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Volkswagen Viele wussten Bescheid - verstörende Einblicke in den größten Betrugsfall der Bundesrepublik

Die Diesel-Affäre bei Volkswagen erschüttert die Bundesrepublik bis heute. Aussagen von Beteiligten im Betrugsskandal gewähren nun einen Blick in den irren Kosmos des VW-Konzerns.

Der 15. November 2006 war ein warmer Tag in Wolfsburg: Die Temperatur stieg in der Volkswagen-Stadt am Mittellandkanal auf 15 Grad, und es blieb trocken.

An diesem 15. November vor zwölfeinhalb Jahren entschied sich das Schicksal des VW-Konzerns. In einem schmucklosen Konferenzraum im siebten Stock eines Bürogebäudes auf dem riesigen Werksgelände hatte der junge Motorenentwickler Peter L. einen heiklen Termin. Es ging um ein paar Zeilen Programmcode, die er mit einigen Kollegen in der Steuerungssoftware des neuen Dieselmotors EA 189 entdeckt hatte. Peter L. hatte kein gutes Gefühl. Er wollte die Computerbefehle, die die Abgasreinigung abschalteten, raus haben, so gibt er später bei der Staatsanwaltschaft zu Protokoll. Zusammen mit seinem Abteilungsleiter Karl P. hatte er deswegen um ein Gespräch bei dessen Chef gebeten – bei Martin G., einem Karriereingenieur mit Tausenden Mitarbeitern und engen Kontakten zum Vorstand.

Bei VW wussten viele über die Betrugssoftware Bescheid
Er war der VW-Herrscher, vor dem sie zitterten: Ex-Vorstand Martin Winterkorn behauptet bis heute, erst ganz spät von den Manipulationen erfahren zu haben
© Bernd von Jutrczenka/DPA

Neue saubere Dieselgeneration

"Mein klares Ziel war, dass ich von meinem Chef die Aussage kriege: Nein, tu das nicht!", sagt Peter L. später – eine klare Absage an die Manipulation also. Und genau das sei dann auch das Ziel seines Vorgesetzten Karl P. gewesen: "Das Ganze so darzustellen, dass sein Chef (Martin G., die Red.) uns im Prinzip achtkantig rausschmeißen muss. Und sagen muss: Leute, seid ihr verrückt? Mit so was kommt ihr zu mir? Davon will ich weder was sehen noch hören, noch macht ihr das."

Peter L. war damals noch neu in der Entwicklungsabteilung, kannte die Kultur des Unternehmens noch nicht. Aber er war fasziniert von den technischen Möglichkeiten, die der riesige Konzern ihm bot. Er glaubte, an einer neuen, saubereren Dieselgeneration mitzuarbeiten. Er glaubte an den Fortschritt. Auch an seinen persönlichen. Schließlich hatte er gerade erst ein Haus gebaut, das längst nicht abbezahlt war. Er wollte das Richtige tun.

Es kam anders.

Laut der Anklageschrift, die die Staatsanwaltschaft kurz vor Ostern dem Landgericht Braunschweig vorgelegt hat, begann der Dieselskandal genau an jenem 15. November 2006. Ab diesem Datum, so ermittelten es die Staatsanwälte in den vergangenen dreieinhalb Jahren, läuft der Tatzeitraum. Er reicht bis zum 22. September 2015. Knapp neun Jahre also. Neun lange Jahre, die es dauerte, bis Volkswagen den Betrug offen zugab.

Der Stammsitz des VW-Konzerns in Wolfsburg: Über 80 Jahre Geschichte. 650.000 Mitarbeiter weltweit. 235,8 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2018.
Der Stammsitz des VW-Konzerns in Wolfsburg: Über 80 Jahre Geschichte. 650.000 Mitarbeiter weltweit. 235,8 Milliarden Euro Umsatz im Jahr 2018.
© Julian Stratenschulte/DPA

