Flash-Crashs: Wie an den Finanzmärkten innert Minuten Milliarden verschwinden können

«Dicke Finger», die falsche Uhrzeit oder auch kriminelle Energie: Für massive Kurseinbrüche an den Finanzmärkten gibt es unterschiedliche Auslöser. Moderne Handelstechniken begünstigen solche Flash-Crashs seit einigen Jahren.

Sylviane Chassot
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Die stark gestiegene Rechenleistung ermöglicht den Hochfrequenzhandel an Finanzmärkten. Das macht das Geschäft schneller, kann aber auch zu massiven Kursschwankungen führen. (Bild: Alessandro Bianchi / Reuters)

Die stark gestiegene Rechenleistung ermöglicht den Hochfrequenzhandel an Finanzmärkten. Das macht das Geschäft schneller, kann aber auch zu massiven Kursschwankungen führen. (Bild: Alessandro Bianchi / Reuters)

Sie dauern nur wenige Minuten und haben das Potenzial, Milliarden zu vernichten: Die Rede ist von Flash-Crashs. Das sind Kurseinbrüche an den Finanzmärkten, die typischerweise nur kurz andauern, bevor wieder eine deutliche Erholung einsetzt. Hochfrequenzhandel und automatisch generierte Verkaufsaufträge verstärken die Abwärtsbewegung, die manchmal nur mit einem Handelsunterbruch gestoppt werden kann. Initialzünder, die einen Flash-Crash auslösen können, gibt es ganz unterschiedliche, wie die folgende, nicht abschliessende Typologie zeigt:

Geisterstunde in Japan

In der Nacht auf Montag passierte es wieder: Um 23 Uhr mitteleuropäischer Zeit (MEZ) verlor der Schweizerfranken gegenüber dem Dollar plötzlich relativ deutlich an Wert. Innert Minuten stieg der Preis eines Dollars in Franken von Fr. 1.0004 auf Fr. 1.0096 – also um fast 1%. Verglichen mit anderen Einbrüchen ist das ein Mini-Flash-Crash, der bei den Händlern dennoch für Verunsicherung gesorgt hat. Denn für grosse und rege gehandelte Währungspaare sind deutliche Kursbewegungen innert kurzer Zeit ungewöhnlich.

Frankenschwäche wegen Mini-Flash-Crash

Dollarkurs in Franken

Dass die Kursbewegung zu später Stunde mitteleuropäischer Zeit einsetzte, liegt an der Natur der Währungsmärkte. Denn im Gegensatz etwa zu Aktien werden Währungen rund um die Uhr gehandelt. Theoretisch ist der Markt also jederzeit liquide, in der Praxis aber hängt das Handelsvolumen von den Arbeitszeiten der Händler ab. Zwischen 22 und 23 Uhr MEZ sind die amerikanischen Trader schon im Feierabend (oder haben wie am vergangenen Sonntag ganztags frei), und wichtige asiatische Handelsplätze wie Hongkong und Singapur sind den Europäern lediglich sieben Stunden voraus – etwas zu wenig, um die berüchtigten «twilight hours» (Stunden der Dämmerung in Asien) handelsmässig zu überbrücken. Hierfür bleibt lediglich Japan. Und dort ist der 11. Februar Gedenktag der Staatsgründung – Feiertag. Daher war das Handelsvolumen am Montagmorgen extrem gering, und schon wenige Verkaufsaufträge reichten offenbar aus, um den Frankenkurs zu drücken.

Der Mini-Flash-Crash vom Montag erinnert an seinen grossen Bruder vom 3. Januar. Uhrzeit und Ort des Geschehens waren ähnlich; um etwa 7 Uhr 30 machte sich unter Devisenhändlern in Tokio Panik breit angesichts massiver Kurssprünge des Yen gegenüber dem Dollar und weiteren Währungen.

Kurskapriolen des Yen

Dollarkurs in Yen
Kurskapriolen des Yen - Dollarkurs in Yen

Als Auslöser erachteten die Analytiker damals Apples schlechte Quartalsprognose vom Vortag. Dass aber der Yen in den darauffolgenden Stunden gegenüber dem australischen Dollar um beinahe 8% zulegte, war das Resultat von dünner Liquidität, automatisch ausgelösten Verkäufen und Hochfrequenzhandel, der deutliche Kursbewegungen innert kurzer Zeit bewirken kann. Auch der 3. Januar war in Japan ein Feiertag.

Um nicht wieder in die Liquiditätsfalle an japanischen Feiertagen zu tappen, hätten sich nun alle Händler einen Kalender der japanischen Feiertage in grosser Schrift auf den Schreibtisch gestellt, frotzelte Rodrigo Catril von der National Australia Bank gegenüber dem Nachrichtenportal Bloomberg nach den neuerlichen Kapriolen am japanischen Nationalfeiertag.

