Die Erzählung vom jungen weißen Hacker – Seite 1

Er ist 20 Jahre alt, geht im mittelhessischen Homberg zur Schule und ist Sohn eines Arztes. So viel ist über Johannes S. bekannt, den jungen Mann, der unter Pseudonymen wie 0rbit und G0d im Internet interne Daten und Dokumente von Hunderten Politikerinnen und Politikern, Prominenten, Journalistinnen und Journalisten sowie Satirikern veröffentlicht haben soll. Tagelang waren in Deutschland viele in Aufruhr. Auf die Frage, warum er diese Informationen veröffentlichte, soll er geantwortet haben, dass er sich über Äußerungen der Betroffenen geärgert habe

Anders als zunächst berichtet, handelte es sich nicht um einen professionellen Hacker oder einen Hackerangriff, sondern um Doxing, also die Veröffentlichung privater Informationen. Was genau Johannes S. zum Doxing gebracht haben könnte, lässt sich aus der Ferne nicht beurteilen, das müsste er selbst beantworten. 

Jan Schürlein kennt den Tatverdächtigen aus dem Netz und half dem BKA bei den Ermittlungen. Er charakterisiert Johannes S. als einen Menschen, der Aufmerksamkeit suche und eine leicht rechte Einstellung habe. Eine Einschätzung, die der freie Journalist und Soziologe Sören Musyal teilt: "Die privaten Daten, die Johannes S. veröffentlicht hat, stammen größtenteils von Personen, die sich für Geflüchtete und gegen rechts aussprechen", sagt Musyal. Darunter sind Mitarbeiter der Satiresendung Extra 3, heute-show-Moderator Oliver Welke, Jan Böhmermann, Helge Lindh von der SPD oder Grünenpolitiker Robert Habeck. Für den Soziologen ist die Personenauswahl daher auf jeden Fall politisch. "Die AfD", sagt er, "fehlt hier nicht ohne Grund."

Systematisch wurde bei der Veröffentlichung allerdings offenbar nicht vorgegangen. Denn anders, als man es von politischen Aktionen kennt, wurde die gedoxte Information kaum ausgewertet. Von dem SPD-Politiker Lindh wurden beispielsweise an die zwei Gigabyte Datenmaterial ins Netz gestellt. "Hätte er gezielt Personen diskreditieren wollen, hätte er sich vorher angeschaut, was er da eigentlich postet", sagt Musyal über den Täter. Beim Verdächtigen Johannes S. scheint sich rechte Gesinnung mit einem gewissen Spieltrieb und dem Wunsch nach Aufmerksamkeit zu paaren.

Dennoch stellen sich Fragen: Was bringt Menschen dazu, andere öffentlich bloßzustellen? Was treibt sie an? Ist es wirklich nur der Wunsch nach Aufmerksamkeit oder geht es um politische Überzeugungen? Gibt es eine Doxingszene? Und wenn ja, trägt sie dazu bei, dass sich Menschen im Netz radikalisieren?

Antworten auf die Fragen, welche Menschen hinter Doxing stecken und was sie antreibt, liefert die Studie Fifteen Minutes of Unwanted Fame: Detecting and Characterizing Doxing, die Forscherinnen und Forscher der University of New York und der University of Illinois in Chicago publizierten (Internet Measurement Conference: Peter Snyder et al., 2017). Um herauszufinden, welche Motive Doxer haben, sammelte das Forscherteam auf Plattformen wie pastebin.com, 4chan.org und 8ch.net 1,7 Millionen Datensätze und werteten diese aus. 0,3 Prozent, also etwa 5.100 Datensätze, waren gedoxte Dokumente. In gut 90 Prozent der Fälle posteten die Täter Adressen. Meist fügten sie auch Telefonnummern sowie Informationen über Familienangehörige hinzu, manchmal Passwörter oder Vorstrafen. 

Spielerei, Rache oder Selbstjustiz

Als Gründe für das Vorgehen identifizierte die Studie unterschiedliche Motive wie etwa einen spielerischen Charakter. Es sei Tätern vor allem darum gegangen, zu zeigen, dass sie einen Menschen, der sich zuvor als "nicht doxbar" eingestuft hatte, doch erwischen konnten – eine Art Wettstreit. Andere User doxten aus Rache oder Selbstjustiz. Manchmal steckten politische Motive dahinter. Die Rechtfertigungen reichten von "Du hast mich beim Spiel betrogen" über "Ich glaube, du bist beim Ku-Klux-Klan" bis hin zu "Du verbreitest Kinderpornos", sagte Peter Snyder, einer der Studienautoren, dem Wissenschaftsmagazin New Scientist.