Dieser Zeitraum deckt sich fast vollständig mit der Amtszeit von Martin Winterkorn als Vorstandsvorsitzendem des Konzerns. Er ist der prominenteste Angeklagte in dem jetzt eröffneten Verfahren. Zusammen mit ihm sind noch vier Führungskräfte angeklagt. Ermittlungen gegen 36 weitere Beschuldigte laufen. Es geht unter anderem um den "besonders schweren Fall des Betruges" an rund neun Millionen Kunden. Es geht um Untreue, Steuerhinterziehung sowie Falschbeurkundung bei der Zulassung Hunderter Fahrzeugmodelle. Es geht um den wohl größten Betrugsfall in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein unfassbarer Vorgang: Winterkorn war einer der bekanntesten Manager des Landes, verdiente in einem Jahr über 17 Millionen Euro, flog mit Kanzlerin Angela Merkel als Botschafter der deutschen Industrie um die Welt. Nun drohen ihm und den anderen Angeklagten bis zu zehn Jahre Haft. Und die "unrechtmäßig erlangten Bonuszahlungen" sollen ihm im Strafverfahren wieder entzogen werden: bis zu elf Millionen Euro.

Bis zum 15. November 2006, so sehen es viele der Zeugen, hätte noch alles gerettet werden können.

"Akustikfunktion"

In dem Besprechungsraum wartete eine große Runde auf Peter L. und seinen Chef Karl P.: Ein gutes halbes Dutzend Dieselentwickler hatte sich mit Martin G. eingefunden, alle befasst mit dem neuen Motor EA 189. Unter ihnen sei auch James Liang gewesen, so erinnert sich Peter L., einer von bisher zwei rechtskräftig Verurteilten im Dieselskandal. James Liang sitzt in den USA in Haft.

Die Atmosphäre sei frostig gewesen, sagt Peter L. Man habe klar gemerkt, dass die Kollegen es nicht gut fanden, dass dieses Thema von ihm bis zur Chefetage getrieben worden sei. Er habe sich dann über die Softwareanforderungen beschwert, die er umsetzen sollte. Über Steuerbefehle für Motor und Abgasreinigung, die zwischen Normalbetrieb und Testbetrieb unterschieden. Peter L. wusste, dass diese Vorrichtung nicht richtig war. Dann habe es eine längere Diskussion gegeben, bei der dargelegt wurde, dass man sonst nicht ans Ziel komme.

Segnungen des automobilen Lebens: Am 3. Juli 1953 wird der 500.000. Käfer gefeiert. VW liefert Nachkriegsdeutschland den Wagen des Volkes.
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© AKG-Images

Das "Ziel". Das Ziel war die Einhaltung der immer strengeren Abgaswerte, die ab 2006 für die Zulassung des neuen Motors zwingend vorgeschrieben waren. EA 189, so die Botschaft der Entwickler, sei nicht in der Lage, sie zu erreichen. Der Motor produzierte bei der Verbrennung vor allem zu viele Stickoxide. Die Grenzwerte in den USA waren besonders scharf. Damit drohte die vom Konzern ausgerufene Dieseloffensive jenseits des Atlantiks zu scheitern, bevor sie begonnen hatte.

Die Techniker wollten andere Wege gehen, dunkle Wege: Eine Software sollte die Testsituationen erkennen und dann die Abgasreinigung maximal ausreizen, sie im Normalbetrieb aber quasi abschalten. Die Diesel lagen dann um ein Vielfaches über den erlaubten Werten. "Akustikfunktion" hieß der Kniff in der Software. Der Name war offenbar schon vorher mit Bezug zu anderen Zielen bei Audi vergeben worden. Von dort kam die Basissoftware für den neuen Motor. Bei VW sollte sie für den neuen Zweck ausgebaut werden.

Das alles lehnte Peter L. ab.

Totaler Systemausfall

Doch die versammelten Dieselleute konterten mit einem erstaunlichen Argument: Alle machten das doch so. Und wenn es alle machten und man selber nicht, dann verlöre man den Anschluss, so erinnert sich Peter L. später. Martin G. habe dann abschließend entschieden: Man solle das Ganze so gekonnt umsetzen, dass man selbst es bei einem der Wettbewerber nicht entdecken würde. Und er habe hinzugefügt, man solle sich nur nicht erwischen lassen. Peter L. hatte diese Reaktion nicht erwartet. "Ich war danach fertig mit den Nerven."

