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Christian Stöcker

Bestsellerautor über Einsamkeit Die Methode Spitzer

Manfred Spitzer, der mit der "Digitalen Demenz", hat ein neues Buch geschrieben. Diesmal geht es um Einsamkeit, aber auch an der ist wieder irgendwie das Internet schuld. Warum kaufen die Leute sowas eigentlich?
Foto: Julian Stratenschulte/ dpa

Wenn ich nicht muss, vermeide ich es in der Regel, Bücher von Manfred Spitzer zu lesen. Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die mich daran stören:

Ihr alarmistischer Unterton - Originaltitel lauten zum Beispiel "Cyberkrank!", "Vorsicht Bildschirm!" oder, sein wohl bekanntestes Werk, "Digitale Demenz". Dazu die Tatsachen,

  • dass Spitzer regelmäßig Korrelationen zu Kausalzusammenhängen umdeutet; dass er Studien höchst selektiv zitiert  und immer das weglässt, was nicht zu seinen Thesen passt;
  • dass er ständig absurde, auf Angsterzeugung zugeschnittene Analogien wie den Vergleich von Röntgenstrahlen und digitalen Medien benutzt;
  • dass er, wie viele andere auch, so tut als sei "Sucht" im Zusammenhang mit Medien eine allgemein akzeptierte wissenschaftliche Kategorie;
  • und vor allem, dass er mit der von ihm selbst und seinem Verlag stets prominent platzierten Berufsbezeichnung "Hirnforscher und Psychiater" suggeriert, bei seinen Werken handele es sich nicht etwa um Meinungsbeiträge, sondern um wissenschaftlich gesicherte Fakten.

Bemerkenswert finde ich auch, dass man meinen könnte, Spitzer bringe seine wissenschaftlichen Mitarbeiter manchmal dazu, Studien durchzuführen, die im Nachhinein Belege für seine Behauptungen liefern sollen. Besonders verrückt: Spitzer hatte schon 2005 die These geäußert, Medienkonsum mache "dick, dumm und traurig". Einige seiner Mitarbeiter führten dann eine im Jahr 2015 publizierte Studie durch, die zeigen soll, dass Kinder vor dem Fernseher meistens ziemlich stillsitzen . Kein Witz.

Immer wieder diese Wendung: "Studien zeigen"

Dass man auf Spitzers Behauptungen nicht vertrauen kann und sollte, haben andere schon diverse Male ausführlich dargelegt, zum Beispiel der Medizinjournalist Werner Bartens .

Aktuell ist der Psychiater und Hirnforscher Spitzer wieder medial präsent , mit den gleichen Thesen, die er schon seit vielen Jahren vertritt, und die sich im Kern so zusammenfassen lassen: Computer, Bildschirme, Smartphones, digitale Medien im Allgemeinen und in der Schule im Besonderen sind von Übel. Sie zerstören unser Denkvermögen, unser Gedächtnis, unseren Orientierungssinn und so weiter. Sie sind sogar, das kommt in seinem neuen Buch "Einsamkeit" heraus, für einen wachsenden "Narzissmus" und eine Abnahme der Empathiefähigkeit verantwortlich. Auch in diesem Buch kommt die Wendung "Studien zeigen" wieder ziemlich oft vor, und auch in diesem Fall ist bei der Interpretation der betreffenden Passagen Vorsicht geboten.

Ein Beispiel: Spitzer behauptet, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass "narzisstische Persönlichkeitszüge in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen haben". Sieht man sich die Literaturverweise an, mit denen diese These belegt werden soll, stellt man fest, dass es sich beim ersten um ein spitzereskes amerikanisches Thesenbuch namens "The Narcissism Epidemic" handelt. Dessen eine Autorin hat vorher schon ein offenbar ebenfalls erfolgreiches Werk namens "Generation Me" verfasst. Vermutlich fand der Verlag die Idee einer Fortsetzung gut.

Desinformations-Volltreffer

Der zweite Verweis bezieht sich auf eine echte Studie  - in der aber geht es um narzisstische Persönlichkeitsstörungen und deren zu einem bestimmten Zeitpunkt ermittelte Häufigkeit in den USA. In der Studie selbst heißt es, die ermittelte Prävalenz von 6,2 Prozent falle "etwa in die Mitte des breiten Bereichs der Schätzungen (0,0 bis 14,7 Prozent), die in vorangegangenen Studien ermittelt wurden". Mit anderen Worten: Die Studie belegt eben nicht, was Spitzer behauptet.

Einmal mehr wird hier deutlich, was diverse Spitzer-Kritiker über die Jahre immer wieder gezeigt haben: Man kann diesem Autor einfach nicht trauen. Das ist im Grunde kein Problem. Andere Sachbuchautoren vertreten auch steile Thesen. Spitzer aber spricht immer von der Kanzel des "Wissenschaftlers", dessen persönliche, mit zurechtgebogener vermeintlicher Evidenz untermauerte Meinung mehr gilt als die aller anderen.

Warum verkauft sich das so gut?

Bleibt die Frage, warum sich seine Bücher augenscheinlich so gut verkaufen. Und da kommen wir zum Kern des Themas, fürchte ich. Liest man Spitzers neues Buch genau, wird deutlich, dass er nicht nur ein Problem mit dem Internet oder mit Bildschirmen hat. Er hat, und dieses Empfinden teilt er mit einer offenbar großen Zielgruppe in Deutschland, eher ein Problem mit der Gegenwart an sich. Anfangs zitiert er selbst einige der berühmten "die Jugend von heute"-Lamentos der Geschichte, von Hesiod und Sokrates. Um dann später zu dem Schluss zu kommen, dass die Jugend von heute diesmal aber wirklich gefühllos, selbstbezogen und ein bisschen doof ist. Zeigen Studien.

Spitzer beschwört den Wert der Familie, die - Achtung, Seitenhieb auf Linksintellektuelle - es wirklich (!) gebe, sie sei "kein 'Konstrukt'". Er selbst, auch das kommt im Buch vor, hat fünf inzwischen erwachsene Kinder, lebt aber allein. Spitzer, das klingt durch, fühlt sich selbst ziemlich einsam. Nun hat er das als gesellschaftlichen Großtrend ausgemacht - was vielleicht sogar stimmt. Dieser Großtrend aber muss natürlich ursächlich mit dem anderen schlimmen Großtrend, der Digitalisierung, zusammenhängen.

Früher war alles besser, und zwar schon immer

Mit anderen Worten: Er holt viele Leser vermutlich genau da ab, wo sie gerade sind. Viele fühlen sich von der rapiden Veränderung, der die Welt seit den späten Achtzigern unterliegt, überfordert. Viele finden, so wie schon immer, die Jugend von heute gefühllos, zu anspruchsvoll, narzisstisch und ein bisschen doof. Viele haben irgendwie das Gefühl, dass früher doch alles besser war. All diesen Menschen spricht Spitzer mit seinen Büchern aus der Seele, mehr noch: Er gibt ihnen das Gefühl, Recht zu haben: "Das zeigen Studien."

Meine Prognose ist, dass sich auch das neue Buch wieder glänzend verkaufen wird. Das sei ihm von Herzen gegönnt. Aber es wäre doch schön, wenn wir die wirklich dringend notwendige Debatte über das, was die Digitalisierung mit uns macht, und das, was wir mit ihr anstellen, auf einer anderen, konstruktiveren Basis führen könnten als unter dem Mantra: "Selektiv ausgewählte und tendenziös interpretierte Studien zeigen, dass früher alles besser war."