GI-Radar 194: Schöne neue Welt?

 

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die Versuchung war einfach zu groß, einmal diesen sehr klassischen Titel für das GI-Radar zu verwenden. Im Fokus dieser Ausgabe steht Internetkritik im wahrsten Sinne: Artikel, die unser zukünftiges Verhältnis zur Technik hinterfragen. Verstehen Sie uns nicht falsch: Es geht dabei nicht um Opposition gegen das Internet, sondern um die Kritik des Internets (vergleichbar mit der Gesellschaftskritik). Wir wollen uns den Kritikern nicht uneingeschränkt anschließen. Es lohnt sich allerdings, von Zeit zu Zeit über ihre Beobachtungen nachzudenken.

In der letzten Ausgabe hatten wir Sie um Feedback zu englischen Links im GI-Radar gebeten. Das Stimmungsbild war eindeutig: Englische Links fanden fast alle Antwortenden in Ordnung. Wir werden sie daher weiterhin verwenden, wenn es keine geeignete deutsche Quelle gibt.

Viel Spaß bei der Lektüre!

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Emotionen per WiFi auslesen + Archivierung von SoundCloud verboten + Twitter fördert Zitationen + Google Glass ist zurück + Implantierte Chips + Vom Untergang des autonomen Subjekts + Tücken der Technik + Forderung: Mehr Informatikunterricht + Datenschutz in medizinischer Forschung + Ordentliche Mitgliederversammlung + Vorsicht Gesichtsverlust

KURZMITTEILUNGEN

WLAN-Signale geben menschliche Emotionen preis (thenextweb.com, engl.). Es war bereits bekannt, dass Computer aus Stimme und Mimik die emotionale Verfassung eines Menschen ablesen können. Dass hierzu offenbar sogar die Reflektion von WLAN-Signalen im Raum ausreicht, ist eine verblüffende Neuigkeit.  weiterlesen

Archivierung von SoundCloud nicht erlaubt (Motherboard, engl.). Interessante ethische Fragen wirft das aktuelle Verhalten von SoundCloud auf: Angesichts einer drohenden Insolvenz hatten Aktivisten damit begonnen den auf der Seite lagernden Audioschatz für die Nachwelt zu archivieren. Die Plattform wehrt sich gegen dieses Vorhaben. Was ist in so einem Fall mehr wert – das mit den Aufnahmen verbundene kulturelle Erbe oder die möglicherweise verletzten Rechte einzelner Autoren?  weiterlesen

Twitter im Wissenschaftsbetrieb (PLoS ONE, 28 S., engl.). Wer den sozialen Medien ihre Relevanz für den Wissenschaftsbetrieb wegen mangelnder Seriosität abgesprochen hat, muss umdenken. Twitter dient nicht nur dem Informationsaustausch, auch der „Impact“ lässt sich damit steigern. Ein aktuelles Papier gibt Einblicke in das Twitter-Verhalten von Informatik-Forschern.  weiterlesen

Google Glass Comeback: Enterprise Edition (heise). Nach dem Scheitern der ursprünglichen Version für Konsumenten rollt Google seine intelligenten Brillen jetzt in verbesserter Form für den Einsatz in Unternehmen aus. Die Urversion scheiterte nicht zuletzt am Widerstand gegen das unfreiwillige Gefilmt-Werden und prägte den Begriff „Glasshole“ für den Träger einer solchen Brille.  weiterlesen

Firma will Mitarbeitern zur Identifikation Chips implantieren (heise). Was in den 80ern noch bedenkenlos zur schlechten Science-Fiction gerechnet werden konnte, ist jetzt Realität: Menschen lassen sich einen Chip in die Beuge zwischen Daumen und Zeigefinger injizieren, der sie per RFID ausweist. Im Gegensatz zu den Filmen von damals heute sogar weitgehend freiwillig.  weiterlesen

THEMEN IM FOKUS

In dieser Ausgabe geht es um Internetkritik. Um dieses Thema drehten sich in den letzten Tagen zahlreiche Beiträge in den Feuilletons der großen Tageszeitungen.

Vom Untergang des autonomen Subjekts. Was wird eigentlich die Rolle des Einzelnen sein, wenn die Digitalisierung „abgeschlossen“ ist, wie sieht dann die Gesellschaft aus? Diese Frage bewegt derzeit zahlreiche Autoren: Adrian Lobe schreibt über die Realisierung der Planwirtschaft mittels Big Data: Wovon Marx und Stalin geträumt hatten, könnte dank der großen Internetkonzerne Wirklichkeit werden: Informationen in Echtzeit, effiziente Ressourcennutzung, gute Planbarkeit. Einzige Voraussetzung: Totalüberwachung des Individuums. Ironischerweise bereiten gerade die am kapitalistischsten veranlagten Konzerne einer digitalen Planwirtschaft den Weg (Süddeutsche Zeitung, 6 min).

Johan Schloeman bespricht das Buch „Radical Technologies“ von Adam Greenfield. Greenfield räumt mit den (historisch gesehen) linken Utopien des Internets auf. Die Digitalwirtschaft habe, so der Autor, schließlich nur ein Ziel: Den Alltag zu monetarisieren. Die Folge ist eine universelle kulturelle Gleichschaltung (Süddeutsche Zeitung, 8 min).

