Estlands CIO Siim Sikkut „Europa braucht einen digitalen Schengen-Raum“

Estlands CIO Siim Sikkut über die Digitalisierung Europas

Estland gilt als digitalster Staat Europas. Chief Innovation Officer Siim Sikkut soll nun für die Regierung mehr digitale Staatsbürger anwerben, die Cyber-Security stärken und ein Europa der freien Daten schaffen. Hier erklärt er, wie Deutschland aufholen kann.

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Herr Sikkut, Sie sind seit eineinhalb Jahren Chief Innovation Officer der estnischen Regierung. Bei Twitter heißt es, der einzige echte Innovationschef als Teil einer Regierung. Was machen Sie besser als andere?
Das müssen Sie den fragen, der es getwittert hat. Ich weiß es auch nicht. 

Aber ein CIO als Regierungsmitglied ist schon besonders.
Ich fülle das Amt in fünfter oder sechster Generation aus. Estland hat sich also sehr früh entschieden, das Thema Digitalisierung sehr umfassend anzugehen. Wir sollen sicherstellen, dass Estland eine digitale Politik betreibt. Nicht nur die Regierung, sondern auch in Fragen der Sicherheit, des Lebens, der Wirtschaft. Wir erstellen Rahmenbedingungen, nicht mehr und nicht weniger. Und wir finanzieren unsere Ziele. Wir sollten sicherstellen, dass die Regierung in der Frage digitaler Technologie vorangeht. 

Sie sind Teil des Wirtschaftsministeriums. In Deutschland sitzt der Digitalisierungsbeauftragte der Regierung im Kanzleramt. Klingt irgendwie mächtiger und dennoch geht eher wenig voran.
Der Job gehört eigentlich auch in die Regierungszentrale. So hat der erste CIO hier in Tallinn angefangen. Die Regierung hat dann entschieden, dass die Regierungszentrale sehr schlank werden soll, und das Amt wurde in das Wirtschaftsministerium verlagert. Da laufen schließlich auch die meisten Aufgaben zusammen: Infrastruktur, Unternehmen, Industriepolitik, Gründungsförderung. Darauf kommt es aber auch nicht an. Hauptsache, es gibt jemanden, der etwas zu sagen hat.

In Deutschland sind mindestens fünf Ministerien auf Bundesebene zuständig. Kann das klappen?
Ich nehme einfach mal zur Kenntnis, dass es dort so ist. 

Geht es bei Ihnen eher darum, technische Rahmenbedingungen voranzubringen oder wollen Sie das Bewusstsein der Menschen schärfen?
Der größte Teil meiner Zeit geht dafür drauf, die Kollegen in den Ministerien zu überzeugen, dass sie das richtige Mindset entwickeln, um mehr für technologischen Fortschritt zu tun. Dann kommt aber sicherlich der Ausbau der Infrastruktur. Wir brauchen zum Beispiel eine Regierungs-Cloud, an der ich gerade arbeite.

In den meisten Ländern setzen Unternehmen digitale Standards und die Politik folgt eher schlecht als recht. In Estland scheint es andersherum.
Ich glaube nicht, dass die Regierung der einzige Antreiber bei uns ist. 

Aber Sie setzen das Mindset, in dem dieser Fortschritt stattfindet.
Es gibt sehr viele Start-ups, die uns in einer guten Weise vor sich hertreiben. Historisch war es aber so, dass es in Estland keine unternehmerische Infrastruktur gab, um das Thema voranzubringen. Als wir gestartet sind, waren Banken und Telekom-Unternehmen die einzigen, die mit dem Thema vertraut waren. Also mussten wir vorangehen, wenn wir das Thema setzen wollten.

Es scheint, als ändere sich der Blick der Menschen auf die Tech-Konzerne gerade. Vor allem die Verwerfungen im Social-Media-Bereich lassen Menschen erstmals auch negativ auf die Digitalisierung schauen. Was macht das mit Ihrem Ansatz?
Nicht so viel, wie Sie vielleicht denken. Natürlich beschäftigen wir uns sehr stark mit Themen wie Besteuerung oder Umgang mit Daten und Privatsphäre auf Plattformen. Aber das ist nicht unsere dringendste Baustelle.

In Tallinn scheint es, als ob Sie insgesamt nicht so viel Augenmerk auf jene Aspekte der Digitalisierung legen, die sonst im Fokus stehen: Online-Handel, Social Media, Entertainment.
Ja, wir sehen das breiter. Es geht da nicht nur um Online-Shopping oder Social Media. Es geht um die Grundlagen unseres Zusammenlebens.

