"Vielleicht wird in Zukunft auch mit Gewalt um Daten gekämpft" – Seite 1

Nick Couldry ist Professor für Medien, Kommunikation und Sozialtheorie an der London School of Economics. In seinem Buch "The Cost of Connection. How Data Is Colonizing Human Life and Appropriating It for Capitalism", das im August 2019 auf Englisch erscheint, stellt er mit dem US-mexikanischen Kommunikationswissenschaftler Ulises Mejias die These auf, dass wir durch Datentracking in einem Zeitalter des Datenkolonialismus leben. Aber was heißt das? ZEIT ONLINE hat Couldry in Berlin getroffen und nachgefragt.

ZEIT ONLINE: Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Vereinigten Nationen, das Silicon Valley – alle bezeichnen "Rohdaten" als das "Öl des 21. Jahrhunderts". Sie sehen das nicht so. Warum?

Nick Couldry: Schon der Begriff "Rohdaten" ist ein Oxymoron. Daten sind nie roh, sie müssen immer erst produziert werden. Und zwar indem unser Leben erst in Signale umgewandelt wird, die dann in Datenbanken gesammelt, gezählt und kombiniert werden können. "Rohdaten" ist ein ideologischer Begriff. Dieser Begriff suggeriert, dass unser Leben ganz natürlich – also ohne unser Zutun – die Form von Daten annimmt. Aber das stimmt nicht. Daten sind also keineswegs wie Öl, auch wenn der Begriff "Rohdaten" – in Anlehnung an Rohstoffe – das suggeriert.

ZEIT ONLINE: Wie erklären Sie sich, dass diese Auffassung nicht nur von Firmen wie Google oder Amazon, sondern auch von Regierungen und der Zivilgesellschaft gebraucht wird?

Couldry: In der Vergangenheit wurden personenbezogene Daten, wie zum Beispiel im Falle einer Volkszählung in Deutschland, oft vom Staat erhoben. Der Staat hat also das Wissen über seine Bevölkerung selbst generiert. Die neue Produktion von Wissen ist privatwirtschaftlich: Die Daten werden privat gesammelt, zu Zwecken, die privat bleiben. Auch die Algorithmen bleiben intransparent, niemand kann sie nachverfolgen. Das verändert das Verhältnis der Regierungen zur Privatwirtschaft fundamental. Deswegen überrascht es mich nicht, wenn Regierungen auf diese Sprache zurückgreifen.

Nick Couldry ist Professor für Medien, Kommunikation und Sozialtheorie an der London School of Economics. © privat

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielen wir als Bürgerinnen und Bürger dabei?

Couldry: Wir sind alle an der Produktion von Daten beteiligt. Aber diese Daten werden erst durch das, was wir Datenbeziehungen nennen, überhaupt nutzbar und wertvoll. Das ist ein Prozess, der die Transformation vom täglichen Leben in einen Datenstrom sichert. Wir gehen Datenbeziehungen ein, wenn wir einen Gesundheitstracker tragen oder das Navi einschalten. Wir leben also mitten in einer radikalen Umbruchphase: Wir gestalten unser alltägliches Leben so, dass daraus Daten gewonnen werden können, die dann einen Marktwert erhalten.

ZEIT ONLINE: Sie und Ihr Kollege Ulises Mejias bezeichnen diese Phase, in der wir gerade leben, als Datenkolonialismus. Wie kommen Sie darauf?

Couldry: Natürlich ist der historische Kolonialismus nicht tot, er beeinflusst immer noch einen Großteil der Welt und unsere globalen Machtverhältnisse. Damals legitimierten die Kolonisatoren die Ausbeutung ganzer Kontinente damit, dass dort vorkommende Rohstoffe zu ihrer freien Verfügung einfach so herumlägen. So wurde zum Beispiel Australien – philosophisch und auch juristisch – zum no man's land erklärt. Die Kolonisatoren legitimierten die Ausbeutung, indem sie diese als zivilisatorische Notwendigkeit bezeichneten. So als würden diese Rohstoffe und damit Fortschritt sonst verloren gehen. Ohne diese Ausbeutung wäre die Entstehung des industriellen Kapitalismus nicht möglich gewesen.

ZEIT ONLINE: Und was hat das mit Daten zu tun?

