Spracherkennung:Wer keine Biometrie hat, ist kein Bürger

Ram and his wife Champa display their UID cards outside their hut at Merta district in Rajasthan

Ein Paar im indischen Bundesstaat Rajasthan mit seinen biometrischen Pässen. Rente zum Beispiel bekommt in Indien nur ausgezahlt, wer seinen solchen Pass besitzt. Für manche Bürger ist das ein unüberwindbares Hindernis.

(Foto: Mansi Thapliyal/Reuters)

Gesichtserkennung, Fingerabdrücke, jetzt Spracherkennung: Mit diesen Techniken hält ein radikaler Biologismus Einzug. Eine Gefahr für die offene Gesellschaft.

Von Adrian Lobe

Im Silicon Valley haben sie die nächste Revolution ausgerufen. "Voice" lautet der Revolutionsruf, der den etwas drögen Komplex der Spracherkennung auf eine griffige Formel bringt und auf einer zweiten Ebene auch noch eine Ermächtigungsbotschaft mit sich bringt: Jeder soll eine Stimme haben. "Wir befinden uns im Jahr null der Voice-Revolution", sagte Google-Mitarbeiter Lionel Mora auf dem diesjährigen Smart Voice Summit in Paris.

Wie immer schwingt bei solchen Techno-Utopien ein radikal vereinfachtes Gesellschaftsmodell mit: Man muss nur die Stimme erheben, schon öffnen sich die segensreichen Funktionen der Technologien. Alles hört auf das Kommando des Sprechers. Dass sich hinter dieser Rhetorik handfeste Geschäftsinteressen verbergen, ist offenkundig. Sprachkäufe gelten als das nächste große Ding. Nach Schätzungen der Consulting-Firma OC & C Strategy Consultants steigt das Marktvolumen in den USA von heute zwei Milliarden Dollar auf 40 Milliarden Dollar im Jahr 2022. Klar, dass da die Tech-Konzerne mit ihren Netzwerklautsprechern mitverdienen wollen. Doch die Frage ist, ob die Gesellschaft auf diesen Wandel vorbereitet ist.

Wer keine Stimme hat, wird in der digitalen Welt nicht erhört

Die Voice-Revolution, die im Silicon Valley nicht nur proklamiert, sondern auch betrieben wird, geht von der nicht gerade egalitaristischen Annahme aus, dass jeder Mensch ein "Stimmorgan" beziehungsweise Sprachvermögen hat. Das ist aber nicht der Fall. Allein in den USA leiden neun Millionen Menschen an spasmodischer Dysphonie, einer neurologisch bedingten Stimmstörung, welche die Nutzung von Sprachsteuerung praktisch unmöglich macht. Sie sind von Sprachassistenten ausgeschlossen. Wenn bis 2020 die Hälfte aller Suchanfragen per Sprachsteuerung erfolgen werden, wie die Marktforscher von ComScore prognostizieren, bedeutet das, dass die konventionelle Informationsgewinnung schwieriger wird.

Zwar ist mit Sprachassistenten die Hoffnung verbunden, dass sie eine technische Hilfe für die 36 Millionen blinden und 217 Millionen sehbehinderten Menschen auf der Welt sein können. Doch für die weltweit 85 Millionen Stotterer ist Sprachsteuerung eine Barriere. Allein in Deutschland stottern rund 800 000 Menschen. Wenn künftig immer mehr Kommunikationsvorgänge sprachgesteuert sind und die künstliche Intelligenz keine nennenswerten Fortschritte erzielt, würde man Menschen mit Sprechbehinderung benachteiligen - und diskriminieren.

Die Fachzeitschrift Scientific American schlug bereits 2016 in einem Artikel ("Why Siri Won't Listen to Millions of People with Disabilities") Alarm: Je stärker Spracherkennung in den Alltag integriert wird, desto mehr schließt man Menschen mit Stimmproblemen aus dem System aus. Die verwegene Vision, die Stimme zum Interface, zur Schnittstelle in der Mensch-Maschine-Interaktion zu machen, bekommt eine sozialdarwinistische Komponente: Wer keine (organische) Stimme hat, wird in der digitalen Welt nicht erhört - und überstimmt.

Dasselbe Muster zeigt sich bei Biometrie-Systemen. Die indische Regierung hat im Rahmen des Projekts Aadhaar eine biometrische Datenbank mit Fingerabdrücken, Iris-Scans und Fotos von über einer Milliarde Bürgern aufgebaut. Aadhaar ist eine zwölfstellige ID, die der Staat als persönliches Ausweisdokument ausstellt. Das Authentifizierungsprogramm wurde 2009 eingeführt, um Korruption in der Verwaltung und Sozialversicherungsbetrug zu bekämpfen. Doch das Versprechen, die arme Landbevölkerung in das System zu integrieren, kehrt sich in sein Gegenteil: Menschen, die sich nicht über ihre biometrischen Merkmale "ausweisen" können, werden stigmatisiert und faktisch ausgebürgert.

Eine 65-jährige leprakranke Frau aus Bangalore, die aufgrund ihrer Krankheit ihr Augenlicht und ihre Hände verloren hatte, konnte keine Aadhaar-Karte beantragen, weil von ihr weder Fingerabdrücke noch Iris-Scans genommen werden konnten, was Voraussetzung für die Fortzahlung ihrer Rente gewesen wäre. Sie war für die Maschine nicht "lesbar". Keine Biometrie, kein Geld, lautet die brutale Logik. Nachdem der Fall publik wurde und die Frau einen Härtefallantrag stellte, erteilte die staatliche Behörde UIDAI eine "biometrische Ausnahme" - als wäre Biometrie die Regel.