«Dicke Finger»

Was in der Nacht auf Montag die Initialzündung war, ist unklar. Manche Analytiker vermuten, dass es ein Fall von «fat fingers» war – ein Händler könnte sich vertippt und eine übergrosse Kauforder auf Yen platziert haben. Fat-Fingers-Fälle gab es schon viele. Im April 2018 beispielsweise überwies die Deutsche Bank versehentlich 28 Mrd. € – mehr, als die Bank derzeit wert ist. Die Bank kam allerdings glimpflich davon; der Fehler wurde nach wenigen Minuten erkannt. Unangenehmer verlief ein Tippfehler der UBS im Jahr 2001. Nach dem Börsengang der japanischen Werbeagentur Dentsu, den UBS Warburg als Investmentbank begleitet hatte, orderte die Bank den Verkauf von 610 000 Dentsu-Aktien zum Preis von 16 Yen – statt 16 Aktien für 610 000 Yen zu verkaufen. Es waren bereits 65 000 Aktien zum Schnäppchenpreis verkauft, bis der Auftrag gelöscht werden konnte. Die Kursnotiz war bis dann vom geplanten Ausgabepreis von 610 000 Yen bereits auf 420 000 Yen gefallen. Die UBS musste die für 16 Yen verkauften Titel für einen deutlich höheren Preis zurückkaufen.

Absichtliche Marktmanipulationen

Kursausschläge verursachen hohe Verluste. Weiss man aber vorab, wie sich eine Notiz verändern wird, lässt sich damit auch viel Geld verdienen. Ein aufsehenerregender Fall ereignete sich am 6. Mai 2010, als ein Spekulant aus London die amerikanischen Aktienindizes S&P 500 und Dow Jones auf Talfahrt schickte. Innert kurzer Zeit tätigte er eine enorme Anzahl von Aufträgen – rund jeden vierten Verkaufsauftrag soll Navinder Sarao zeitweise an jenem 6. Mai aufgegeben haben. Aber nicht mit dem Ziel, die Titel tatsächlich zu verkaufen, denn er stornierte die Aufträge jeweils sogleich wieder – die Technik des Hochfrequenzhandels macht diese Form des als Spoofing bezeichneten Betrugs möglich.

Andere Marktteilnehmer registrierten die zahlreichen Verkaufsaufträge und schlossen sich mit Spontanverkäufen und automatisch generierten Aufträgen aus Angst vor weiteren Verlusten an, wodurch die Preise weiter ins Rutschen kamen. Und genau das war Saraos Ziel, der die Titel nun sehr günstig erwerben konnte. Allein an jenem Tag soll der damals 31-Jährige fast 879 000 $ verdient haben. Ab 2015 ermittelten Behörden in den USA gegen ihn, bis Sarao die Manipulation gestand. Insgesamt soll er mit verschiedenen Aktionen innerhalb von fünf Jahren 40 Mio. $ verdient haben.

Unsicherheit und etwas Ungeschick

Flash-Crashs, also massive, durch Hochfrequenzhandel und den automatisierten Handel verschärfte Kursausschläge, wurden in der Vergangenheit nicht nur von «dicken Fingern», Kriminellen oder von mit Blick auf die Gesamtwirtschaft eher nebensächlichen Firmenmeldungen ausgelöst. Vielmehr gab es auch schon massive Sprünge, die aus grosser wirtschaftlicher Unsicherheit hervorgingen. Bekanntes Beispiel ist das britische Pfund, das am 7. Oktober 2016 wenige Wochen nach dem Brexit-Votum gegenüber dem Yen um rund 6% absackte. Seit der Abstimmung hatte das Pfund bereits an Wert verloren. An jenem Freitag wurden kurz nach Mitternacht mitteleuropäischer Zeit Pfund-Verkaufsaufträge aufgegeben. Am zu dieser Zeit illiquiden Markt führten sie zu Bewegungen, auf welche die Händler in Japan – die wenigen, die während der «twilight hours» aktiv waren – mit weiteren Verkäufen reagierten. Schliesslich wurde der Handel am Devisenterminmarkt in Chicago ausgesetzt, so dass der Handel noch illiquider und volatiler wurde. Der ungeschickt gewählte Zeitpunkt für die Ausführung der Verkaufsaufträge in Verbindung mit einem latent vorhandenen Marktrisiko schickte das Pfund auch gegenüber dem Dollar auf den tiefsten Wert seit Jahrzehnten.

Geldpolitik

Ein hierzulande bestens bekanntes Beispiel für einen deutlichen Kursausschlag erfolgte am 15. Januar 2015, nachdem die Schweizerische Nationalbank die Aufhebung des Euro-Mindestkurses verkündet hatte. Innert Minuten nahm der Franken gegenüber dem Euro um rund 40% an Wert zu. Ein Euro kostete keine zwanzig Minuten nach Bekanntgabe vom Ende des Mindestkurses von Fr. 1.20 noch 85 Rappen. In den darauffolgenden Stunden tendierte der Wechselkurs in Richtung Parität. Es handelt sich sicherlich nicht um einen typischen Flash-Crash mit einem realwirtschaftlich wenig relevanten Auslöser. Die massive Marktreaktion in den ersten Minuten dürfte aber durch typische Flash-Crash-Mechanismen verstärkt worden sein, wie eine Übersicht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zeigt.

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