Couldry: Mit Daten verhält es sich heute ähnlich: Es wird suggeriert, dass die Daten über unser Leben einfach so da seien und von Konzernen verwendet werden müssen, um gesellschaftlichen Fortschritt zu erzielen. Das ist unserer Analyse nach der Beginn eines neuen Kolonialismus, bei dem unser gesamtes Leben in Daten umgewandelt wird und damit völlig neue Geschäftsfelder ermöglicht. Wir nennen das Datenkolonialismus, weil es das einzige Wort ist, das erfassen kann, wie groß diese Veränderung ist.

"Datenkolonialismus ist langfristig unvereinbar mit der Demokratie"

ZEIT ONLINE: Kolonialismus basiert auf Gewalt – das können Sie doch nicht mit Datentracking vergleichen.

Couldry: Vielleicht wird in Zukunft auch mit Gewalt um Daten gekämpft. Ich denke, es gibt jetzt zumindest schon Situationen, die zwar keine physische Gewalt, aber Zwang beinhalten. Wenn Sie zum Beispiel in einem schlecht bezahlten Job arbeiten, in einem Callcenter oder als Lkw-Fahrer, werden Sie jetzt schon ständig überwacht. Das ist und wird in Zukunft noch mehr eine Bedingung für Ihren Job sein. Es ist zwar keine direkte Gewalt, aber wenn man Geld verdienen muss, wird es zu einem realen Zwang.

ZEIT ONLINE: Wären wir dann so etwas wie moderne Sklaven?

Couldry: Nein, ich würde nicht das Wort Sklaven verwenden. Sklaverei ist eine Realität, die bis heute andauert: reale, physische Sklaverei. Das ist eine absolute Form von Gewalt, die jede Möglichkeit von Freiheit ausschließt. Das sehen wir im Datenkolonialismus nicht und würden das auch nie so bezeichnen. Aber wir werden zu Subjekten dieser neuen Datenwelt und das beeinträchtigt unsere Freiheit.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Couldry: Ein Aspekt ist die Veränderung unseres Verhaltens, weil wir davon ausgehen können, dass wir ständig getrackt und überwacht werden. Das Social-Credit-System in China ist dafür ein extremes Beispiel. Mit unserem Verständnis von Freiheit ist das unvereinbar. Und da Freiheit die einzige Grundlage für Demokratie ist, glaube ich, dass der Datenkolonialismus langfristig mit der Demokratie unvereinbar ist.

Die DSGVO ist der erste wirklich große Angriff auf die marktliberale Philosophie, dass Daten natürlich da seien und Firmen sich ihrer uneingeschränkt bedienen sollten.
Nick Couldry, Kommunikationswissenschaftler

ZEIT ONLINE: Glauben Sie, dass die neue europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) unsere Rechte stärkt?

Couldry: Ich denke, dass die DSGVO der erste wirklich große Angriff auf die marktliberale Philosophie rund um Daten ist – also der Auffassung, dass Daten natürlich da seien und Unternehmen sich ihrer uneingeschränkt bedienen sollten. Der erste Artikel der Verordnung besagt, dass die Grund- und Persönlichkeitsrechte bei der Erhebung personenbezogener Daten gewahrt werden müssen. Dieses Prinzip stammt aus dem deutschen Grundgesetz, das das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung beinhaltet. Ein Prinzip, das auch eine Reaktion auf die Verbrechen des Dritten Reiches war. Allein deshalb ist die Verordnung politisch gesehen von enormer Bedeutung.

ZEIT ONLINE: Wie schätzen Sie ihre Wirkung ein?

Couldry: Ich bin skeptisch, ob die DSGVO das erreichen kann, was man sich von ihr erhofft. Ihr System beruht auf Zustimmung. Und Zustimmung hängt immer davon ab, wie viel Macht im Spiel ist. Angenommen Ihr Arbeitgeber sagt, dass Sie abnehmen müssen, und um zu beweisen, dass Sie es versuchen, verwenden Sie Fitbit, einen Gesundheitstracker. Dafür müssen Sie den Nutzungsbedingungen von Fitbit zustimmen, und das ist mit Zwang verbunden. Ich bleibe also skeptisch, inwieweit die DSGVO ihr Ziel – den Schutz der Privatsphäre – tatsächlich erreichen kann. Nichtsdestotrotz wäre die Debatte ohne dieses Regelwerk eine andere. Ich war in den vergangenen Monaten viel in den USA unterwegs. Sogar da hat sich der Diskurs durch die DSGVO verändert.