Dieser Tag und alles, was folgte, kostete den Volkswagen-Konzern bisher fast 30 Milliarden Euro.

Und bis alle juristischen Scharmützel ausgetragen, alle Ansprüche von Kunden wie Anlegern weltweit befriedigt sind, wird die Summe weiter steigen. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig beziffert die Schadenssumme in ihrer Anklage angeblich auf knapp 78 Milliarden Euro. Die Prozesse werden noch Jahre dauern.

Es gibt Dutzende Aussagen von Beteiligten der Geschehnisse bei Volkswagen, die dem stern vorliegen. Wie alle Zeugenberichte geben sie die subjektive Sicht der Befragten wieder. Und da die meisten davon auch Beschuldigte in den vielen laufenden Prozessen sind, haben manche ein Interesse, sich in einem positiven Licht darzustellen. Und für alle Beteiligten gilt bis zu einer Verurteilung natürlich die Unschuldsvermutung. Deswegen sind fast alle Namen in diesem Text geändert, obwohl sie der Redaktion bekannt sind.

Auto für die Massen: Seit 1974 wurde der Golf produziert – ein Welterfolg, der bald in achter Modellgeneration durch die Straßen fahren wird
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© Klaus Rose/DPA

Aus den Akten, die sich insgesamt über 75.000 Seiten erstrecken, ergibt sich ein ziemlich konsistentes Bild, was rund um EA 189 passiert ist. Wer letztendlich die juristisch Verantwortlichen für den Betrug sind, muss das Gericht in Braunschweig klären. Die moralische Frage aber lautet: Wie konnte es in einem deutschen Vorzeigekonzern wie Volkswagen, mit all seinen Aufsichtsmechanismen, zu so einer monströsen Katastrophe kommen, zu einem totalen Systemausfall, der das Potenzial hat, ein Unternehmen mit über 650.000 Mitarbeitern in der Existenz zu gefährden? Eine Firma, die im Laufe ihrer gut 80-jährigen Geschichte zu einem der größten Autobauer der Welt wurde.

Die Suche nach einer Antwort beginnt bereits vor dem 15. November 2006. Gut ein Jahr vor dem Schicksalstag hatte Volkswagen eine andere Krise zu bestehen: Im Juli 2005 flog die sogenannte Betriebsratsaffäre auf. Arbeitnehmervertreter waren mit kostenlosen Bordellbesuchen, überhöhten Gehältern und weiteren Leistungen bestochen worden. Der langjährige Betriebsratsvorsitzende Klaus Volkert und Personalvorstand Peter Hartz, Namensgeber der Hartz-IV-Leistungen, wurden deswegen zu Haftstrafen verurteilt. Den Prozess damals führte ironischerweise Elke Hoppenworth, die Oberstaatsanwältin, die nun auch Martin Winterkorn angeklagt hat.

"Wiko"

Unbehelligt blieb damals – im Gegensatz zu Winterkorn heute – der langjährige Konzernchef Ferdinand Piëch, der angab, von allem nichts gewusst zu haben. Piëch hatte mit seiner misstrauischen Persönlichkeit, der Förderung von Konkurrenzdenken und der teils brutalen Durchsetzung seiner Ziele den Konzern über Jahre geprägt. Doch als die Betriebsratsaffäre aufgedeckt wurde, hatte er längst an seinen Nachfolger Bernd Pischetsrieder übergeben und war selbst Aufsichtsratschef geworden. Im Jahr 2016 zur Dieselaffäre befragt, beschrieb Piëch in seltener Offenheit, "dass bei VW peinliche Dinge nie schriftlich festgelegt wurden". Für ihn sei aber undenkbar, "dass ein Betrug nicht bis in die oberste Spitze geht in der Freigabeprozedur. Mündlich oder schriftlich."

"Oberste Spitze" bedeutet: Vorstand. Winterkorn.

