, die unsere Absolventen anheuern.