Wo es um Internetkritik geht, darf Evgeny Morozov nicht fehlen. Er schreibt (ebenfalls im Feuilleton der SZ), über die wachsende Allmacht von Alphabet (früher „Google“). Sein bemerkenswerter Gedanke ist hier, dass Google schon bald technologisch so fortschrittlich aufgestellt sein wird, dass es gar nicht mehr auf Informationen aus der Suchleiste angewiesen ist, um Informationen über die mit Werbung zu versorgenden Kunden zu sammeln. Möglich gemacht – und nicht etwa verhindert – hat das auch die jüngst verhängte Strafe der EU, die vielleicht der Konzern vor sieben Jahren gefürchtet hätte, nicht aber der heutige (Süddeutsche Zeitung, 7 min).

Technikkritik üben nicht nur Philosophen: Mit seiner Warnung vor der Übernahme der Macht durch die KI stellt sich mit Elon Musk auch der Chef eines sehr erfolgreichen Digitalkonzerns in die Reihe derer, die zur Vorsicht mahnen (heise).

Ganz ohne Singularität der KI kommen die Herrschenden in China aus, wenn sie Kontrolle über das Netz ausüben. Bisher war wenig Belastbares bekannt über die exakte Intention und die angewandten Methoden der Zensoren in der Volksrepublik. Jetzt liegen neue Forschungsergebnisse über die Methoden vor (heise).

Technik mit Tücken. Selbst wenn man Technik nicht fundamental kritisch sieht, so steckt der Teufel doch im Detail: Inzwischen ist das Verschlüsseln von Web-Verbindungen mittels HTTPS an der Tagesordnung – was im Hinblick auf die Informationssicherheit sehr erfreulich ist. Constanze Kurz weist darauf hin, dass wir dabei gerne übersehen, dass die Endpunkte der HTTPS-Verbindungen gigantische Datenmengen anhäufen und dass sich dadurch an zentraler Stelle viel Wissen über die Nutzer ansammelt (FAZ).

Wenn andere von „Identitätsdiebstahl“ reden, denkt man meist an gestohlene Social-Media-Accounts, im schlimmsten Fall vielleicht an gestohlene Amazon-Bestellungen. Dass sich hinter diesem Begriff auch der temporäre Bankrott einer Firma inklusive eines heftigen Imageschadens verbergen kann, zeigt die tragische Geschichte der Firma Securitas (heise).

Dass sogenannte „intelligente Lautsprecher“ wie Amazon Echo eigentlich eine permanente Wohnraumüberwachung durchführen, um bei Schlüsselwörtern spontan Funktionalität zu entfalten, ist hinlänglich bekannt. Neu ist, dass ähnliche Technik jetzt auch in Kinderspielzeug steckt (heise).

GI-MELDUNGEN

Forderung nach mehr Informatikunterricht. Die GI-Fachgruppe „Informatische Bildung in NRW“ hat anlässlich der Koalitionsbildung verpflichtenden Informatikunterricht für alle Klassen gefordert.  weiterlesen

Datenschutz in der medizinischen Forschung. Die GI hat ein von der „Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie“ (GMDS) erstelltes Memorandum zum Thema Forschungsdaten unterzeichnet. In der letzten Woche gab es dazu einen Workshop, in dem sich unter anderem GI-Vizepräsident Federrath für eindeutig definierte Patientenrechte stark machte.  weiterlesen

Ordentliche Mitgliederversammlung. Am 26. September 2017 findet in Chemnitz die Ordentliche Mitgliederversammlung der GI statt. Bereits jetzt können Sie sich über die Tagesordnung und die neuen Präsidiumskandidatinnen und -kandidaten informieren.  weiterlesen

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FUNDSTÜCK

Kosinski warnt vor „Gesichtsverlust“. Kurz nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wurde die wissenschaftliche Arbeit des Psychologen Michal Kosinski in den Medien diskutiert: Er hatte Facebook-Likes mit psychologischen Profilen korreliert und war so in der Lage, bereits aufgrund von 10–20 harmlosen Vorlieben sehr genaue Aussagen über Geschlecht, sexuelle Orientierung und politische Einstellung zu treffen. Weniger bekannt sind Kosinskis jüngere Arbeiten. Er konnte beispielsweise zeigen, dass allein das Gesicht eines Menschen schon viel über eine Person verrät. Eine Verschleierung in der Öffentlichkeit kann nicht die Lösung sein. Schließlich ist der Blickkontakt ein unverzichtbarer Bestandteil unseres sozialen Lebens. Für Kosinski hat daher längst das Post-Privacy-Zeitalter begonnen. Im Juni hat Kosinski auf unterhaltsame Weise in einem Vortrag über seine Forschung berichtet.   Zum Vortrag (Video mit Folien, engl., 66 min)

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Dies war Ausgabe 194 des GI-Radars. Die Junior-Fellows Dominik Herrmann und Alexander von Gernler setzten bei der Erstellung dieses Radars ein Pokerface auf, um ihre Emotionen vor WLAN-Spionen zu schützen. Die GI-Mitteilungen hat GI-Geschäftsführerin Cornelia Winter zusammengetragen. Das nächste GI-Radar erscheint am 11. August 2017.

Im GI-Radar berichten wir alle zwei Wochen über ausgewählte Informatik-Themen. Wir sind sehr an Ihrer Meinung interessiert. Für Anregungen und Kritik haben wir ein offenes Ohr, entweder per E-Mail (redaktion@gi-radar.de) oder über das Feedback-Formular bei SurveyMonkey. Links und Texte können Sie uns auch über Twitter (@informatikradar) oder Facebook zukommen lassen.