Piëch, der sich inzwischen aus allen Funktionen im Volkswagen-Konzern zurückgezogen hat, war ein Manager, dem man nachsagte, dass nichts in Wolfsburg ohne sein Wissen geschehe. Er baute die Abteilung "Konzernsicherheit" mit Top-Kriminalisten und Nachrichtendienstlern massiv aus. Er hielt Kontakt zu Geheimdiensten, etwa aus Israel, und schuf in Wolfsburg eine Kultur der Angst, die bis heute Wirkung zeigt.

Ende 2006 entzog er seinem Nachfolger Pischetsrieder das Vertrauen und machte Audi-Chef Martin Winterkorn, mit dem er einst in Ingolstadt den damals stinkenden und nagelnden Dieselmotor zum TDI veredelt hatte, zum Volkswagen-Chef. Pischetsrieder beschreibt seinen Abgang in der Rückschau mit klaren Worten: "Herr Piëch ist ein sehr misstrauischer Mensch. Und wenn das Verhältnis zwischen Aufsichtsratsvorsitzendem und Vorstand nicht mehr stimmt, muss halt einer gehen. Herr Piëch hat mir einmal vorgeworfen, die Leute hätten keine Angst vor mir. Dies war für mich der schlimmste Vorwurf, den er mir gegenüber jemals geäußert hat."

Brüder im Geiste: Ex-Aufsichtsrat Ferdinand Piëch und Ex-Vorstand Martin Winterkorn arbeiteten einst eng zusammen – und sind heute erbitterte Feinde
Brüder im Geiste: Ex-Aufsichtsrat Ferdinand Piëch und Ex-Vorstand Martin Winterkorn arbeiteten einst eng zusammen – und sind heute erbitterte Feinde
© Laif

Unter dem neuen Chef Winterkorn regierte die Angst dagegen bis in die Tiefen des Unternehmens. "Wiko", wie er genannt wurde, war bekannt dafür, Mitarbeiter anzubrüllen. Er richtete den "Schadenstisch" ein, eine furchtbehaftete Institution: Ingenieure mit technischen Problemen wurden regelmäßig samt der kaputten Teile in einen speziellen Raum eingeladen und vom Vorstandsvorsitzenden niedergemacht. Oft wurde es auch hier sehr laut. Peter L. hatte ebenfalls Angst: "Ich fühlte mich hochgradig unwohl, die Funktion jetzt umsetzen zu müssen, und wollte es eigentlich auch nicht." Doch er tat es trotzdem: Zu diesem Zeitpunkt habe er das Thema schon vier Ebenen nach oben eskaliert, und die nächste Ebene wäre der Vorstand gewesen. Das sei für ihn als normalen Sachbearbeiter keine Ebene mehr gewesen, die er habe erreichen können. Er habe keine Alternative gesehen.

Peter L. macht also mit und rechtfertigt es vor sich selbst mit dem Argument, er schaffe lediglich technische Möglichkeiten, die andere dann mit Daten füllen und scharfschalten: "Okay, die Funktion ist hässlich. Du willst nicht, dass dieses ganze Projekt in die Richtung geht. Aber letztendlich stellst du hiermit nur eine Methode zur Verfügung. Und ob es genutzt wird und wie es genutzt wird, liegt ohnehin nicht in meiner Entscheidungsgewalt." Mit dieser Rechtfertigung beruhigten – so geht es aus den Akten hervor – später viele Mitarbeiter ihr Gewissen, wenn sie mit der Akustikfunktion in Berührung kamen.

VW-Ombudsmann

Peter L. strukturierte die Anforderungen an die Software, damit Bosch sie als Dienstleister umsetzen konnte. In den folgenden Jahren dachte er sich immer weitere Kriterien aus, wie man die Arbeitsweise der Betrugssoftware verfeinern konnte; etwa die Erkennung des Lenkradeinschlags, der sich nur auf der Straße verändert, auf Rollenprüfständen aber immer gleich bleibt. Durch seine Arbeit wurde es letztlich möglich, dass VW-Modelle mit dem Motor EA 189 selbst in den USA die Zulassung erhielten und bis 2015 weltweit verkauft werden konnten. Peter L. wurde zu einer zentralen Figur in der technischen Umsetzung des Betrugs, so schildert er es heute.

