Verzicht auf Social Media führt zu Entzugserscheinungen – wen wundert’s?

In einer Studie hatten freiwillige Teilnehmer grosse Mühe, eine Woche lang ohne den Austausch über Whatsapp oder Facebook auszukommen. Die meisten wurden «rückfällig». Diese Anspielung auf das Verhalten eines Süchtigen ist aber übertrieben.

Lena Stallmach
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In der wöchentlichen Rubrik «Hauptsache, gesund» werfen die Autorinnen und Autoren einen persönlichen Blick auf Themen aus Medizin, Gesundheit, Ernährung und Fitness.

Die Angst, etwas zu verpassen, kennt vermutlich jeder – zumindest aus Jugendzeiten. Wer wollte nicht dabei sein, wenn alle Freunde gemeinsam etwas unternehmen. Weil in den sozialen Netzwerken aber immer etwas läuft, kann diese Angst zum ständigen Begleiter werden. Das nennt man heute «Fomo» («fear of missing out»).

Nun haben Forscher untersucht, was geschieht, wenn Studienteilnehmer sieben Tage lang auf den Austausch über soziale Netzwerke wie Whatsapp oder Facebook verzichten. Obwohl die Verzichtwilligen auf andere Kommunikationskanäle wie Telefonieren, SMS oder E-Mail ausweichen durften, hielten 60 Prozent von ihnen die Abstinenz nicht durch und benutzten die verbotenen Kanäle mindestens einmal. Sie wurden «rückfällig», wie es in Anspielung auf das Verhalten eines Süchtigen in einer Pressemitteilung heisst.

Gesteigertes Verlangen

Offenbar wiesen die Studienteilnehmer während der Abstinenz auch ähnliche Entzugserscheinungen auf, wie klassische Suchtmittel sie erzeugen: ein deutlich gesteigertes Verlangen nach dem begehrten Mittel, Langeweile und einen Einfluss auf die Stimmung. Das ist allerdings kein Wunder, jeder Verzicht auf eine tägliche Gewohnheit dürfte solche Symptome auslösen.

Ein Beispiel: Müsste ich eine Woche lang auf mein Velo verzichten, würde das in kritischen Momenten grosses Verlangen auslösen, obwohl ich das Velo nur als Transportmittel verwende. Es würde auch auf meine Stimmung drücken, weil ich jeweils früher aufbrechen und mich dann auch noch in ein überfülltes Tram quetschen müsste. Langeweile kann ich mir dagegen nicht vorstellen. Aber das dürfte beim Verzicht auf ein Kommunikationsmittel anders sein; und darum handelt es sich ja bei den sozialen Netzwerken. Wen wundert es, wenn jemand das Geplänkel mit seinen Freunden vermisst, das in einem Raum abläuft, zu dem er vorübergehend keinen Zutritt hat. Kommunikation ist ein menschliches Bedürfnis, so wie essen oder schlafen. Kann man nach sozialem Austausch überhaupt süchtig sein?

Experten anerkennen Internetsucht

Offenbar ja. Zumindest sprechen immer mehr Experten von Internetsucht oder von einem problematischen Verhalten im Umgang mit sozialen Netzwerken. Als problematisch gilt, wenn jemand darunter leidet, dass er ständig online sein muss. Wenn man die Mediennutzung nicht mehr kontrollieren kann, trotz offensichtlich schädlichen Folgen, wie z. B. schlechte Laune oder wenn man dabei andere Interessen, die Arbeit oder Beziehungen im realen Leben vernachlässigt.

Seit längerem bekannt ist dies bei Computerspielern. Wie ernst Experten das Phänomen nehmen, zeigt, dass diesen Sommer die Computerspielsucht als eigenständige Krankheit in die noch provisorische elfte Version des Handbuchs der Krankheiten (ICD-11) aufgenommen wurde. Dort fällt es in die Kategorie der substanzungebundenen Abhängigkeiten, in die etwa auch Essstörungen oder die Glücksspielsucht fallen.

Es ist sicherlich gut, seine Mediennutzung immer wieder kritisch zu hinterfragen. Dabei sollte man aber nicht vergessen: Krank ist nur, wer darunter leidet oder wer sich und andere vernachlässigt – aber nicht, wenn man den Austausch mit seinen Freunden vermisst. Dass dies ein fliessender und manchmal nicht leicht zu bestimmender Übergang ist, versteht sich von selbst.

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