Sowohl in rechts- als auch in linksextremen Gruppen werde Doxing systematisch und gezielt eingesetzt, um anderen zu schaden, heißt es von der Nichtregierungsorganisation Equality Lab. Dabei ginge es nicht nur darum, die eigene Überlegenheit zu demonstrieren oder eine andere bloßzustellen, sondern man wolle Opfern gezielt schaden – online wie offline. Täter könnten Teenager sein, Eltern, Arbeitnehmerinnen, manchmal sogar Polizisten oder Privatdetektive mit einer politischen Agenda.

Der Mythos vom jungen weißen Mann, der allein im Keller sitzt, sich nur mit Fritten versorgt, sozial inkompetent ist und sich deshalb in Computerwelten zurückzieht, ist übertrieben.
Stine Eckert, Juniorprofessorin an der Wayne State University

"Eine einheitliche Doxingszene gibt es nicht", sagt Stine Eckert. Sie forscht an der Wayne State University in Detroit zu Medien und Minderheiten, hat im vergangenen Jahr eine Studie zum Doxing durchgeführt und ist gerade dabei, die Ergebnisse für eine Publikation aufzuarbeiten. Um die Motivation zum Doxing und dessen Auswirkungen zu untersuchen, hat sie mit ihrem Team qualitative Tiefeninterviews mit 15 Doxingopfern aus fünf Ländern – drei davon deutschsprachig – geführt. Folge man den Beschreibungen, seien die Doxer ganz normale Leute, die sich jedoch "meist irgendwie rächen wollten, den Betroffenen etwas übel genommen haben oder politische Opponenten beziehungsweise Opponentinnen sind", sagt die Wissenschaftlerin. In einigen Fällen seien die Befragten auch zufällig zum Opfer geworden, etwa durch Namensverwechslung. "Der Mythos vom jungen weißen Mann, der allein im Keller sitzt, sich nur mit Fritten versorgt, sozial inkompetent ist und sich deshalb in Computerwelten zurückzieht, ist übertrieben", sagt Eckert – auch wenn dieses Bild in Filmen und Medien gerne bedient werde. Einige der Befragten vermuten sogar, dass die Person, die ihre Daten veröffentlicht habe, eine Frau gewesen sei. Doxing ist keine Männersache.

Wer jemanden anders treffen will, sucht zudem nicht nur im Netz nach Daten. Einige greifen beispielsweise zum Telefon, rufen als Technikerin getarnt am Arbeitsplatz des Opfers an und erkundigen sich nach bestimmten Passwörtern. Auch der 20-jährige Johannes S. soll seine Opfer nicht nur online ausspioniert haben, sondern auch in der realen Welt, sagte Jan Schürlein dem ARD-Politikmagazin Kontraste. Manche Häuser und Privatadressen soll er persönlich aufgesucht haben. Was er dort ausspioniert haben könnte, erwähnt Schürlein nicht. In der Hackerwelt nennt man solch ein Vorgehen Social Engineering oder soziales Hacken: Die Doxerin gewinnt das Vertrauen ihrer Opfer und spioniert sie ohne ihr Wissen aus.

Auch wenn es die eine Doxingszene nicht gibt, scheint es Orte oder besser gesagt Plattformen zu geben, die zum Doxing einladen. Nicht ohne Grund haben die Autorinnen und Autoren der Studie Fifteen Minutes of Unwanted Fame Websites wie 4chan.org und 8ch.net untersucht. Beides sind Plattformen, auf denen Menschen sich in Gruppen zusammenschließen und zu unterschiedlichen Themen austauschen. Der Unterschied zu Facebook: "Bei 4chan und 8ch gibt es keine Moderation und keine Regeln", sagt Simone Rafael von der gemeinnützigen Amadeu Antonio Stiftung, die sich für die Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft und gegen Rechtsextremismus und Rassismus einsetzt. Wer auf Plattformen wie 4chan unterwegs ist, kann also nahezu sagen und schreiben, was er will. Das wiederum zieht auch Menschen mit extremen Meinungen an. Nicht mal das N-Wort werde auf den Portalen sanktioniert, sagt Rafael.