Er zog damals den Kopf ein, wie so viele im Volkswagen-Konzern. In den Akten des Verfahrens stehen die Namen Hunderter, vielleicht sogar Tausender Mitwisser. Von Menschen, die frühzeitig vom Dieselbetrug erfuhren oder von Vorgängen, die sie hätten hinterfragen müssen – doch immer wieder von einem Gefühl abgehalten wurden: vom Gefühl der Angst. Angst vor Ärger mit den Bossen. Angst, am Schadenstisch von Winterkorn zu enden. Ein Manager, der ebenfalls mit der illegalen Software konfrontiert war, erklärt seine Situation so: "Erst mal bin ich davon ausgegangen, dass es eine bei vielen Entscheidungsträgern bekannte Entscheidung war, mit der Akustikfunktion in Serie zu gehen. Wenn ich dieses Thema breit eskaliert hätte, bin ich davon ausgegangen, dass meine Tätigkeit bei Volkswagen sehr abrupt beendet gewesen wäre." Solche Drohungen kannte er: "Andere sind schon für weniger rausgeflogen", habe ihm mal ein Winterkorn-Vertrauter gesagt, als drei Turbolader bei einer Versuchsfahrt ausgefallen seien. Auch dieser Vertraute wird in Braunschweig inzwischen als Beschuldigter geführt.

Das Ergebnis war: Schweigen im ganzen Konzern. In den fast neun Jahren des Betrugs wandte sich wohl nur ein einziger Mitarbeiter an den sogenannten Ombudsmann. Diese Funktion war nach dem Betriebsratsskandal eingerichtet worden und sollte Mitarbeitern ermöglichen, über neutrale Anwälte anonym Fehlverhalten anzuzeigen. Ein Zeuge behauptet, Reinhard S., ein Mitarbeiter der für Fahrzeugzulassungen zuständigen Abteilung, habe sich um das Jahr 2011 in Sachen Diesel an einen VW-Ombudsmann gewandt. Dies habe jedoch keine Folgen gehabt. Wo die Information stecken blieb und wieso – das steht nicht in den Aussagen. Wohl aber, dass dem Hinweisgeber später der Bonus gekürzt worden sei, weil er sich weigerte, bestimmte Anweisungen auszuführen. Und so blieb das Wissen über den Betrug über Jahre fest verschlossen im Konzern, eine Art Familiengeheimnis, das viele kennen, über das man aber nicht spricht. Dienstleister Bosch wurde angewiesen, die Funktion nicht in der Dokumentation der Motorsoftware zu erfassen. Das Wissen über sie wurde möglichst mündlich übermittelt. Es galt Piëchs Diktum: nichts Schriftliches.

Selbst als immer mehr Kritik am Abgasverhalten der VW-Dieselmodelle aufkam, gab es intern kaum Fragen. Die Deutsche Umwelthilfe protestierte jahrelang gegen die nicht zu erklärenden Abgaswerte im Fahrbetrieb. Vergebens.

Dabei muss allen im Konzern bewusst gewesen sein, dass der Trick mit der Akustikfunktion ein Risiko war: "Ich kann nicht verstehen, wie jemand so blöd sein kann, damit zu bescheißen", sagt Ex-Chef Bernd Pischetsrieder. "Dies ist jenseits meines Verständnisses, es fiele mir nicht im tiefsten Albtraum ein. Es musste doch jedem klar sein, dass dies irgendwann auffällt."

Versuch der Tarnung

Als es kriminell wurde, war Pischetsrieder faktisch weg. Auch Martin G. war bald nach dem Auftakttreffen versetzt worden. Doch dessen Nachfolger Fritz P. setzte unverdrossen weiter auf die Akustikfunktion. Gleichzeitig wurde die Abgasanlage der Problemdiesel für die USA massiv verstärkt: ein größerer Katalysator, mehr Edelmetalleinsatz, zusätzliche Produktionskosten von rund 260 Euro pro Fahrzeug! In der Autoindustrie ist dies ein gewaltiger Betrag. Schon über wenige Cent wurde bei VW oft hitzig diskutiert, und das bis hoch zu Winterkorn, der sich in solche Themen regelrecht verbeißen konnte. Über den Kostenanstieg der US-Modelle aber gab es kaum Diskussionen. Warum?