Darin manifestiert sich eine neue Anatomie der Macht: Bürger ist nur, wer eine Biometrie hat - den staatlichen Körper konstituieren ausschließlich "fitte", sprich gesunde Körper.

Das Gesicht wird zum Reisepass oder zur Bordkarte

Die Gefahr ist, dass ein solcher Biologismus auch in westlichen Gesellschaften Platz greift. Die australische Regierung etwa will bis zum Jahr 2020 ein System namens "World First" einführen, bei dem Passagiere ohne Vorzeigen ihrer Papiere "kontaktlos" einreisen können. Reisende sollen anhand biometrischer Merkmale, etwa mit Gesichtserkennungssystemen, Iris-Scans und Fingerabdrücken identifiziert werden. "Ihr Gesicht wird Ihr Pass und Ihre Bordkarte", sagte der Flughafenchef des Airports Sydney, Geoff Culbert.

Es klingt praktisch: Man muss nicht mehr in seiner Tasche nach seinem Reisepass suchen, und man kann das Ausweisdokument auch nicht vergessen. Das Gesicht "führt" man stets mit sich. Doch was ist mit Menschen, deren Gesicht aufgrund einer Krankheit (zum Beispiel Neurofibromatose) oder Kriegsverletzung entstellt ist? Sehbehinderten, bei denen kein Iris-Scan durchgeführt werden kann? Menschen, die bei einem Arbeitsunfall ihre Finger verloren haben? Würde man diesen Menschen die Einreise verweigern, weil sie nicht maschinenlesbar sind?

Auf die Frage, ob Fingerabdrücke genommen werden, wenn Finger fehlen oder verletzt sind, heißt es auf der Webseite des australischen Department of Home Affairs unmissverständlich: "Ja. Wenn Ihre Finger fehlen, müssen Scans von Ihren verbliebenen Fingern gemacht werden. Wenn Sie sich Ihre Fingerkuppen geschnitten oder zerstört haben, müssen Sie warten, bis die Verletzung abgeheilt ist." Die Botschaft, die im Subtext mitschwingt, lautet: Wer keine Biometrie hat, hat eben Pech gehabt.

Das macht deutlich, wie der rechtliche und biologische Körper auf fatale Weise miteinander verschwistert sind. Die vollen Staatsbürgerschaftsrechte erhält nur, wer die organische Einheit seines Körpers nachweist. Etwas zugespitzt: Integer ist nur, wer gesund ist. Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer versehrt ist, ist (noch) nicht intakt und rechtsfähig.

Man merkt, wie schnell man hier in das Fahrwasser eines technologischen Totalitarismus gerät, bei dem man alles aussortieren kann, was nicht der algorithmisch definierten Norm entspricht, und dies mit einem mathematischen Formelwerk beglaubigen kann.

Asiatische Frauen als Nichtsubjekte

Der amerikanische Kultur- und Medienwissenschaftler Joseph Pugliese verweist in seinem Buch "Biometrics: Bodies, Technologies, Biopolitics" (2010) auf die genealogische Ironie von Fingerabdruckverfahren, die von der britischen Kolonialverwaltung als Kontroll- und Identifikationsmittel ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Indien eingeführt wurden, um die aus Sicht der Besatzer homogen aussehende indigene Bevölkerung unterscheiden zu können. Als chinesische Immigranten Ende des 19. Jahrhunderts zu Tausenden an der Westküste der USA ankamen und per Fingerabdruck registriert wurden, kommentierte der San Francisco Daily Report mit einer gehörigen Portion Rassismus: "Die dumpfen Marker von Mon Shing, einem chinesischen Wäschereiarbeiter, sind leichter zu erkennen als sein Gesicht."

Die meist nach kaukasischem Aussehen modellierten Registraturen haben in der Praxis (etwa beim Frequent-flyer-Programm) dazu geführt, dass bei bestimmten Gruppen, etwa Frauen asiatischer Herkunft, deren Fingerlinien nur wenig ausgeprägt sind, die biometrischen Merkmale nicht "lesbar" waren. Auch war die Handgeometrie von Asiatinnen häufig zu klein für das automatisierte System. Die Frauen haben faktisch den Status von Nichtsubjekten.

Das zeigt, wie durch Biometrie-Systeme eine technisch-mediale Realität von Homogenität erzeugt wird, die einigermaßen blind für die Vielgestaltigkeit und ethnische Pluralität der Weltbevölkerung ist. Pugliese spricht von einer "Identitätsdominanz": Die Anwender sind schnell bei der Hand, von geringer oder guter "Qualität" der Fingerabdruckscans zu sprechen, als handelte es sich bei Menschen um Güteklassen von Äpfeln oder Birnen. Dass eine solch maschinelle Selektion am rechten Rand auf fruchtbaren Boden fällt, verwundert nicht. Bevor man die nächste Revolution ausruft, sollte man vielleicht besser darüber nachdenken, wie sich Barrierefreiheit unter einem Regime von Biometrie-Systemen organisieren lässt.

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