Welche Schwerpunkte muss ein Staat in dem Zusammenhang bearbeiten?
Technologie stoppt nie. Darum müssen wir uns kümmern. Aktuell geht es etwa darum, die Rolle des Staatsbürgers komplett zu digitalisieren. Jeder Mensch hat am Ende im Prinzip einen digitalen Avatar, der alle seine Verhältnisse gegenüber dem Staat regelt. Dafür müssen wir unsere Datenaustausch-Infrastruktur voranbringen.

Ist Blockchain den Hype wert?

Schon jetzt haben Sie es geschafft, dass ein estnischer Bürger jede Information nur einmal eingeben muss und alle Behörden sie dann austauschen. Was soll da noch weitergehen?
Wir konzentrieren uns derzeit vor allem auf die internationalen Aspekte. Leute und Unternehmen ziehen um, so ist das Leben. Aber das ist derzeit ein Höllenjob. Nehmen Sie mal Ihre Daten als Unternehmen über eine Grenze innerhalb der EU mit. Wir brauchen koordinierte Infrastrukturen, die das ermöglichen. 

Also eine Frage von Standards.
Ja. Aber auch eine Frage des Willens. Wir haben in Estland unsere Infrastruktur so gebaut, dass sie sich mit anderen verbinden lässt. Mit Finnland arbeiten wir eng zusammen. Wir haben angefangen, dass Daten von Unternehmen und Bürgern zwischen beiden Ländern ausgetauscht werden können – etwa wenn jemand umzieht in das jeweils andere Land. 

Wie viele europäische Staaten sind wirklich darauf vorbereitet, das ebenfalls zu machen?
Ich würde sagen, die Hälfte. 

Vor allem föderale Staaten wie Deutschland oder Belgien tun sich damit schwer, allein innerhalb der Behörden ihres eigenen Landes Daten austauschbar zu machen.
Das mag sein. Aber selbst Deutschland hat Pläne. Auch wenn es etwas gedauert hat, bis sie vorlagen. Deswegen bemühen wir uns sehr, hier ständig deutsche Gäste über unseren Weg zu informieren.

Wir brauchen ein digitales Schengen?
Ja, im Prinzip geht es darum, einen digitale Schengen-Raum in Europa zu errichten. 

Lässt sich das sicher vor Cyber-Angriffen herstellen?
Wir brauchen Cyber-Sicherheit, ganz klar. 

Sie benutzen Blockchain dafür.
Unter anderem. Wir experimentieren damit seit zehn Jahren, da gab es das Wort noch gar nicht. Es ging aber immer um die Frage: Wie können die Daten, die vom Staat genutzt werden, unverfälscht bleiben.

Ist Blockchain den Hype wert?
Einen praktischen Nutzen hat sie derzeit nicht. Aber wir glauben, dass irgendwann jemand eine gute Idee für eine praktische Anwendung hat. 

Kann Blockchain die Demokratie verändern, weil viel mehr individuelle Entscheidungen verwaltet werden können?
Klar, technisch geht das. Die Frage ist, ob das jemand will und ob das für jemanden attraktiv ist. 

Wie wichtig ist Vertrauen insgesamt in Estland? Ihre Bürger vertrauen Ihnen ja alles an.
Naja, wir ermöglichen nur den Austausch von Daten. Es gibt aber keinen zentralen Ort, an dem sie liegen.

Trotzdem könnten sie irgendwann benutzt werden …
Estland ist auf der Grundlage eines Rechtsstaats und einer Demokratie gebaut. Insofern gibt es klare Regeln, wie Daten genutzt werden. Deswegen vertrauen die Leute uns. Natürlich können sich diese Regeln ändern, aber in einer Demokratie entscheiden das ja die Menschen. Insofern gibt es immer die Gefahr von Missbrauch – aber wir sollten da an den Rechtsstaat glauben. 

Was wollen Sie noch erreichen?
Drei Sachen: Wir müssen digitale Transaktionen noch deutlich einfacher machen. Wenn etwa ein Kind geboren wird, warum verlaufen die bürokratischen Erfordernisse dann nicht automatisch, sobald die Information der Geburt beim Staat ankommt? Dann müssen wir sicherstellen, dass das Innovationstempo höher wird. In Sachen Künstliche Intelligenz etwa sind wir deutlich zu langsam. Und wir wollen unsere E-Residency-Programm, bei dem alle Bürger weltweit digitale Staatsbürger von Estland werden können, ausbauen. Das funktioniert schon gut, aber wir müssen es stärker skalieren, zum Beispiel mehr Angebote schaffen, die einem digitalen Bürger zugutekommen. Die Leute wollen das. 

Es kommt also nicht auf Geld an, sondern auf politischen Willen.
Natürlich braucht man Geld, aber nicht so viel. Es ist eher eine Frage des Willens, Technologie so anzuwenden, dass es die Art, wie Du arbeitest, ändert.

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