Ja, warum – wo doch das viele Geld tatsächlich kaum etwas brachte? Schließlich war das System außerhalb des Testbetriebs sowieso abgeschaltet. Vielen vermuten deshalb hinter dem Umbau einen Versuch der Tarnung: viel investiertes Geld als Erklärung dafür, dass EA 189 die Zulassung besteht.

Fritz P. war es auch, der unterband, dass unter Mitarbeitern über das Thema gesprochen wurde. "Er hat mir eindeutig signalisiert, dass ich mich um mein Motorprojekt kümmern soll", erinnert sich ein Entwickler, der Fritz P. auf die Software angesprochen hatte. Er habe ihm klar gesagt, "dass ich daran gemessen werde". Das Signal war eindeutig: Klappe halten. Fritz P. habe auf Mails mit technischen Darstellungen zur Akustikfunktion geantwortet, das solle man aber bitte nirgendwo zeigen und es auch nicht verteilen.

Auch sein Nachfolger Bernhard T. schreitet nicht ein. Inzwischen wurde die "Akustikfunktion" intern immer öfter als Altlast bezeichnet. Eine ganz neue Motorenreihe war bereits in Vorbereitung, sie sollte endlich wieder ohne Tricks funktionieren. Doch EA 189 und seine Nachfolgergenerationen, das wussten alle Beteiligten, würden noch Jahre gebaut werden müssen. Als die Motorenentwickler auch bei ihrem neuen Chef Bernhard T. wegen der Akustikfunktion vorsprechen, winkt der ab: Das habe sein Vorgänger entschieden, das gehe ihn nichts an. "Er hätte die Gnade der späten Geburt", soll er laut Zeugen gesagt haben. Die Entwicklung sei abgeschlossen, damit habe ein anderer die Verantwortung.

In vielen der Aussagen scheint es, als sei der Betrug in der VW-Kultur zwangsläufig passiert: Unten wusste man sich nicht anders zu helfen, um die Erwartungen derer "da oben" zu erfüllen, und tröstete sich damit, dass die den Betrug ja stoppen könnten, wenn sie es wollten. Und "oben" wollte man lieber nicht so genau wissen, wie die gewünschten Ergebnisse zustande kommen. Irgendwer musste es irgendwann ja mal genehmigt haben und trug damit die Verantwortung. Man selbst war mit dem nächsten Karrieresprung auch weg. Ein gigantisches Schwarzer-Peter-Spiel.

Diskussion beendet

Und es ging ja auch lange gut für die Beteiligten: Bernhard T. schaffte es bis in einen Markenvorstand, Fritz P. machte außerhalb von VW Karriere. Beide Manager gehören heute zu den Beschuldigten. Beide Manager arbeiteten einst eng mit Martin Winterkorn zusammen. Bloß der will nach wie vor vom Betrug mit der Akustikfunktion erst ganz spät erfahren haben. Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages in Berlin sagte er Anfang 2017: "Es ist nicht zu verstehen, warum ich nicht frühzeitig und eindeutig über die US-Probleme informiert worden bin."

Am 27. Juli 2015, zwei Monate bevor der Dieselskandal öffentlich wurde, wirkte das noch ganz anders. Damals präsentierte Entwickler Walter F. am berüchtigten Schadenstisch die Akustikfunktion und die drohende Aufdeckung durch US-Behörden. Sein Publikum: Winterkorn, der gerade frisch gewechselte VW-Chef Herbert Diess und weitere Manager. Diesmal wurden die Fakten – entgegen der VW-Gewohnheit – sogar schriftlich dargelegt. Walter F. wunderte sich später über die Ruhe, mit der die Probleme aufgenommen wurden. Er habe den Eindruck gehabt, sie seien bekannt gewesen. Selbst bei Erwähnung der Gefahr, dass 500.000 Fahrzeuge zurückgenommen werden müssten – mit je 20.000 Euro Schaden –, sei nichts passiert. "Ich hätte spätestens da erwartet, dass ich weggeblasen werde von der Bühne."