Manche Opfer wechselten am Ende sogar ihren Wohnort

Für Menschen mit rassistischen Einstellungen also der ideale Treffpunkt – besonders jetzt, da Facebook und Twitter betonen, stärker gegen rassistische und faschistische Einstellungen vorgehen zu wollen (auch wenn das nicht immer gelingt). Daneben hat jeder Mensch die Möglichkeit, über den Dienst Discord einen Server aufzusetzen, den man privat verwalten kann. Manche der dort stattfindenden Chats sind frei zugänglich, für andere braucht es eine Einladung. Die Regeln, wenn es denn welche gibt, legt der Admin fest, also derjenige, der den Server eingerichtet hat.

Einen dieser Server betreibt der YouTuber Vulgäre Analyse, von dem auch Johannes S. Fan gewesen sein soll. In den Regeln und Ankündigungen heißt es hier beispielsweise "Du hast nicht zu entscheiden, was jemand anderes (nicht) mögen soll" und "Hass ist kein Verbrechen". Die Pseudonyme, unter denen die Menschen auf dem Server unterwegs sind, reichen von DeutschNational über Bismarck bis hin zu Heinrich Pimmler. In den Chats finden sich darüber hinaus Sätze wie: "Homosexualität ist das Resultat einer Immunreaktion der Mutter auf die Schwangerschaft."

In den Videos, die Vulgäre Analyse auf YouTube hochlädt, richtet er sich nicht nur gegen feministische Frauen und Männer, sondern auch gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Ein oft benutztes Feindbild ist der Islam. "Vulgäre Analyse bezeichnet sich selbst zwar nicht als rechts", sagt Musyal, der auch an der funk-Dokumentation Lösch Dich: So organisiert ist der Hass im Netz mitgearbeitet hat: "Schaut man sich die Inhalte, die auf seinem Server geteilt und debattiert werden, jedoch genauer an, handelt es sich hier eindeutig um rechte, wenn nicht gar rechtsradikale Meinungen."

Lange nicht ernst genommen

Wie sehr sich Johannes S. mit den Ansichten der Person hinter dem Account Vulgäre Analyse identifizierte, lässt sich nicht sagen. BKA-Präsident Holger Münch sagte in einer Pressekonferenz, dass die Tat des 20-Jährigen "nicht politisch motiviert" sei.

Doxing ist eine Form digitaler Gewalt.
Simone Rafael, Amadeu Antonio Stiftung

Was bei der Suche nach den Ursachen jedoch nicht vergessen werden darf, sind die Opfer – nicht nur die Prominenten und Politiker, die es in diesem Fall getroffen hat, sondern auch die, die sich seit Jahren gegen Doxing wehren. Denn auch wenn ein Großteil der Bevölkerung das Wort Doxing erst in diesem Jahr gelernt hat, so ist das Veröffentlichen privater Daten, um einem anderen Menschen zu schaden, im Netz seit Langem bekannt – der Begriff stammt tatsächlich aus den Neunzigern. Da bislang keine Politikerinnen und Politiker davon betroffen gewesen seien, sei dieses Problem nur nicht wirklich ernst genommen worden, so bringt es die Twitter-Nutzerin Reklamedame auf den Punkt.

Dieser Ansicht ist auch Simone Rafael von der Amadeu Antonio Stiftung. Sie kennt zahlreiche Opfer, die seit Jahren versuchen, die Daten und Fotos, die von ihnen veröffentlicht wurden, aus dem Netz zu entfernen. Hilfe bekämen sie dabei kaum – weder von der Polizei noch von den Plattformen, auf denen die Informationen online gestellt wurden. "Manche der Opfer mussten am Ende sogar ihren Wohnort wechseln", sagt Rafael. Sie und ihre Kollegen fordern daher, Beratungs- und Hilfsangebote für Betroffene einzurichten. "Denn Doxing", sagt sie, "ist eine Form digitaler Gewalt." Die Antwort darauf könne nicht sein, dass Opfer umziehen müssten.

Anmerkung der Redaktion: In der Berichterstattung über das Leaken privater Daten von Politikern und Prominenten nennt ZEIT ONLINE keine Namen von Betroffenen und trägt keine geleakten Informationen durch Veröffentlichung weiter. Die Details der Daten sind nach derzeitigem Kenntnisstand privater Natur, an ihnen besteht kein öffentliches Interesse.