Stattdessen wurde eine Strategie der kleinen Schritte beschlossen: Oliver Schmidt, der damals anwesend war und heute in den USA als zweiter VW-Mitarbeiter eine siebenjährige Gefängnisstrafe absitzt, sollte mit den US-Behörden sprechen. Er sollte nur einen kleinen Teil des Betrugs zugeben und Nachbesserungen anbieten. Doch die Amerikaner werden misstrauischer.

Endlich, am 19. August 2015, fliegt der Betrug endgültig auf: Mal wieder ist eine Abordnung aus Wolfsburg in die USA geschickt worden. Sie soll mit den Behörden über die unerklärlich hohen Abgaswerte im normalen Verkehr sprechen, die bei mehreren Tests aufgefallen sind. Mit dabei ist auch Walter F., der Mann vom Schadenstisch. Er spricht vorher mit seinen Chefs: "Den Freitag zuvor erhielt ich den Anruf, dass ich Dienstag zu den Behörden in die USA fliegen soll. Ich habe meinen Urlaub daraufhin abgebrochen, bin Montag in die Firma gefahren und habe versucht, es abzuwenden. Ich sagte, dass ich dort auf konkrete Fragen auch konkrete Antworten geben werde."

Walter F. will nicht länger für den Konzern lügen.

Seine Chefs haben dafür kein Verständnis. "Diese ganze Sache eskalierte dann etwas", erinnert sich Walter F. Am Ende steht eine schriftliche Anweisung: Der VW-Entwickler muss fahren.

Er fliegt also über den Atlantik, zusammen mit drei weiteren Managern, unter ihnen auch Oliver Schmidt. Und ja: Zuerst versucht es Walter F. doch, weiter mit Lügen durchzukommen. Aber die Gespräche laufen nicht gut. Der Vertreter der kalifornischen Umweltbehörde CARB ist gut vorbereitet. Er habe einen Stapel Papier vor sich gehabt und immer dann, wenn ein bestimmter Punkt angesprochen worden sei, ein Blatt herausgezogen – mit einer Messung, die das Gegenteil von seiner eigenen Folie gezeigt habe, so Walter F. Die Stimmung sei dabei immer schlechter geworden. Nach etwa einer Stunde habe der CARB-Vertreter gesagt, da sei doch noch etwas anderes in den Autos, damit das so funktioniere. Diesen Zeitpunkt hatte Walter F. gefürchtet. Er habe einen Moment innegehalten und für sich beschlossen, eine Skizze anzufertigen, um zu beschreiben, was in den Autos drin sei. Danach war die Diskussion beendet. Die Behördenvertreter reagierten betroffen. Sie hätten nicht erwartet, von VW so hinters Licht geführt zu werden.

Das Schweigen war gebrochen.

Betrug "offensichtlich"

Einen Monat später erfuhr auch die Öffentlichkeit davon. Nicht weil Volkswagen sie informiert hätte: Die US-Umweltbehörde EPA, die eng mit der CARB zusammenarbeitet, war offenkundig genervt von der Untätigkeit in Wolfsburg und veröffentlichte am 18. September 2015 eine formale "Notice of Violation" zu dem "Defeat Device", der Betrugssoftware, und nannte gleich einen Strafrahmen: bis zu 37 500 Dollar – je betrügerischem Fahrzeug. Allein rund eine halbe Million Diesel hatte VW in die USA geliefert. Das summierte sich auf 18 Milliarden Dollar.

Fünf Tage später musste Martin Winterkorn unter massivem Druck zurücktreten.

Peter L. aber begann damit, sich um den Rückbau der von ihm ermöglichten Akustikfunktion zu kümmern. Sie sei in etwa 1000 Varianten in Konzernmodelle eingebaut worden. Jede davon habe andere Einstellungen verwendet, damit anders funktioniert und sei offenbar von verschiedenen Leuten angepasst worden, wunderte sich Peter L. Dass all diese Menschen den Betrug gekannt hätten, sei "offensichtlich".

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